Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • · Fachbeitrag · Verfahrensrecht

    Drohende Haftung bei Betriebsübernahme (§ 75 AO)

    von Dipl.-Finw. (FH) Karl-Heinz Günther, Übach-Palenberg

    | Beim Unternehmenskauf übernimmt der Käufer nicht nur die Vermögenswerte, sondern auch die Schulden. In der Praxis wird dabei vielfach „übersehen“, dass der Erwerber für betriebliche Steuerschulden des Verkäufers unter gewissen Voraussetzungen haftbar gemacht werden kann. Demzufolge sollte sich der potenzielle Käufer bereits bei Planung des Betriebserwerbs und nicht erst beim Erhalt eines Haftungsbescheids mit der Haftungsnorm des § 75 AO beschäftigen. |

    1. Vorbemerkungen und Abgrenzung zu § 25 HGB

    Wird ein Unternehmen oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb im Ganzen übereignet, bestimmt § 75 Abs. 1 S. 1 AO, dass der Erwerber für Betriebsteuern und für Steuerabzugsbeträge haftet. Dies setzt jedoch voraus, dass die Steuern seit dem Beginn des letzten, vor der Übereignung liegenden Kalenderjahrs entstanden sind und bis zum Ablauf von einem Jahr nach Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber festgesetzt oder angemeldet werden.

     

    Hintergrund für diese Regelung ist, dass der Verkäufer, der noch betriebliche Steuerrückstände hat, dem FA mit der Betriebsübertragung eine wesentliche Vollstreckungsgrundlage entzieht. Hierfür kann der Betriebsübernehmer unter bestimmten, nachfolgend näher erläuterten Voraussetzungen im Haftungswege in Anspruch genommen werden.

     

    PRAXISHINWEIS  |" Der Erwerber eines Handelsgeschäfts i.S. von §§ 1 ff. HGB haftet für alle im Betrieb des Geschäfts begründeten Verbindlichkeiten des früheren Inhabers, wenn das Geschäft unter der bisherigen Firma im Kernbereich fortgeführt wird (§ 25 HGB). Diese dem Gläubigerschutz dienende Regelung ist in ihren Grundstrukturen mit § 75 AO vergleichbar und geht noch über den durch 
§ 75 AO gesetzten Rahmen hinaus, indem z.B. auch die Verpachtung bereits als haftungsbegründender Inhaberwechsel gilt. Im Gegensatz zu § 75 AO kann die Haftung hier allerdings durch Eintragung im Handelsregister oder durch Mitteilung an die Gläubiger ausgeschlossen werden (§ 25 Abs. 2 HGB), weshalb diese Vorschrift in der Besteuerungspraxis keine allzu große Bedeutung hat.

     

    2. Voraussetzungen für eine Haftungsinanspruchnahme

    § 75 AO nimmt denjenigen als Haftungsschuldner in Anspruch, der an der Geschäftsveräußerung als Erwerber beteiligt ist, d.h. der Träger von Rechten und Pflichten sein kann. Dieser haftet persönlich, jedoch beschränkt auf den Bestand des übereigneten Unternehmens bzw. Teilbetriebs (§ 75 Abs. 1 S. 2 AO). Erwerben mehrere Personen den Betrieb als Bruchteilsgemeinschaft, haften sie als Gesamtschuldner (BFH 12.1.11, XI R 11/08).

     

    Hinweis | Ein Haftungsbescheid, der wegen einer Steuer erlassen wird, die noch nicht rechtskräftig ist, kann nicht unter Vorbehalt der Nachprüfung 
(§ 164 AO) gestellt werden, da diese Vorschrift nur für Steuerbescheide gilt. Eine eventuelle Korrektur des Haftungsbescheids bei späterer Aufhebung des Steuerbescheids erfolgt nach § 131 Abs. 1 AO (BFH 17.3.08, V B 173/06).

     

    2.1 Unternehmen oder gesondert geführter Betrieb

    Unternehmen ist jede organisatorische Zusammenfassung von persönlichen und sächlichen Mitteln zur Verfolgung eines wirtschaftlichen oder ideellen Zwecks, d.h. jede selbstständig ausgeübte gewerbliche oder berufliche Tätigkeit führt zu einer unternehmerischen Betätigung (Orientierung am umsatzsteuerlichen Unternehmerbegriff des § 2 Abs. 1 UStG; BFH 11.5.93, VII R 86/92).

     

    Ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb erfordert einen mit einer gewissen Selbstständigkeit ausgestatteten, organisatorisch geschlossenen Teil des Unternehmens, der für sich allein lebensfähig ist. Hier kann im Grundsatz auf die Teilbetriebsrechtsprechung zu § 16 EStG zurückgegriffen werden (vgl. u.a. BFH 24.8.89, IV R 120/88).

     

    2.2 Lebender Betrieb

    Es muss ein lebendes Unternehmen übergeben werden. Im Zeitpunkt des Übergangs muss das Unternehmen so strukturiert sein, dass der Erwerber es in der bisherigen Form ohne nennenswerten zusätzlichen Aufwand fortführen kann (BFH 8.7.82, V R 138/81). Dabei ist es unerheblich, ob der Erwerber überhaupt die Absicht der Fortführung hat bzw. es tatsächlich fortführt.

     

    Irrelevant ist auch, ob der Erwerber nach der Übernahme tatsächlich Gewinne erzielt. Aus dem Umstand, dass er mit Verlust arbeitet, kann nämlich nicht ohne Weiteres auf die Übernahme eines nicht mehr lebensfähigen Organismus geschlossen werden (BFH 4.7.73, I R 154/71). Bei einem stillgelegten Unternehmen kann es sich um ein lebendes Unternehmen handeln, wenn sich die Stilllegung nur über einen kurzen Zeitraum erstreckt (BFH 10.12.91, VII R 57/89).

     

    PRAXISHINWEIS  | Dass das übernommene Unternehmen überschuldet, zahlungsunfähig oder insolvenzreif ist, steht der Haftungsinanspruchnahme nicht entgegen. Allerdings kann die Abweisung des Antrags des bisherigen Inhabers auf Eröffnung des Insolvenzverfahrens mangels Masse ein Indiz dafür sein, dass ein lebendes Unternehmen nicht mehr vorhanden ist (BFH 22.9.92, VII R 73-74/91).

     

     

    2.3 Wesentliche Betriebsgrundlagen

    Ein lebendes Unternehmen geht nur über, wenn die wesentlichen Grundlagen übereignet werden (BFH 18.7.08, VII B 184/07). Dagegen ist die Zurückbehaltung von einzelnen unbedeutenden Wirtschaftsgütern unbeachtlich.

     

    Hinweis | Eine Haftungsinanspruchnahme nach § 75 AO ist also dann ausgeschlossen, wenn der frühere Betriebsinhaber eine wesentliche Betriebsgrundlage zurückbehält und später übereignet (BFH 6.8.85, VII R 189/82).

     

    Welche Wirtschaftsgüter zu den wesentlichen Betriebsgrundlagen gehören, hängt von der Art des Betriebs ab. Insbesondere die folgenden Betriebsgrundlagen können wesentlich sein:

     

    • Geschäftsgrundstücke,
    • Warenlager,
    • Nutzungs- und Gebrauchsrechte,
    • Maschinen und Einrichtungsgegenstände.

     

    Eine miet- oder pachtweise Überlassung durch den früheren Betriebsinhaber an den fortführenden Unternehmer vermag die Haftung nicht zu begründen (BFH 18.3.86, VII R 146/81). Zählen zu den wesentlichen Betriebsgrundlagen Miet- und Pachtrechte, die nicht nach den bürgerlich-rechtlichen Grundsätzen übereignet werden können, reicht es für die Übertragung der Rechte aus, wenn der Betriebsübernehmer unter Mitwirkung des bisherigen Betriebsinhabers mit dem Vermieter oder Verpächter einen entsprechenden Nutzungsvertrag abschließt (BFH 19.5.98, VII B 281/97).

     

    2.4 Übereignung im Ganzen

    Eine Übereignung im Ganzen erfordert, dass das Unternehmen auf einen Dritten in der Weise übergeht, dass er in der Lage ist, wirtschaftlich wie ein Eigentümer zu verfügen (§ 39 AO). Auf den bürgerlich-rechtlichen Eigentumsübergang kommt es nicht an (BFH 10.12.91, VII R 57/89). Erfolgt die Übereignung in mehreren Akten, liegt gleichwohl eine Übertragung im Ganzen vor, wenn die einzelnen Teilakte in wirtschaftlichem Zusammenhang stehen und der Wille auf den Erwerb des Unternehmens gerichtet ist (BFH 17.2.88, VII R 97/85).

     

    Hinweis | Da § 75 AO eine rechtsgeschäftliche Übereignung voraussetzt, ist die Haftungsnorm beim Erwerb im Wege der Gesamtrechtsnachfolge nicht anwendbar. Bei Erben ist hinsichtlich der Haftung § 45 Abs. 2 AO zu beachten.

     

    Maßgebender Zeitpunkt für die Frage, ob die wesentlichen Betriebsgrundlagen auf den Erwerber übergegangen sind, ist derjenige der Übereignung. 
Eine Übereignung im Ganzen liegt jedenfalls dann vor, wenn die bei Beginn der Übertragung der einzelnen Grundlagen des Unternehmens vorhandenen Betriebsgrundlagen im Wesentlichen vollständig auf den Erwerber übergehen (BFH 7.11.02, VII R 11/01).

    3. Haftungsausschluss

    Nach § 75 Abs. 2 AO gilt die Betriebsübernehmerhaftung nicht für Erwerbe aus einer Insolvenzmasse und für Erwerbe im Vollstreckungsverfahren. Damit soll die zwangsweise Vermögensverwertung erleichtert werden. Ist die Eröffnung des Insolvenzverfahrens jedoch mangels Masse abgelehnt worden, greift der Haftungsausschluss des § 75 Abs. 2 AO nicht (BFH 23.7.98, VII R 143/97).

     

    PRAXISHINWEIS  | Generell gilt, dass ein Haftungsausschluss durch private Vereinbarung aufgrund der öffentlich-rechtlichen Natur der Haftung nach § 75 AO nicht möglich ist (vgl. Nr. 3.4 AEAO zu § 75 AO).

     

    4. Haftungsumfang

    Beim Haftungsumfang sind die sachliche Haftungsbeschränkung, die zeitlichen Grenzen (Haftungszeitraum sowie Anmeldungs- und Festsetzungszeitraum) sowie die gegenständliche Beschränkung der Haftung zu beachten.

     

    4.1 Sachliche Haftungsbeschränkung 

    Die Haftung ist beschränkt auf

     

    • Betriebsteuern (insbesondere Umsatzsteuer und Gewerbesteuer),
    • betrieblich veranlasste Erstattungen von Steuervergütungen und Rückforderung der Investitionszulage,

     

    Hinweis | Für Ansprüche auf steuerliche Nebenleistungen (Säumniszuschläge, Verspätungszuschläge etc.) wird nicht gehaftet.

     

    4.2 Zeitliche Haftungsbeschränkung 

    Nach § 75 Abs. 1 S. 1 AO sind zwei zeitliche Grenzen zu beachten:

     

    • Die Steueransprüche müssen seit dem Beginn des letzten, vor der Übereignung liegenden Kalenderjahrs entstanden sein (Haftungszeitraum) und
    • bis zum Ablauf von einem Jahr nach Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber festgesetzt oder angemeldet werden (Anmeldungs- und Festsetzungszeitraum).

     

    Mit „Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber“ ist die Anzeige nach § 138 Abs. 1 AO beim zuständigen FA gemeint, nicht die Gewerbeanmeldung bei der Gemeinde. Diese reicht aber aus, wenn die Gemeinde das FA informiert (vgl. Tipke/Kruse, AO, § 75 Rz. 58). Die Jahresfrist beginnt frühestens mit dem Zeitpunkt der Betriebsübernahme, wobei es nicht auf den Tag des Vertragsabschlusses, sondern auf den Tag des wirtschaftlichen Übergangs ankommt. Entscheidend für die Berechtigung zur Haftungsinanspruchnahme ist, dass die Steuern gegenüber dem Veräußerer innerhalb der Jahresfrist festgesetzt werden. Dagegen kann der Haftungsbescheid auch später erlassen werden.

     

    Hinweis | Der Haftungszeitraum endet in dem Zeitpunkt, in dem der Erwerber selbst Steuerschuldner der Steuern wird, die durch den erworbenen Betrieb veranlasst sind.

     

    • Beispiel

    A veräußert sein Unternehmen mit Vertrag vom 1.12.11 an B. Die Übertragung der wesentlichen Betriebsgrundlagen erfolgt zum 1.1.12. A schuldet dem FA

     

    • a) die Umsatzsteuer-Abschlusszahlung 2010 laut der in 2011 abgegebenen Umsatzsteuererklärung 2010 und
    • b) die Umsatzsteuer-Abschlusszahlung 2011 (Festsetzung durch Schätzungsbescheid vom 19.3.13, da A seiner Verpflichtung zur Erklärungsabgabe nicht nachgekommen ist).

    B hat den Betrieb am 3.4.12 beim zuständigen FA angemeldet. Am 4.6.13 nimmt das FA B nach § 75 AO für die Umsatzsteuerrückstände 2010 und 2011 des A in Haftung. Zu Recht?

     

    Lösung 

    Der maßgebliche Haftungszeitraum orientiert sich an der Übereignung, d.h. am Übergang des wirtschaftlichen Eigentums (hier: 1.1.12) und nicht am Vertragsabschluss (1.12.11). Entsprechend fallen nur die betrieblichen Steuern in den Haftungszeitraum, die seit dem 1.1.11 (das letzte vor der Übereignung liegende Kalenderjahr) entstanden sind.

     

    • a) B kann für die Umsatzsteuer 2010, die bereits vor dem Kalenderjahr 2011 entstanden ist, haftungsmäßig nicht in Anspruch genommen werden. Der Haftungsbescheid ist insoweit rechtswidrig und anfechtbar.
    •  
    • b) Hinsichtlich der Umsatzsteuer 2011 ist die Steuer seit dem Beginn des letzten, vor der Übereignung liegenden Kalenderjahrs (2011) entstanden und wurde auch bis zum Ablauf von einem Jahr nach Anmeldung des Betriebs vom FA mit Steuerbescheid vom 19.3.13 festgesetzt. Der Umstand, dass der Haftungsbescheid vom 4.6.13 nach Ablauf dieser Jahresfrist ergeht, ist unerheblich, da es hierfür keine Frist gibt. Dieser muss lediglich innerhalb der vierjährigen Festsetzungsfrist ergehen (§ 191 Abs. 3 S. 2 AO).
     

    4.3 Gegenständliche Haftungsbeschränkung

    Die Haftung ist beschränkt auf den Bestand des übernommenen Vermögens einschließlich Surrogate (§ 75 Abs. 1 S. 2 AO). Darunter ist das übernommene Aktivvermögen ohne Abzug der Schulden zu verstehen. Der Haftungsschuldner haftet nicht in Höhe des Werts des übernommenen Vermögens, sondern mit diesem Vermögen (Nr. 4.3 AEAO zu § 75 AO).

     

    Beachten Sie | Gibt das FA den Vermögenswert im Haftungsbescheid an, auf den die Haftung beschränkt ist, ist dieser hinreichend bestimmt (BFH 22.9.92, VII R 73-74/91). Alternativ können auch die einzelnen übernommenen Gegenstände aufgeführt werden. Hierfür reicht es aus, wenn im Haftungsbescheid auf den Übergabevertrag Bezug genommen wird, sofern sich aus diesem die übernommenen Gegenstände in eindeutig abgrenzbarer Weise ergeben (vgl. Nr. 4.3 AEAO zu § 75 AO).

    5. Praxisempfehlungen

    Potenzielle Betriebserwerber sollten sich in jedem Fall nach betrieblichen Steuerrückständen des Veräußerers erkundigen, da das FA beim Betriebsübergang Haftungsmöglichkeiten prüfen und ausschöpfen wird. Hierzu kann das zuständige FA um Auskunft ersucht werden. Durch das Steuergeheimnis wird das FA Auskunft aber nur erteilen, wenn der Betriebsinhaber zustimmt (§ 30 Abs. 4 Nr. 3 AO).

     

    Nach der Übereignung darf das FA dem Erwerber auch ohne Zustimmung des Veräußerers eine Auskunft über solche Steuerrückstände des Veräußerers erteilen, für die eine Haftung nach § 75 AO in Betracht kommt. Dies gilt auch vor Erlass eines Haftungsbescheids.

    Quelle: Ausgabe 09 / 2013 | Seite 158 | ID 39840610