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  • 17.04.2013 · IWW-Abrufnummer 131335

    Finanzgericht Köln: Urteil vom 30.01.2013 – 15 K 47/09

    1) Werden im Ausland Leistungen gewährt, die dem Kindergeld vergleichbar sind, ist der Kindergeldanspruch gemäß § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht vollumfänglich ausgeschlossen, sondern in Anwendung der EuGH-Urteile v. 12.6.2012 - C-611/10 und 612/10 (Abl. EU 2012, Nr. C 227, 4) um den im anderen Staat gezahlten Betrag zu kürzen.
    2) Im Ausland gezahlte laufende Unterhaltszuschüsse und ein einmaliger Schulzuschuss sind dem deutschen Kindergeld nicht vergleichbar und damit bei der Ermittlung des Kindergeldanspruchs nicht zu berücksichtigen.


    Im Namen des Volkes
    URTEIL
    In dem Rechtsstreit
    hat der 15. Senat in der Besetzung: Vorsitzender Richter am Finanzgericht … Richter am Finanzgericht … Richterin am Finanzgericht … ehrenamtliche Richterin … ehrenamtlicher Richter … auf Grund mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 30.01.2013 für Recht erkannt:
    Tatbestand
    Die Beteiligten streiten um die Zahlung von Kindergeld für den Zeitraum September 2006 bis August 2007 für das minderjährige Kind A.
    Die verwitwete Klägerin ist polnische Staatsangehörige und lebt seit September 2006 in B. Nach den Angaben der Klägerin in ihrem Kindergeldantrag vom 24.08.2007 lebte ihre Tochter, die nach der Haushaltsbescheinigung der Stadt B 10.09.2007 am 20.11.2006 in die Bundesrepublik Deutschland einreiste, in ihrem Haushalt.
    Die Klägerin war nach ihren Angaben in dem Kindergeldantrag in der Zeit vom 21.04. bis 20.07.2006 bei der polnischen Firma C, D, als Altenpflegerin beschäftigt. Der „Werdegang” der Agentur für Arbeit weist in der Zeit vom 16.10.2006 bis 01.10.2007 eine selbstständige Tätigkeit und ab dem 02.10.2007 Arbeitslosigkeit aus. Laut einer Bescheinigung des Referats für Familienleistungen des Amtes der Stadt D bezog die Klägerin in der Zeit vom 01.05.2007 bis 31.08.2007 Familienleistungen in Form von Familienbeihilfe in Höhe von 64 Zloty monatlich, Zulage für die Alleinerziehung von 170 Zloty monatlich und einen einmaligen Zuschuss für den Schulbeginn von 100 Zloty. Wegen der Einzelheiten wird auf die vorgenannten Unterlagen in der Kindergeldakte verwiesen.
    Die Beklagte setzte zunächst mit Bescheid vom 19.12.2007 ab September 2007 Kindergeld in Höhe von monatlich 154 EUR fest (s. Bl. 16 d. KG-Akte). Für den streitgegenständlichen Zeitraum lehnte er den Antrag der Klägerin auf Gewährung von Kindergeld mit Bescheid vom 15.05.2008 ab (Bl. 30 d. KG-Akte). Die Ablehnung begründete die Beklagte damit, dass die Klägerin in dieser Zeit in Polen selbständig gewesen sei und daher gemäß Art. 13 der EWG-Verordnung Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates, also Polen, einschlägig seien. Auch sei kein Differenzkindergeld zu gewähren. Zu diesem Sachverhalt befindet sich in der Kindergeldakte der Beklagten ein Aktenvermerk vom 27.09.2007 über ein persönliches Gespräch mit der Klägerin, in dem niedergelegt ist: „ist von Polen mit Tochter nach Deutschland gekommen, war selbständig und hat nicht genug verdient” (Bl. 29 d. KG-Akte).
    Gegen den Ablehnungsbescheid legte die Klägerin fristgerecht Einspruch ein, in dem sie darlegte, dass sie noch nie in Polen selbständig gewesen sei.
    Noch bevor die Beklagte eine Entscheidung über den Einspruch getroffen hatte, hat die Klägerin am 28.10.2008 die vorliegende Klage beim Sozialgericht B erhoben, mit dem Antrag, die Beklagte zu verpflichten, ihr Kindergeld in Höhe von insgesamt 1.848 EUR für die Zeit von September 2006 bis August 2007 zu gewähren. Mit Beschluss vom 18.11.2008 hat das Sozialgericht das Verfahren an das zuständige Finanzgericht Köln verwiesen.
    Im Laufe des Klageverfahrens hat die Beklagte am 13.11.2008 einen als „Abhilfebescheid” bezeichneten Änderungsbescheid erlassen, in dem sie der Klägerin für den streitigen Zeitraum Kindergeld in Höhe von 82,20 EUR monatlich gewährte. Dieser Betrag berechnet sich unter Anrechnung der polnischen Familienleistungen in Höhe von insgesamt 234 Zloty monatlich (Familienbeihilfe 64 Zloty, zzgl. Zulage für Alleinerziehende 170 Zloty). Auf die Berechnung der Beklagten wird Bezug genommen (Bl. 40 d. KG-Akte).
    Hierzu trägt die Klägerin vor, die Beklagte habe bei der Berechnung des Abhilfebetrages einen falschen Umrechnungskurs zu Grunde gelegt habe. Es sei der Mittelwert für den Zeitraum September 2006 bis August 2007 in Höhe von 0,25701 EUR/ Zloty anzusetzen. Demzufolge ergäben sich für 64 Zloty Familienbeihilfen ein Abzug von monatlich 16,45 EUR. Soweit die Beklagte darüber hinaus die Zulage für Alleinerziehende in Abzug gebracht habe, könne dem nicht gefolgt werden, da dieser Betrag keine berücksichtigungspflichtige polnische Familienleistung darstelle.
    Die Klägerin, für die im Termin zur mündlichen Verhandlung niemand erschienen ist, hat schriftsätzlich den Antrag angekündigt,
    die Beklagte zu verpflichten, ihr für die Zeit von September 2006 bis einschließlich August 2007 Kindergeld in Höhe von insgesamt 137,55 EUR mtl. zu gewähren.
    Die Beklagte beantragt,
    die Klage abzuweisen,
    hilfsweise die Revision zuzulassen.
    Sie trägt vor, die Klägerin falle weder als Arbeitnehmerin noch als Selbständige unter die VO EWG Nr. 1408/71 und die hierzu ergangene Durchführungsverordnung. Der Vater des Kindes sei im Streitzeitraum bereits verstorben gewesen. Zwar habe die Klägerin nach den §§ 62 ff. EStG grundsätzlich einen Anspruch auf Kindergeld. Da sie im streitigen Zeitraum jedoch polnische Familienleistungen bezogen habe, komme § 65 Abs. 1 Nr. 2 des Einkommensteuergesetzes zur Anwendung, nach dem der deutsche Kindergeldanspruch gänzlich ausgeschlossen sei. Die Beklagte habe eine Billigkeitsregelung praktiziert, die auf der analogen Anwendung der Art. 12 Abs. 2 VO EWG Nr. 1408/71 und Art. 7 Abs. 1 DVO Nr. 574/72 basiere, nach der in diesen Fällen hälftiges Kindergeld vorgesehen sei. Unterstellt, die Klägerin wäre in das polnische soziale Sicherungssystem (ZUS oder KRUS) integriert gewesen, wäre der Anspruch auf deutsches Kindergeld sogar gänzlich ausgeschlossen gewesen. Ein Anspruch auf höheres Kindergeld bestehe daher nicht.
    Im Termin zur mündlichen Verhandlung hat der Vertreter der Beklagten erklärt, die Beklagte halte nicht länger daran fest, dass die Klägerin im Streitzeitraum in Polen selbstständig tätig gewesen sei. Hinsichtlich der Umrechnung des polnischen Kindergeldes i.H.v. 64 Zloty erklärt der Beklagtenvertreter, er könne unstreitig stellen, dass dies einem Betrag von 16,45 EUR entspreche. Eine Abhilfe könne jedoch auch im Hinblick auf die Rechtsprechung des EuGH im Urteil vom 12. Juni 2012 nicht erfolgen. Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die beigezogenen Akten der Beklagten und das Protokoll über die mündliche Verhandlung Bezug genommen.
    Entscheidungsgründe
    Die Klage ist zulässig.
    Die ursprünglich als Untätigkeitsverpflichtungsklage gemäß § 46 Abs. 1 FGO erhobene Klage ist – nach Erlass des Änderungsbescheids vom 13.11.2008 und entsprechender Anpassung des Klagebegehrens – nunmehr als Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid zulässig.
    Durch Erlass des Änderungsbescheides hat sich die Untätigkeitsverpflichtungsklage nicht erledigt. Macht ein Kläger mit der Untätigkeitsklage nach § 46 Abs. 1 FGO geltend, der Beklagte habe über seinen Einspruch ohne zureichenden Grund nicht entschieden, erledigt sich das Verfahren nicht, wenn der Beklagte dem Einspruch ganz oder teilweise nicht stattgibt, denn dadurch hat der Beklagte nicht, wie § 46 Abs. 1 Satz 3 FGO voraussetzt, den „beantragten” Verwaltungsakt erlassen (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 19.04.2007, V R 48/04, BStBl II 2009, 315 unter II.B.1.d. m.w.N.). Im Streitfall hat die Beklagte der Klägerin Kindergeld „lediglich” in Höhe von 82,20 EUR monatlich gewährt, obwohl diese Kindergeld in voller Höhe von 154 EUR monatlich beantragt hatte. Damit hilft die Beklagte dem Begehren der Klägerin – entgegen ihrer Bezeichnung des Bescheides als „Abhilfebescheid” – nicht vollumfänglich ab.
    Die Klage ist begründet.
    Der Kindergeldbescheid vom 13. November 2008 ist rechtwidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung – FGO –).
    Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, für den Streitzeitraum Kindergeld in Höhe von 137,55 EUR mtl. festzusetzen.
    Die Klägerin hat nach den nationalen Rechtsvorschriften (§§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes – EStG –) einen Anspruch auf Gewährung von Kindergeld in der oben genannten Höhe.
    Für Kinder im Sinne des § 63 EStG hat nach § 62 Abs. 1 EStG (u.a.) derjenige Anspruch auf Kindergeld, der im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat. Diese Voraussetzungen sind erfüllt, weil die mit ihrer Tochter in häuslicher Gemeinschaft gelebt habende Klägerin aufgrund ihres inländischen Wohnsitzes unbeschränkt steuerpflichtig und damit kindergeldberechtigt war. Da das zwischen den Beteiligten nicht in Streit steht, verzichtet der Senat insoweit auf weitere Ausführungen.
    Einem Kindergeldanspruch in Höhe von 137,55 EUR mtl. steht § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen. Nach dieser Vorschrift wird Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt, für das im Ausland Leistungen gewährt werden oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wären, die dem Kindergeld oder einer in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG aufgeführten Leistung vergleichbar sind.
    Diese Voraussetzungen sind im Streitfall erfüllt. Die Klägerin hat im Streitzeitraum von den polnischen Behörden monatlich 64 Zloty Kindergeld für ihre Tochter erhalten. Bei isolierter Betrachtung des nationalen Rechts ist ein Kindergeldanspruch der Klägerin mithin nach § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ausgeschlossen.
    Allerdings hat der EuGH mit Urteil vom 12. Juni 2012 C-611/10 und C-612/10, ABl EU 2012, Nr C 227, 4 (nur Leitsatz); DStRE 2012, 999-1007 (red. Leitsatz und Gründe) entschieden, dass die Bestimmungen des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV – über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer dahin auszulegen sind, dass sie in einer Situation wie der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden der Anwendung einer nationalen Rechtsvorschrift wie § 65 des Einkommensteuergesetzes entgegenstehen, soweit diese nicht zu einer Kürzung des Betrags der Leistung um die Höhe des Betrags einer in einem anderen Staat gewährten vergleichbaren Leistung, sondern zum Ausschluss der Leistung führt.
    Bei der „in Rede stehenden Ausgangssituation” des EuGH-Verfahrens handelte es sich um die nationalen Kindergeldansprüche eines entsandten Arbeitnehmers und eines Saisonarbeiters i. S. d. Art. 14 Nr. 1a und Art. 14a Nr. 1a der der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern – VO (EWG) 1408/71 –.
    Nach Auffassung des erkennenden Senats ist der Anwendungsbereich dieser Entscheidung jedoch nicht auf entsandte Arbeitnehmer und Saisonarbeiter i. S. d. Art. 14 Abs. 1 bzw. 14a Abs. 1 der VO (EWG) 1408/71 beschränkt. Der EuGH begründet den Verstoß gegen das Europarecht unter Heranziehung der Grundfreiheiten des AEUV (Freizügigkeit). Auf dieses europäische Primärrecht können sich nicht nur entsandte Arbeitnehmer und Saisonarbeiter berufen, sondern auch und erst recht andere Freizügigkeitsberechtigte, die – wie die Klägerin – ihren Wohnsitz nicht nur vorübergehend im Rahmen einer der vorgenannten Tätigkeiten nach Deutschland verlegen. Der Senat vermag nicht zu erkennen, aus welchem Grund dieser Personenkreis eine Einschränkung der Grundfreiheiten nach dem AEUV hinnehmen müsste, während das bei entsandten Arbeitnehmern oder Saisonarbeitern nicht der Fall sein soll.
    Unter Zugrundelegung dieser Rechtsauslegung steht der in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG normierte Ausschluss des deutschen Kindergeldes daher auch in Fällen wie dem Vorliegenden mit dem Gemeinschaftsrecht nicht in Einklang.
    Das führt nach Auffassung des Senates allerdings nicht zu der Konsequenz, dass § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG gänzlich zu vernachlässigen und der Klägerin Kindergeld in voller Höhe zu gewähren wäre.
    Da die Anrechnung des ausländischen Kindergeldes nach der o.g. Rechtsprechung des EuGH mit dem primären Europarecht in Einklang steht, ist die Vorschrift nach Auffassung des erkennenden Senats vielmehr geltungserhaltend dahingehend zu reduzieren, dass das deutsche Kindergeld um die in Polen empfangenden Leistungen zu kürzen ist (zur geltungserhaltenden Reduktion vgl. BFH-Urteil vom 05. Mai 2010 I R 105/08, BFH/NV 2010, 2043).
    Zu diesen anrechenbaren Leistungen gehört allerdings nur das in Polen gewährte Kindergeld in Höhe von 64 Zloty. Die laufenden Unterhaltszuschüsse und der einmalige Schulzuschuss sind soziale Leistungen, die dem deutschen Kindergeld nicht vergleichbar sind (vgl. Bundeszentralamt für Steuern, St II 2-S 2280-PB/11/00014, –, Familienleistungsausgleich, Vergleichbare Leistungen im Sinne des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG, Fassung vom 07.12.201, BStBl I 2012, 18).
    Unter Zugrundelegung eines Anrechnungsbetrages in Höhe von 64 Zloty und eines durchschnittlichen Wechselkurses in Höhe von 0,25701 EUR/Zloty errechnet sich ein Anrechnungsbetrag in Höhe von 16,45 EUR und ein monatliches Kindergeld in Höhe von 137,55 EUR.
    Zu einem hiervon abweichenden Ergebnis käme man auch dann nicht, wenn man – wie die Beklagte dies vor der mündlichen Verhandlung für denkbar gehalten hat – davon ausgeht, dass die Klägerin aufgrund einer selbständigen Tätigkeit in das polnische Sozialsystem eingegliedert war und aus diesem Grunde Art. 13 Abs. 2b der VO (EWG) 1408/71 sie anwendbar sein sollte. Nach Art. 13 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. Abs. 2b der VO (EWG) 1408/71 in der für den Streitzeitraum gültigen Fassung unterliegen Personen, die im Gebiet eines Mitgliedstaates (hier Polen) eine selbständige Tätigkeit ausüben, nur den Rechtsvorschriften dieses Staates, auch wenn sie in dem Gebiet eines anderen Mitgliedstaates (hier Deutschland) wohnen. Die Bestimmungen des Titels II der VO (EWG) 1408/71 bezwecken nach ständiger Rechtsprechung des EuGH, dass die Betroffenen dem System der sozialen Sicherheit nur eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, so dass die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden (Urteil vom 10. Juli 1986 in der Rechtssache 60/85, Luijten, Slg. 1986, 2365). Das entspricht auch der Sichtweise des Bundesverfassungsgerichts (Beschluss vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts 110, 412).
    Allerdings hat der EuGH mit Urteil dem oben bereits genannten Urteil vom 12. Juni 2012 C-611/10 und C-612/10 (a.a.O.) zu Art. 14 Nr. 1a und Art. 14a Nr. 1a der VO (EWG) 1408/71 entschieden, dass diese Vorschriften es einem Mitgliedstaat, der hiernach nicht als zuständiger Staat bestimmt ist, nicht verwehren, nach seinem nationalen Recht einem Wanderarbeitnehmer, der unter Umständen wie denen der Ausgangsverfahren in seinem Hoheitsgebiet vorübergehend eine Arbeit ausführt, auch dann Leistungen für Kinder zu gewähren, wenn erstens festgestellt wird, dass der betreffende Erwerbstätige durch die Wahrnehmung seines Rechts auf Freizügigkeit keinen Rechtsnachteil erlitten hat, da er seinen Anspruch auf gleichartige Familienleistungen im zuständigen Mitgliedstaat behalten hat, und zweitens, dass weder dieser Erwerbstätige noch das Kind, für das diese Leistung beansprucht wird, ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet des Mitgliedstaats haben, in dem die vorübergehende Arbeit ausgeführt wurde.
    Der EuGH führt hierzu aus, dass das Primärrecht der Union einem Versicherten zwar nicht garantiere, dass ein Wechsel in einen anderen Mitgliedstaat hinsichtlich der sozialen Sicherheit neutral ist, so dass die Anwendung einer nationalen Regelung – gegebenenfalls aufgrund der Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 –, die in Bezug auf Leistungen der sozialen Sicherheit weniger günstig ist, grundsätzlich mit den Anforderungen des Primärrechts der Union auf dem Gebiet der Personenfreizügigkeit vereinbar sein kann (EuGH, a.a.O, Seite 9, Textziffer 43 der Juris-Dokumentation).
    Dass die deutschen Behörden nach dem Unionsrecht nicht verpflichtet sind, das in Rede stehende Kindergeld zu gewähren, schließt nach den weiteren Ausführungen des EuGH allerdings die Möglichkeit einer solchen Gewährung nicht aus. Insoweit seien die Bestimmungen der VO (EWG) Nr. 1408/71 im Lichte des Art. 48 AEUV auszulegen, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtern solle und u. a. impliziere, dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürften, weil sie das ihnen vom Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben (EuGH, a.a.O., mit Verweis auf EuGH, Urteil vom 20. Mai 2008, Bosmann, (C-352/06, Slg. 2008, I-3827, Rn. 29 ff.).
    Nach Auffassung des erkennenden Senats ist die Entscheidung des EuGH C-611/10 und C-612/10 (a.a.O.) auch in diesem Punkt nicht nur auf entsandte Arbeitnehmer und Saisonarbeiter i. S. d. Art. 14 Abs. 1 bzw. 14a Abs. 1 der VO (EWG) 1408/71 anwendbar, sondern auch auf die Klägerin, wenn diese im Streitzeitraum die Voraussetzungen des Art. 13 Abs. 2 b erfüllt hätte.
    Das ergibt sich daraus, dass der EuGH in den Entscheidungsgründen des vorgenannten Urteils allgemein von den Bestimmungen der VO (EWG) 1408/71 spricht, ohne die Rechtsfolgen auf Personen i. S. d. Art 14 und 14a zu beschränken (vgl. EuGH, C-611/10, 612/10, a.a.O. Ziffer 43, 44 und 46 der Juris-Dokumentation). Von daher darf angenommen werden, dass die Rechtslage bei Personen, die aufgrund eines anderen Artikels unter den Geltungsbereich der VO fallen, nicht anders zu betrachten ist.
    Darf der deutsche Staat danach als nicht zuständiger Staat Kindergeld gewähren, kommt es nach Auffassung des Senates für die Frage der Kindergeldberechtigung nur noch darauf an, ob er für einen solchen Kindergeldanspruch eine Rechtsgrundlage geschaffen hat. Das ist nach Auffassung des Senats zumindest in einem Fall wie dem Vorliegenden zu bejahen, in dem die Klägerin aufgrund ihrer unbeschränkten Steuerpflicht und der Haushaltszugehörigkeit des Kindes einen Kindergeldanspruch nach den §§ 62 ff. EStG hat. Der Senat sieht sich bei dieser Auslegung in Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH, der bei der europarechtlichen Betrachtung den Umstand, dass der Berechtigte Leistung nach den deutschen Rechtsvorschriften allein aufgrund seiner unbeschränkten Steuerpflicht in Anspruch nehmen kann, ebenfalls für bedeutsam hält (vgl. EuGH, C-611/10, 612/10, a.a.O., Tenor zu 1. und Ziffer 68 der JurisDokumentation).
    Hinsichtlich der Berechnung und der Höhe des Kindergeldes wird auf die zuvor gemachten Ausführungen verwiesen. Auch unter dem Geltungsbereich der VO (EWG) 1408/71 ergäbe sich keine anderweitige Berechnung des Kindergeldes.
    Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
    Die Revision war zuzulassen, weil die Frage, welche Auswirkungen sich aus dem Urteil des EuGH vom 12. Juni 2012 C-611/10 und 612/10 auf das nationale Recht ergeben, von grundsätzlicher Bedeutung ist und eine höchstrichterliche Entscheidung erfordert.

    VorschriftenEStG § 63, EStG § 65 Abs 1 Satz 1 Nr 2, AEUV Art 45, AEUV Art 48, EStG § 62 Abs 1

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