26.08.2015 · IWW-Abrufnummer 145178
Finanzgericht München: Urteil vom 29.10.2014 – 8 K 369/14
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht München
v. 29.10.2014
Az.: 8 K 369/14
In der Streitsache
Kläger
Beklagter
wegen
Einkommensteuer 2008
hat der 8. Senat des Finanzgerichts München durch
[...]
ohne mündliche Verhandlung am 29. Oktober 2014
für Recht erkannt:
Tenor:
1.
Die Einkommensteuer 2008 wird unter Änderung des Bescheides vom 22.01.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2010 und des Änderungsbescheides vom 14.06.2011 auf Null € festgesetzt.
2.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
3.
Die Entscheidung ist im Kostenpunkt für den Kläger vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte darf durch Sicherheitsleistung in Höhe der zu erstattenden Kosten des Klägers die Vollstreckung abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
4.
Die Zuziehung eines Bevollmächtigten im Vorverfahren war notwendig.
5.
Die Revision wird zugelassen.
Gründe
I.
Streitig ist zwischen dem Kläger und dem Beklagten - dem Finanzamt (FA) - ob § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) auf die Besteuerung des Klägers anzuwenden ist.
1. Der Kläger wohnt in München und erzielte im Streitjahr 2008 Arbeitslohn aus einer Tätigkeit als Flugzeugführer bei einer Zweigstelle der US-Fluggesellschaft B in Großbritannien in Höhe von 137.857 € (unstreitige Umrechnung von der Landeswährung). Am Stützpunkt London hatte er nach Angabe keinen Wohnsitz und war daher in Großbritannien nur beschränkt steuerpflichtig. Ausweislich der vorgelegten Gehaltsbescheinigungen und britischen Steuerunterlagen wurde in Großbritannien nur ein Teilbetrag von 38.104,42 € (unstreitige Umrechnung von der Landeswährung - in der Begründung des Bescheides ist fälschlich ein in € umgerechneter Betrag von 27.104 € genannt) versteuert, der den Flügen mit Start oder Landung in Großbritannien entspricht. Dies entspricht einem gerundeten Anteil am Gesamtlohn von 28%. Unbesteuert blieb somit ein Betrag von rd. 99.753 €.
2. Das FA ermittelte im nunmehr streitgegenständlichen, während des Klageverfahrens ergangenen Änderungsbescheid vom 14.06.2011 die der deutschen Besteuerung zugrunde zu legenden Einkünfte aus dem in Großbritannien nichtversteuerten Betrag in Höhe von 99.753 € abzüglich eines entsprechenden Anteils der Werbungskosten in H öhe von 4.796 € (berechnet aus mittlerweile unstreitigen Gesamtwerbungskosten in Höhe von 6.662 € * 72%), ergibt 94.957 €. Die bereits in Großbritannien versteuerten Beträge in Höhe von 38.104 € berücksichtigte es nach Abzug eines 28%igen Werbungskostenanteils von 1.865 € mit einem Betrag von 36.239 € im Rahmen des Progressionsvorbehalts und setzte die ESt 2008 auf 34.226 € fest.
3. Hiergegen wandte sich der Kläger mit dem Begehren, die britischen Einkünfte in Deutschland freizustellen und lediglich im Rahmen des Progressionsvorbehaltes einzubeziehen.
Der streitauslösende Einkommensteuer-(ESt-)Bescheid vom 22.01.2010 und die ablehnende Einspruchsentscheidung (EE) vom 04.11.2010 enthielten noch abweichende Beträge (festgesetzte ESt: 35.753 €). Die Zahlen des der Entscheidung zugrunde zu legenden Änderungsbescheides vom 14.06.2011 sind nunmehr unstreitig und die anderen Streitpunkte ausgeräumt.
4. Das Gericht hat auf Antrag der Beteiligten am 02.08.2011 das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des BFH in der Streitsache I R 27/11 beschlossen. Nach Erledigung dieses Verfahrens hat der Kläger den Fortgang des Verfahrens beantragt (Schreiben vom 29.03.2012), das FA hingegen das weitere Ruhen im Hinblick auf ein weiteres Verfahren vor dem BFH und eine in diesem Verfahren erfolgte Vorlage zum BVerfG (Schreiben vom 14.05.2012 und vom 08.08.2012), wogegen sich der Kläger verwahrt hat (Schreiben vom 06.07.2012 und vom 25.09.2012).
Das Gericht hat das Verfahren mit Blick auf das beim BVerfG anhängige Verfahren 2 BvL 1/12 ausgesetzt (Beschluss vom 05.07.2013 und rechtlicher Hinweis vom 25.07.2013). Der hiergegen eingelegten Beschwerde hat das Gericht nicht abgeholfen (Beschluss vom 08.08.2013). Hingegen hat der BFH mit Beschluss vom 19.12.2013 der Beschwerde abgeholfen und angeordnet, das Verfahren fortzuführen (auf den Wortlaut des Beschlusses I B 138/13, n.v., - Bl. 191 der Klageakte - und den weiteren am 19.12.2013 ergangenen Beschluss des BFH I B 109/13 - Bl. 194 der Klageakte - wird verwiesen).
5. Seine Klage begründet der Kläger im Wesentlichen damit, dass die Überschreibung des Doppelbesteuerungsabkommens durch den Gesetzgeber in § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG gegen das Grundgesetz und die Niederlassungsfreiheit des Rechts der EU verstoße, sowie zuletzt mit der Rechtsprechung des BFH. Wegen der Einzelheiten wird auf das schriftsätzliche Vorbringen verwiesen.
Der Kläger beantragt,
unter Änderung des ESt-Bescheides für 2008 vom 22.01.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2010 und des Änderungsbescheides vom 14.06.2011 die ESt 2008 auf Null € festzusetzen,
sowie die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren als notwendig zu erklären, hilfsweise die Revision zuzulassen.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es verweist im Wesentlichen auf die EE.
II.
1. Das Verfahren ist entscheidungsreif. Eine Aussetzung des Verfahrens kommt nicht in Betracht.
Nach § 74 Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht die Aussetzung eines bei ihm anhängigen Verfahrens anordnen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits ganz oder zum Teil von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet.
Darüber hinaus kommt nach der Rechtsprechung des BFH eine Aussetzung des Klageverfahrens entsprechend § 74 FGO in Betracht, wenn vor dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) bereits ein nicht als aussichtslos erscheinendes Musterverfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm anhängig ist, zahlreiche Parallelverfahren vorliegen und keiner der Verfahrensbeteiligten ein besonderes berechtigtes Interesse an einer Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit der umstrittenen gesetzlichen Regelung trotz des beim BVerfG anhängigen Verfahrens hat. Ein Klageverfahren darf jedoch nicht allein deshalb nach § 74 FGO ausgesetzt werden, weil bei dem BFH ein anderer Rechtsstreit anhängig ist, der eine vergleichbare Rechtsfrage betrifft oder als Musterverfahren geführt wird. In einem solchen Fall können vielmehr beim FG schwebende Parallelverfahren nur gemäß § 251 der Zivilprozessordnung i. V. m. § 155 FGO zum Ruhen gebracht werden, wozu es jedoch u. a. der - im vorliegenden Fall fehlenden - Zustimmung des Klägers bedarf (vgl. BFH-Beschluss vom 24. September 2012 VI B 79/12, BFH/NV 2013, 70 m.w.N.).
Danach liegen die Voraussetzungen für eine Aussetzung des Verfahrens nicht vor. Soweit Verfahren gegen eine im Streitfall anzuwendende Norm vor dem BVerfG anhängig sind, sind die aufgeworfenen Zweifelsfragen nicht entscheidungserheblich (siehe dazu unten 2c a.E. zum Normenkontrollverfahren 2 BvL 1/12 und zum Vorlagebeschluss des BFH I R 86/13). Allein der Hinweis des FA auf vor dem BFH bereits anhängige Verfahren (insbesondere I R 41/14), die die gleiche streitige Rechtsfrage betreffen, reicht für eine Aussetzung nach § 74 FGO nicht aus.
Die ablehnende Aussetzungsentscheidung konnte der Senat in der abschließenden Entscheidung treffen (BFH-Beschluss vom 25. November 2003 II B 68/02, BFH/NV 2004, 462).
2. Die Klage ist begründet.
Die angefochtene Steuerfestsetzung verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist daher antragsgemäß zu ändern.
a) Der Kläger ist gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig, da er seinen Wohnsitz im Sinne von § 8 Abgabenordnung in Deutschland hat. Folge der unbeschränkten Steuerpflicht ist, dass die in dem durch die sieben Einkunftsarten gezogenen Rahmen weltweit erzielten Einkünfte der Einkommensteuer unterliegen, soweit sie nicht von der inländischen Besteuerung ausgenommen sind.
b) Die streitgegenständlichen Einkünfte des Klägers als Pilot sind von der inländischen Besteuerung freigestellt und können nur im Rahmen des Progressionsvorbehaltes berücksichtigt werden.
Nach Art. 11 Abs. 5 des Doppelbesteuerungsabkommens mit Großbritannien (DBA-GBR; in der im Streitjahr gültigen Fassung) können Vergütungen für Dienstleistungen, die an Bord eines Seeschiffes oder Luftfahrzeuges im internationalen Verkehr erbracht werden - um solche handelt es sich im Streitfall -, in dem Gebiet besteuert werden, in dem sich der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung des Unternehmens befindet. Im Streitfall ist nach dem unstreitigen Vortrag der Ort der tatsächlichen Geschäftsleitung des Luftfahrtunternehmens London und danach das Besteuerungsrecht dem Vereinigten Königreich zugewiesen und im Inland nach Art. 18 Abs. 2 Buchst. a) DBA-GBR steuerfrei zu stellen bei möglicher Berücksichtigung bei der Bemessung des Steuersatzes.
c) Ein Rückfall des Besteuerungsrechts durch innerstaatliches Recht ("Treaty Override") nach § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG kommt im Streitfall nicht in Betracht.
Nach dieser Norm wird die im Abkommen vorgesehene Freistellung der Einkünfte ungeachtet des Abkommens nicht gewährt, wenn die Einkünfte in dem anderen Staat nur deshalb nicht steuerpflichtig sind, weil sie von einer Person bezogen werden, die in diesem Staat nicht auf Grund ihres Wohnsitzes, ständigen Aufenthalts, des Ortes ihrer Geschäftsleitung, des Sitzes oder eines ähnlichen Merkmals unbeschränkt steuerpflichtig ist. Die Vorschrift wurde durch das Jahressteuergesetz 2007 vom 13. Dezember 2006 eingeführt und gilt nach Art. 20 Abs. 6 dieses Gesetzes ab dem Veranlagungszeitraum 2007, also auch für das Streitjahr 2008. Zweck der als "Treaty Override" beurteilten Norm ist es, eine dem Sinn und Zweck der Freistellungsmethode widersprechende "Keinmal-Besteuerung" zu vermeiden.
Nach der Rspr. des BFH (BFH-Beschluss vom 19.12.2013 I B 109/13, BFH/NV 2014, 623) ist diese Norm konditional auszulegen. Der abkommensüberschreibende Besteuerungsrückfall für die betreffenden Einkünfte wird nach § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG tatbestandlich nur dann ausgelöst wird, "wenn" - nicht aber "soweit" - die betreffenden Einkünfte aus den Gründen der fehlenden Ansässigkeit im anderen Vertragsstaat nicht steuerpflichtig sind (BFH, ebenda). Bezugsgröße sind die im Eingangssatzteil der Norm genannten Einkünfte, die nach einem Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung von der Bemessungsgrundlage der deutschen Steuer auszunehmen sind. Das aber sind die Einkünfte, für die das Abkommen dem anderen Vertragsstaat das Besteuerungsrecht gewährt, und diese Einkünfte qualifizieren sich regelm äßig aus den jeweiligen abkommensrechtlichen Einkunftsarten (Art. 6 bis Art. 21 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development). Im Streitfall sind das nach Maßgabe von Art. 11 Abs. 5 des DBA-GBR die an den Kläger für dessen Dienstleistungen an Bord eines Luftfahrzeugs im internationalen Verkehr als Arbeitslohn geleisteten Vergütungen, welche infolge der abkommensrechtlich vereinbarten Zuordnung von der Bemessungsgrundlage der deutschen Einkommensteuer auszunehmen sind, und zwar insgesamt und nicht nur teilweise (BFH, ebenda).
Hat daher der andere Vertragsstaat das ihm abkommensrechtlich zugewiesene Besteuerungsrecht an den betreffenden Einkünften - wie im Streitfall - für einen Teil der Einkünfte wahrgenommen, sind die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 50d Abs. 9 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht erfüllt. Damit kommt es weder auf das in der Rspr. und Literatur streitige Verhältnis von § 50d Abs. 9 zu Abs. 8 EStG an, noch auf die damit zusammenhängende Frage, ob die rückwirkende Neuregelung in § 50d Abs. 9 Satz 3 (i.V.m. § 52 Abs. 59a Satz 9) EStG 2009 i.d.F. des Amtshilferichtlinie-Umsetzungsgesetzes) unter dem Gesichtspunkt der Rückwirkung oder dem Gesichtspunkt eines vom BFH postulierten grundsätzlichen "Treaty-Override-Verbots" verfassungsrechtlichen Anforderungen genügt (so BFH-Beschluss vom 19.12.2013 I B 138/13, n.v., im hiesigen Verfahren zur Frage der Aussetzung ergangen; siehe auch Vorlagebeschluss des BFH vom 20.08.2014 I R 86/13, [...]).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit hinsichtlich der Kosten und über den Vollstreckungsschutz folgt aus § 151 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1, Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung. Der Kläger konnte es auf Grund der Schwierigkeit der Streitsache für notwendig halten, schon im Vorverfahren einen fachkundigen Berater mit der Interessenvertretung zu beauftragen (§ 139 Abs. 3 Satz 3 FGO).
4. Die Revision wird zugelassen. Der Senat weicht von der zur gleichen Rechtsfrage ergangenen Entscheidung des FG Berlin-Brandenburg vom 29.04.2014 3 K 3227/13, EFG 2014, 1278 (Rev. eingelegt - Az. des BFH: I R 41/14) ab. Der Zulassungsgrund des § 115 Abs. 2 Nr. 2 ist damit erfüllt.
5. Es erscheint dem Senat in Ausübung seines durch § 90a Abs. 1 FGO eingeräumten Ermessens sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu entscheiden, da - ohne streitigen Sachverhalt - einzig eine Rechtsfrage zu entscheiden ist, über die Parallelverfahren bereits vor dem BFH anhängig sind. Es ist zu erwarten, dass das unterlegene FA Revision einlegen wird.