02.11.2010
Finanzgericht Baden-Württemberg: Gerichtsbescheid vom 09.02.2010 – 4 K 5221/08
1. Eine Flugbegleiterin, die mit ihrem Ehemann und ihren Kindern in Italien lebt, begründet durch gelegentliche, unregelmäßige Besuchsaufenthalte bei der im Inland lebenden Mutter keinen Wohnsitz im Inland, auch wenn die Mutter ein Zimmer unentgeltlich zur Verfügung stellt.
2. Ein Kindergeldanspruch besteht auch dann nach § 62 Abs. 1 Nr. 2b i. V. m. § 1 Abs. 3 EStG, wenn im Besteuerungsverfahren keine Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig erfolgt ist, da es sich bei der Einkommensteuerfestsetzung und dem Kindergeldverfahren um unterschiedlichen Verfahren handelt.
3. Die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig im Kindergeldverfahren hängt nicht von der vorherigen Stellung eines Antrags nach § 1 Abs. 3 EStG im Besteuerungsverfahren ab. Der Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG kann bis zur Grenze der Festsetzungsverjährung nachträglich gestellt werden.
Im Namen des Volkes
Gerichtsbescheid
In dem Finanzrechtsstreit
hat der 4. Senat des Finanz zgerichts Baden-Württemberg am 9. Febrruar 2010 durch Vorsitzenden Richter am Fi inanzgericht … Richter am Finanzgericht …
für Recht erkannt:
1. Der Kindergeldaufhebun ngsbescheid der Beklagten vom 14. Jun ni 2007 und die Einspruchsentscheidung vomm 13. Oktober 2008 werden insoweit auf fgehoben, als sie die Aufhebung der Kinderge eldfestsetzung für die Zeit von März 2007 7 bis Dezember 2007 zum Gegenstand haben.
2. Die Beklagte trägt die Ko osten des Verfahrens.
3. Das Urteil ist wegen der r der Klägerin zu erstattenden Kosten vo orläufig vollstreckbar. Betragen diese nicht meehr als 1.500 EUR ist das Urteil hinsichtlic ch der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorlä äufig vollstreckbar. Die Beklagte kann in ddiesem Fall die Vollstreckung durch Sicherh heitsleistung in Höhe des mit Kostenfes stsetzungsbeschluss festgesetzten Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet. Übersteigt der Kostenerstattungsanspruch den Betrag von 1.500 EUR, ist das Urteil wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des mit dem Kostenfestsetzungsbeschluss festgesetzten Erstattungsbetrags vorläufig vollstreckbar.
4. Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin (Klin) für ihre beiden in Italien lebenden Töchter einen inländischen Anspruch auf Kindergeld hat.
Die Klin ist die Mutter der am 17. Oktober 1993 geborenen Tochter X. und der am 19. Dezember 1996 geborenen Tochter Y., für die sie bis einschließlich Februar 2007 inländisches Kindergeld bezog. Seit dem 23. April 1988 ist die Klin bei der A. als Flugbegleiterin beschäftigt. Seit dem 10. Februar 1990 ist sie mit dem italienischen Staatsangehörigen K., dem Vater der beiden Töchter, verheiratet. Der Familienwohnsitz der Klin, ihres Ehemannes und der beiden Töchter befindet sich jedenfalls seit dem 5. August 1999 in Z./Italien. Daneben ist die Klin in der Wohnung ihrer Mutter in der H. mit Hauptwohnsitz gemeldet. Im Jahr 2007 hielt sie sich aufgrund ihrer Berufstätigkeit an insgesamt 53 Tagen im Inland auf. Zu ihrer Tätigkeit reiste sie jeweils von Z./Italien aus nach A. und kehrte danach wieder unmittelbar an ihren Wohnsitz in Italien zurück. Jedenfalls für das Jahr 2007 hatte weder die Klin noch ihr Ehemann in Italien Anspruch auf Kindergeld für die beiden Töchter.
Ihre Einkommensteuer(ESt)-Erklärungen jedenfalls der Jahre 2005 bis 2007 gab die Klin jeweils unter Angabe der Adresse ihrer Mutter in der H. beim Finanzamt H. ab, das sie jeweils unter Annahme einer unbeschränkten ESt-Pflicht gemäß § 1 Abs. 1 Einkommensteuergesetz (EStG) zur ESt veranlagte. Auf die von der Klin vorgelegten ESt-Bescheide für 2005 vom 26. März 2008, für 2006 vom 18. Dezember 2007 und für 2007 vom 16. Juli 2008 sowie die Schreiben des Finanzamts H. an die Klin vom 28. September 2007 und an die Familienkasse G. vom 19. Oktober 2009, mit denen das Finanzamt H. ausführt, es bestehe seines Erachtens eine unbeschränkte ESt-Pflicht der Klin gemäß § 1 Abs. 1 EStG, wird Bezug genommen.
Mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 31. Juli 2008 legte die Klin eine von der italienischen Steuerbehörde ausgestellte Bescheinigung EU/EWR für das Jahr 2007 vom 10. Juli 2008 sowie eine vorläufige Bescheinigung EU/EWR für das Jahr 2008 vom 16. Juli 2008 vor, mit denen jeweils bestätigt wurde, dass die Klin in Italien keine der Besteuerung unterliegenden Einkünfte bezogen habe bzw. beziehe.
Am 9. November 2006 übersandte die Beklagte (Bekl) der Klin einen „Fragebogen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld”, den die Klin am 5. Januar 2007 ausgefüllt zurücksandte. Dabei gab sie als eigenen Wohnort – wie bereits zuvor – die Adresse „H.” an. Als Wohnort ihres Ehemannes und der beiden Töchter gab sie den Wohnsitz in Z./Italien an.
Am 16. Mai 2007 teilte die zuständige italienische Behörde mit Vordruck E 411 mit, dass der Ehemann der Klin für die Zeit ab 1. Januar 2006 keinen Antrag auf italienische Familienleistungen gestellt habe.
Mit Bescheid vom 14. Juni 2007 hob die Bekl die Festsetzung des Kindergeldes unter Bezugnahme auf § 70 Abs. 3 EStG mit Wirkung ab März 2007 auf. Zur Begründung führte sie aus, nach § 62 EStG habe Anspruch auf Kindergeld, wer seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenhalt in der Bundesrepublik Deutschland habe oder im Ausland wohne, aber in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sei oder als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werde. Nach den der Bekl vorliegenden Unterlagen seien diese Anspruchsvoraussetzungen nicht gegeben.
Mit Schreiben vom 16. Juni 2007 erhob die Klin Einspruch. Zur Begründung führte sie aus, der von der Bekl geforderte inländische Wohnsitz befinde sich in H. Nach § 62 EStG bestehe somit ein Anspruch auf Kindergeld, da alle Anforderungen erfüllt seien. In diesem Zusammenhang legte sie eine Meldebestätigung der Stadt H. sowie eine Kopie der Lohnsteuerbescheinigung 2006 vor. Außerdem legte sie eine Bestätigung des Finanzamts H. vom 28. September 2007 vor, wonach sie ihren Wohnsitz in „H.” habe und damit gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig sei. Diese Behandlung durch das Finanzamt sei nach Auffassung der Klägerseite für die Bekl bindend. Demzufolge bestehe ein Kindergeldanspruch für den strittigen Zeitraum ab März 2007. Da das Finanzamt H. aufgrund des Wohnsitzes in Deutschland von einer unbeschränkten Steuerpflicht gemäß § 1 Abs. 1 EStG ausgehe, stelle es keine Bescheinigung aus, wonach die Klin einer unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG unterliege. Unabhängig davon, worauf sich die unbeschränkte Steuerpflicht gründe – auf § 1 Abs. 1 oder auf § 1 Abs. 3 EStG –, bestehe ein Kindergeldanspruch. Sollte die Bekl die Feststellung des Finanzamts hinsichtlich der unbeschränkten Steuerpflicht anzweifeln, obliege es ihr zu prüfen, ob nicht der Tatbestand des § 1 Abs. 3 EStG erfüllt sei. Da die Klin im Jahr 2007, wie auch aktuell und in den Vorjahren, ausschließlich inländische Einkünfte bezogen habe, sei in jedem Fall eine unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG gegeben. Der Nachweis der inländischen Einkünfte im Jahr 2007 sei direkt dem ESt-Bescheid 2007 zu entnehmen. Als Nachweis für die (nicht vorhandenen) ausländischen Einkünfte sei die von der italienischen Steuerbehörde bestätigte Anlage EU/EWR für das Jahr 2007 sowie eine für das Jahr 2008 vorläufige Anlage EU/EWR diesem Schreiben beigefügt.
Mit Einspruchsentscheidung vom 13. Oktober 2008 wies die Bekl den Einspruch der Klin als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus, der Einspruch sei zulässig, sachlich jedoch nicht begründet. Nach § 62 Abs. 1 EStG habe Anspruch auf steuerrechtliches Kindergeld, wer
im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
– ohne diese Voraussetzungen zu erfüllen –
nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder
nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werde.
Die Klin habe keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Ebensowenig sei sie nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig, noch werde sie vom Finanzamt auf eigenen Antrag hin gemäß § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt. Ob die Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 oder Abs. 3 EStG für die unbeschränkte ESt-Pflicht vorlägen, entscheide das Finanzamt. Nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt steuerpflichtig seien im Ausland wohnhafte deutsche Staatsangehörige, die dort für einen deutschen öffentlichen Arbeitgeber tätig seien und im ausländischen Staat nur beschränkt zur ESt herangezogen würden. Betroffen seien insbesondere deutsche Staatsangehörige, die Mitglied einer diplomatischen oder konsularischen Vertretung seien, einschließlich der zu ihrem Haushalt gehörenden Angehörigen. Die unbeschränkte ESt-Pflicht nach § 1 Abs. 2 EStG sei der Familienkasse in der Regel durch die vom zuständigen Betriebsstättenfinanzamt nach § 39c Abs. 3 EStG für Zwecke des Lohnsteuerabzugs erstellte Bescheinigung nachzuweisen. Auf Antrag würden Personen ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt, soweit sie über Einkünfte aus inländischen Quellen verfügten. Weitere Voraussetzung sei, dass ihre gesamten Einkünfte im Kalenderjahr mindestens zu 90 v.H. der deutschen ESt unterlägen. Werde dieser v.H.-Satz unterschritten, könnten diese Personen als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt werden, wenn die nicht der deutschen ESt unterliegenden Einkünfte 6.136 EUR (bis 2001: 12.000 DM) im Kalenderjahr nicht überstiegen. Antragsberechtigt seien insbesondere Grenzgänger mit ausländischem Wohn- und inländischem Arbeitsort. Die unbeschränkte ESt-Pflicht nach § 1 Abs. 3 EStG sei der Familienkasse in der Regel durch die vom zuständigen Betriebsstättenfinanzamt nach § 39c Abs. 4 EStG für Zwecke des Lohnsteuerabzugs erstellte Bescheinigung nachzuweisen. Würden keine Einkünfte aus einer Arbeitnehmertätigkeit erzielt, sei ein Steuerbescheid vorzulegen, mit dem das Finanzamt über das Bestehen der unbeschränkten ESt-Pflicht im Sinne von § 1 Abs. 3 EStG entschieden habe.
Eine Bestätigung des zuständigen Finanzamtes über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 1 Abs. 2 EStG oder des § 1 Abs. 3 EStG sei im Streitfall von der Klin aber nicht vorgelegt worden. Ein entsprechender Antrag über die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 3 EStG sei beim zuständigen Finanzamt nicht gestellt worden. Es genüge für die kindergeldrechtliche Anspruchsberechtigung nicht, dass der Betroffene geltend mache, er müsse als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werden, weil die materiellen Voraussetzungen des § 1 Abs. 3 EStG vorlägen.
Rechtsgrundlage für die Aufhebungsentscheidung sei § 70 Abs. 3 EStG. Hiernach könnten materielle Fehler der letzten Festsetzung durch Neufestsetzung oder durch Aufhebung der Festsetzung beseitigt werden. Ein materieller Fehler sei jede objektive Unrichtigkeit der Kindergeldfestsetzung. Objektiv unrichtig sei die Kindergeldfestsetzung auch dann, wenn ein Sachverhalt zugrunde gelegt worden sei, der sich nachträglich als unrichtig oder unvollständig erweise. Die Neufestsetzung habe danach gemäß § 70 Abs. 3 EStG mit Wirkung ab dem auf die Bekanntgabe der angefochtenen Entscheidung folgenden Monat erfolgen können. Ein Ermessensspielraum stehe der Familienkasse im Rahmen des § 70 Abs. 3 EStG nicht zu.
Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 10. November 2008 erhob die Klin Klage. Zur Begründung lässt sie im Wesentlichen vortragen, nach den für die Verwaltung verbindlichen Anweisungen in DA 62.1 Abs. 3 Satz 1 der Dienstanweisung zur Durchführung des steuerlichen Familienleistungsausgleichs (DA-FamEStG) seien Feststellungen zur Steuerpflicht, die das Finanzamt getroffen habe, für die Familienkasse bindend. Da das Finanzamt H. die Klin als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 1 EStG behandelt habe, habe sie aufgrund der bestehenden Bindung der Familienkasse gemäß § 63 Abs. 1 EStG i. V. mit § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG Anspruch auf Kindergeld für ihre in Italien lebenden Töchter. Eine Anspruchskonkurrenz bestehe nicht, weil weder sie selbst noch ihr Ehemann in Italien Anspruch auf Kindergeld hätten. Dies werde durch die von ihr vorgelegten Bescheinigungen E 411 und E 401 belegt. Selbst wenn man aber keinen Wohnsitz und keinen gewöhnlichen Aufenthalt der Klin im Inland annehme, sei sie nach § 62 Abs. 1 Nr. 2b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG kindergeldberechtigt. Ob sie tatsächlich nach § 1 Abs. 3 EStG zur ESt veranlagt worden sei, spiele keine Rolle.
Im Erörterungstermin vom 29. Oktober 2009 wurde seitens der Prozessbevollmächtigten der Klin vorgetragen, die Klin nutze ihr früheres Kinderzimmer im Haus der Eltern. Küche, Bad und andere Räume könne sie mitbenutzen. Hinsichtlich der Aufenthaltszeiten der Klin in diesen Räumlichkeiten ließ die Klin im Nachgang zum Erörterungstermin mit Schriftsatz vom 25. November 2009 vortragen, sie habe sich nur besuchsweise in der Wohnung in H. aufgehalten. Ihre Flugeinsätze ab A. habe sie regelmäßig von Z./Italien aus angetreten und sei danach unmittelbar dorthin zurückgekehrt. Danach dürfte keine unbeschränkte ESt-Pflicht nach § 1 Abs. 1 EStG vorliegen. Der „Antrag auf unbeschränkte Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG” sei mit Schreiben vom 31. Juli 2008 gestellt worden.
Mit Beschluss vom 8. Februar 2010 wurde das Verfahren insoweit abgetrennt, als es das Kindergeld für das Jahr 2008 zum Gegenstand hat. Insoweit wird das Verfahren nunmehr unter Aktenzeichen 4 K 509/10 geführt. Auf Antrag der Beteiligten vom 5. Februar 2010 wurde insoweit mit Beschluss vom 8. Februar 2010 das Ruhen des Verfahrens bis zum rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens 4 K 5221/08 angeordnet.
Die Klin beantragt sinngemäß,
den Kindergeldaufhebungsbescheid vom 14. Juni 2007 und die Einspruchsentscheidung vom 13. Oktober 2008 insoweit aufzuheben, als sie die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung für die Zeit von März 2007 bis Dezember 2007 zum Gegenstand haben.
Die Bekl beantragt,
die Klage abzuweisen.
Sie bezieht sich zur Erwiderung im Wesentlichen auf die Gründe ihrer Einspruchsentscheidung.
Entscheidungsgründe:
Die Klage ist zulässig und begründet.
Gemäß § 32 Abs. 3 Satz 1 EStG wird bei der Veranlagung zur ESt ein Kind in dem Kalendermonat, in dem es lebend geboren wurde, und in jedem folgenden Kalendermonat, zu dessen Beginn es das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, berücksichtigt. Kindergeldrechtlich werden gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG Kinder im Sinne des § 32 Abs. 1 EStG berücksichtigt.
Nach § 62 Abs. 1 EStG hat für Kinder im Sinne des § 63 Anspruch auf Kindergeld, wer
im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder
ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland
…
nach § 1 Abs. 3 als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird.
Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, haben, werden gemäß § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG nicht berücksichtigt, es sei denn, sie leben im Haushalt eines Berechtigten im Sinne des § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchstabe a).
Die Klin hat für den Streitzeitraum zwar keinen Kindergeldanspruch gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG (vgl. I). Sie hat für diesen Zeitraum aber einen Kindergeldanspruch gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG (vgl. II).
I. Gemäß § 1 Abs. 1 Satz 1 EStG sind natürliche Personen, die im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt haben, unbeschränkt einkommensteuerpflichtig im Sinne des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG.
Nach § 8 Abgabenordnung (AO) hat jemand einen Wohnsitz dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird. Nach der Rechtsprechung des BFH ist es erforderlich, dass der Steuerpflichtige tatsächlich über die Wohnräume verfügen kann und sie als Bleibe entweder ständig benutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit – wenn auch in größeren Zeitabständen – aufsucht (vgl. BFH-Urteile vom 23. November 1988 II R 139/87, BStBl II 1989, 182 m.w.N.; vom 22. April 1994 III R 22/92, BStBl II 1994, 887; vom 17. Mai 1995 I R 8/94, BStBl II 1996, 2 und vom 23. November 2000 VI R 107/99, BStBl II 2001, 294). Das Wesen eines Wohnsitzes im steuerrechtlichen Sinne besteht somit darin, dass objektiv die Wohnung ihrem Inhaber jederzeit (wann immer er es wünscht) als Bleibe zur Verfügung steht und von ihm subjektiv zur entsprechenden Nutzung auch bestimmt ist. In dieser zur objektiven Eignung hinzutretenden subjektiven Bestimmung liegt der Unterschied zwischen dem bloßen Aufenthaltnehmen in einer Wohnung und einem Wohnsitz (BFH-Urteile vom 26. Februar 1986 II R 200/82, BFH/NV 1987, 301; vom 22. April 1994 III R 22/92, BStBl II 1994, 887 und vom 23. November 2000 VI R 107/99, BStBl II 2001, 294). Ob diese Voraussetzungen gegeben sind, ist nach den objektiven Umständen zu beurteilen. Melderechtliche Angaben sind unerheblich. Ein Umstand, der auf die Beibehaltung und Benutzung schließen lässt, ist die voraussichtliche Nutzungsdauer. Zwar ist nach der Rechtsprechung des BFH für die Annahme eines Wohnsitzes keine Mindestaufenthaltsdauer erforderlich (BFH-Urteile vom 26. Februar 1986 II R 200/82, BFH/NV 1987, 301 und vom 19. März 1997 I R 69/96, BStBl II 1997, 447). Dennoch bildet die in § 9 Satz 2 AO normierte Sechsmonatsfrist einen Anhaltspunkt für die Beibehaltung und Nutzung der Wohnung, da in dieser Frist zum Ausdruck kommt, ab welcher Zeitdauer ein Aufenthalt nicht mehr nur vorübergehend ist. Dies ist auch für § 8 AO maßgebend, weil eine nur vorübergehende Nutzung einer Wohnung keinen Wohnsitz begründet (BFH-Urteile vom 22. August 2007 III R 89/06, BFH/NV 2008, 351 und vom 20. November 2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564). Bei von vornherein auf mehr als ein Jahr angelegten Auslandsaufenthalten reichen kurzzeitige Besuche und sonstige kurzfristige Aufenthalte zu Urlaubs-, Besuchs- oder familiären Zwecken, die nicht einem Aufenthalt mit Wohncharakter gleichkommen und daher nicht „zwischenzeitliches Wohnen” bedeuten, nicht für die Annahme aus, der Inlandswohnsitz werde aufrechterhalten. Insbesondere darf die Anwesenheit in der Wohnung im Inland nicht nur Besuchscharakter haben (BFH-Urteile vom 23. November 1988 II R 139/87, BStBl II 1989, 182 m.w.N.; vom 22. April 1994 III R 22/92, BStBl II 1994, 887; vom 17. Mai 1995 I R 8/94, BStBl II 1996, 2 und vom 23. November 2000 VI R 107/99, BStBl II 2001, 294). Dies gilt insbesondere, wenn die Räumlichkeiten im Inland unentgeltlich von Dritten, z.B. von den Eltern, zur Verfügung gestellt werden. In einem solchen Fall werden die zur Verfügung gestellten Räume nicht als Bleibe und damit nicht als Wohnsitz, sondern nur besuchsweise oder als Ferienwohnung genutzt (BFH-Urteil vom 12. Januar 2001 VI R 64/98, BFH/NV 2001, 1231; vgl. auch BFH-Urteile vom 6. März 1968 I 38/65, BFHE 92, 5, BStBl II 1968, 439, und vom 23. November 1988 II R 139/87, BFHE 155, 29, BStBl II 1989, 182; vgl. auch BFH-Beschluss vom 2 September 1999 I B 83/98, BFH/NV 2000, 673).
Ausgehend von diesen Grundsätzen, denen der Senat folgt, hatte die Klin im Streitzeitraum keinen Wohnsitz im Inland. Entgegen ihrem ursprünglichen Vortrag hat sie die Wohnung ihrer Mutter nicht „als Bleibe entweder ständig genutzt oder sie doch mit einer gewissen Regelmäßigkeit – wenn auch in größeren Zeitabständen –” aufgesucht. Insbesondere hat sie – entgegen ihrem ursprünglichen Vortrag – ihre Arbeitseinsätze in A. nicht von der Wohnung ihrer Mutter aus angetreten, sondern ist – wie sie mittlerweile selbst vortragen lässt – direkt von ihrem Familienwohnsitz in Italien aus nach A. angereist und nach dem jeweiligen Arbeitsende wieder direkt nach Italien zurückgekehrt. Angesichts des Umstandes, dass die Klin und ihre Familie seit Jahren in Z./Italien leben, es sich bei der Wohngelegenheit in H. um ein unentgeltlich von der Mutter überlassenes Zimmer handelt und dieses nicht in einer gewissen Regelmäßigkeit genutzt wird, ist davon auszugehen, dass es sich bei den Aufenthalten der Klin bei ihrer Mutter um bloße – nicht wohnsitzbegründende – Besuchsaufenthalte handelt. Davon geht die Klin – wie sie mit Schriftsatz vom 25. November 2009 hat ausführen lassen – mittlerweile selbst aus.
II. Die Klin hat für den Streitzeitraum aber einen Kindergeldanspruch gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG.
A. Die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Normen sind erfüllt. Die Klin hatte im Streitzeitraum – wie unter I. dargestellt – im Inland keinen Wohnsitz im Sinne des § 8 AO und auch nicht ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 9 AO. Ihre Einkünfte in diesem Zeitraum unterlagen zu mindestens 90 Prozent – im Streitfall aufgrund des Nichtvorliegens ausländischer Einkünfte zu 100 Prozent – der deutschen ESt. Diese Voraussetzungen hat sie gemäß § 1 Abs. 3 Satz 5 EStG mit einer Bescheinigung der zuständigen ausländischen Steuerbehörde, nämlich mit der von ihr vorgelegten Bescheinigung EU/EWR für das Jahr 2007 vom 10. Juli 2008 nachgewiesen. Den gemäß § 1 Abs. 3 Satz 1 EStG erforderlichen Antrag auf Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig hat die Klin mit Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten an die Bekl vom 18. Januar 2008 gestellt.
B. a) Dem Bestehen eines Kindergeldanspruchs gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 2b i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG steht nicht entgegen, dass im Besteuerungsverfahren keine Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 3 EStG erfolgt ist. Die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i.S.d. § 1 Abs. 3 EStG (i.V.m. § 62 Abs. 1 Nr. 2b EStG) in kindergeldrechtlicher Hinsicht ist von der Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 3 EStG im Besteuerungsverfahren unabhängig. Denn bei der ESt-Festsetzung und der Kindergeldfestsetzung handelt es sich um unterschiedliche Verfahren (zum Nichtbestehen einer Bindungswirkung des ESt-Bescheids für die Kindergeldfestsetzung hinsichtlich der Annahme eines inländischen Wohnsitzes: vgl. BFH-Urteil vom 20. November 2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564 und BFH-Beschluss vom 28. September 2007 III S 28/06 (PKH), BFH/NV 2008, 5; zum Nichtbestehen einer Bindungswirkung des ESt-Bescheids für die Kindergeldfestsetzung hinsichtlich der Berechnung der Einkünfte und Bezüge des Kindes: vgl. BFH-Beschluss vom 22. Februar 2007 III B 70/05, BFH/NV 2007, 1083). Das Gleiche gilt für die Behandlung als unbeschränkt Einkommensteuerpflichtiger im Sinne von § 1 Abs. 3 i.V.m. § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG (BFH-Urteil vom 20. November 2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564; noch offen gelassen im BFH-Urteil vom 12. Januar 2001 VI R 64/98, BFH/NV 2001, 1231; a.A. FG München, Urteil vom 20. Mai 2009 10 K 1995/08, Juris; Wendl, in: Herrmann/Heuer/Raupach, Einkommensteuer- und Körperschaftsteuergesetz, § 62 Rn. 7; Hildesheim, in: Bordewin/Brandt, EStG, § 62 Rn. 56; Felix, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 62 B 72, wonach ein Kindergeldanspruch nach § 1 Abs. 3 EStG voraussetze, dass dem Antrag des Steuerpflichtigen nach § 1 Abs. 3 EStG vom Finanzamt stattgegeben und der Steuerpflichtige als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt werde. Die Kindergeldberechtigung bestehe erst von Beginn des Monats an, in welchem diese Voraussetzungen erfüllt seien). Unter Zugrundlegung der Rechtsprechung des BFH zum Nichtbestehen einer Bindungswirkung des ESt-Bescheids für das kindergeldrechtliche Verfahren (vgl. insbesondere BFH-Urteil vom 20. November 2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564) ist von Folgendem auszugehen:
Die von der Gegenmeinung als Hauptargument angeführte Gesetzesformulierung in § 62 Abs. 1 Nr. 2b EStG „behandelt wird” bedeutet nach Auffassung des erkennenden Senats nicht, dass im Besteuerungsverfahren des Kindergeldantragstellers ebenfalls eine Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig i.S.d. § 1 Abs. 3 EStG erfolgen muss bzw. erfolgt sein muss, sondern ist dem Umstand geschuldet, dass es sich bei der Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nach § 1 Abs. 3 EStG um eine fiktive unbeschränkte ESt-Pflicht handelt. D.h. bei der Behandlung nach § 1 Abs. 3 EStG wird eine natürliche Person nicht unbeschränkt einkommensteuerpflichtig, sondern sie wird nur so behandelt, als wäre sie unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Die dies zum Ausdruck bringende Terminologie des § 1 Abs. 3 EStG wurde von der gesetzlichen Formulierung in § 62 Abs. 1 Nr. 2b EStG folgerichtig übernommen. Würde man – wie die Gegenauffassung – aus der Formulierung „behandelt wird” die Schlussfolgerung ableiten, dass eine entsprechende Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig im Besteuerungsverfahren erfolgen müsse, würde man eine Bindungswirkung der Behandlung im Besteuerungsverfahren für das kindergeldrechtliche Verfahren annehmen, die in der Rechtsprechung des BFH gerade abgelehnt wird.
b) Der Gegenansicht ist auch insoweit nicht zu folgen, als sie die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig gemäß § 1 Abs. 3 EStG von der vorherigen Stellung des Antrags gemäß § 1 Abs. 3 EStG abhängig macht und die Behandlung als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig nur als für die Folgezeit möglich betrachtet. Diese Annahme findet nach Auffassung des Senats in der gesetzlichen Regelung des § 1 Abs. 3 keine Grundlage, so dass der Antrag gemäß § 1 Abs. 3 EStG bis zur Grenze der Festsetzungsverjährung gestellt werden kann (vgl. hierzu L. Schmidt-Heinicke, EStG, 28. Auflage 2009, § 1 Rn. 66: „Eine zeitliche Begrenzung ergibt sich aus allgemeinen Vorschriften …”). Auch wäre der Umstand, dass sich die prozentualen Grenzen bzw. die Betragsgrenzen des § 1 Abs. 3 EStG, die sich auf das jeweilige – volle – Kalenderjahr beziehen, mit dem von der Gegenmeinung angenommenen Monatsprinzip dergestalt, dass die Kindergeldberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2b EStG erst mit dem Beginn des Monats entstünde, in dem dem Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG stattgegeben wurde, nicht zu vereinbaren.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3; 155 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11; 711 bzw. 709 Zivilprozessordnung (ZPO).
Die Revision war wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zuzulassen.