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  • 13.03.2007 · IWW-Abrufnummer 070855

    Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 06.03.2007 – C-292/04

    Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


    URTEIL DES GERICHTSHOFS (Große Kammer)

    6. März 2007(*)

    ?Einkommensteuer ? Steuergutschrift für von inländischen Gesellschaften gezahlte Dividenden ? Art. 56 EG und 58 EG ? Zeitliche Beschränkung der Wirkungen von Urteilen?

    In der Rechtssache C‑292/04

    betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Finanzgericht Köln (Deutschland) mit Entscheidung vom 24. Juni 2004, beim Gerichtshof eingegangen am 9. Juli 2004, in dem Verfahren

    Wienand Meilicke,

    Heidi Christa Weyde,

    Marina Stöffler

    gegen

    Finanzamt Bonn-Innenstadt

    erlässt

    DER GERICHTSHOF (Große Kammer)

    unter Mitwirkung des Präsidenten V. Skouris, der Kammerpräsidenten P. Jann, C. W. A. Timmermans, A. Rosas, K. Lenaerts, R. Schintgen und J. Klučka, des Richters J. N. Cunha Rodrigues, der Richterin R. Silva de Lapuerta sowie der Richter M. Ile?ič, J. Malenovski, U. Lõhmus und E. Levits (Berichterstatter),

    Generalanwalt: A. Tizzano, dann C. Stix-Hackl,

    Kanzler: B. Fülöp und K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsräte,

    aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. September 2005,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    ? von Herrn Meilicke, Frau Weyde und Frau Stöffler, vertreten durch Rechtsanwälte W. Meilicke und R. Portner,

    ? der deutschen Regierung, vertreten durch C. Quassowski, A. Tiemann und R. Stotz als Bevollmächtigte im Beistand von Rechtsanwalt K.‑T. Stopp,

    ? der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch T. Ward, Barrister,

    ? der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Gross und R. Lyal als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge von Generalanwalt Tizzano in der Sitzung vom 10. November 2005,

    aufgrund des Beschlusses vom 7. April 2006 zur Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und auf die mündliche Verhandlung vom 30. Mai 2006,

    unter Berücksichtigung der Erklärungen

    ? von Herrn Meilicke, Frau Weyde und Frau Stöffler, vertreten durch Rechtsanwälte W. Meilicke und D. E. Rabback,

    ? der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma, R. Stotz und V. Rietmeyer als Bevollmächtigte,

    ? der tschechischen Regierung, vertreten durch T. Boček als Bevollmächtigten,

    ? der dänischen Regierung, vertreten durch J. Molde als Bevollmächtigten,

    ? der hellenischen Regierung, vertreten durch K. Georgiadi als Bevollmächtigten,

    ? der spanischen Regierung, vertreten durch J. M. Rodríguez Cárcamo als Bevollmächtigten,

    ? der französischen Regierung, vertreten durch J.‑C. Gracia als Bevollmächtigten,

    ? der ungarischen Regierung, vertreten durch R. Somssich und A. Müller als Bevollmächtigte,

    ? der niederländischen Regierung, vertreten durch M. de Grave als Bevollmächtigten,

    ? der österreichischen Regierung, vertreten durch H. Dossi als Bevollmächtigten,

    ? der schwedischen Regierung, vertreten durch K. Wistrand und A. Falk als Bevollmächtigte,

    ? der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch P. Baker, QC,

    ? der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch K. Gross und R. Lyal als Bevollmächtigte,

    nach Anhörung der Schlussanträge von Generalanwältin Stix‑Hackl in der Sitzung vom 5. Oktober 2006

    folgendes

    Urteil

    Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 56 EG und 58 EG.

    Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen Herrn W. Meilicke sowie Frau H. C. Weyde und Frau M. Stöffler als Erben des am 3. Mai 1997 verstorbenen H. Meilicke einerseits und dem Finanzamt Bonn-Innenstadt (im Folgenden: Finanzamt) andererseits über die Besteuerung von Dividenden, die dem Verstorbenen in den Jahren 1995 bis 1997 von Gesellschaften mit Sitz in Dänemark und in den Niederlanden gezahlt worden waren.

    Rechtlicher Rahmen

    Gemeinschaftsrecht

    Art. 56 Abs. 1 EG im Dritten Teil des EG-Vertrags über die Politiken der Gemeinschaft, Titel III (?Die Freizügigkeit, der freie Dienstleistungs- und Kapitalverkehr?), Kapitel 4 (?Der Kapital- und Zahlungsverkehr?), bestimmt:

    ?Im Rahmen der Bestimmungen dieses Kapitels sind alle Beschränkungen des Kapitalverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen den Mitgliedstaaten und dritten Ländern verboten.?

    In Art. 58 Abs. 1 EG heißt es:

    ?Artikel 56 berührt nicht das Recht der Mitgliedstaaten,

    a) die einschlägigen Vorschriften ihres Steuerrechts anzuwenden, die Steuerpflichtige mit unterschiedlichem Wohnort oder Kapitalanlageort unterschiedlich behandeln,

    ??

    Art. 58 Abs. 3 EG lautet:

    ?Die in den Absätzen 1 und 2 genannten Maßnahmen und Verfahren dürfen weder ein Mittel zur willkürlichen Diskriminierung noch eine verschleierte Beschränkung des freien Kapital- und Zahlungsverkehrs im Sinne des Artikels 56 darstellen.?

    Das in den Jahren 1995 bis 1997 geltende deutsche Recht

    Nach den §§ 1, 2 und 20 des Einkommensteuergesetzes vom 7. September 1990 (BGBl. I 1990 S. 1898) in der durch das Gesetz vom 13. September 1993 (BGBl. I 1993 S. 1569) geänderten Fassung (im Folgenden: EStG) werden Dividenden, die in Deutschland wohnhaften und somit unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Personen zugutekommen, dort als Einkünfte aus Kapitalvermögen besteuert.

    Nach § 27 Abs. 1 des Körperschaftsteuergesetzes vom 11. März 1991 (BGBl. I 1991 S. 638) in der durch das Gesetz vom 13. September 1993 geänderten Fassung wird auf Dividenden, die von in Deutschland unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Kapitalgesellschaften ausgeschüttet werden, Körperschaftsteuer zum Satz von 30 % erhoben. Dies schlägt sich in einer Ausschüttung von 70 % der Erträge vor Steuern und einer Steuergutschrift in Höhe von 30/70, also 3/7, der erhaltenen Dividenden nieder.

    Nach § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG gilt diese Steuergutschrift nur für Dividenden, die von in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtigen Kapitalgesellschaften stammen. Folglich kommen die in Deutschland unbeschränkt Einkommensteuerpflichtigen in den Genuss dieser Steuergutschrift, wenn sie Dividenden von deutschen Gesellschaften erhalten, nicht aber, wenn sie Dividenden von ausländischen Gesellschaften erhalten.

    Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefrage

    Der verstorbene H. Meilicke, der in Deutschland wohnhaft war, besaß Aktien von Gesellschaften mit Sitz in den Niederlanden und in Dänemark. In den Jahren 1995 bis 1997 erhielt er darauf Dividenden in Höhe von insgesamt 39 631,32 DM, d. h. 20 263,17 Euro.

    Mit Schreiben vom 30. Oktober 2000 beantragten die Kläger des Ausgangsverfahrens beim Finanzamt eine Steuergutschrift in Höhe von 3/7 dieser Dividenden, die auf die für H. Meilicke veranlagte Einkommensteuer angerechnet werden sollte.

    Das Finanzamt lehnte diesen Antrag mit der Begründung ab, dass nur die Körperschaftsteuer, die eine in Deutschland unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtige Gesellschaft belaste, auf die Einkommensteuer angerechnet werden könne.

    Dagegen erhoben die Kläger des Ausgangsverfahrens Klage beim Finanzgericht Köln.

    Vor diesem Hintergrund hat das Finanzgericht Köln beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Frage zur Vorabentscheidung vorzulegen:

    Ist § 36 Abs. 2 Nr. 3 EStG, wonach nur die Körperschaftsteuer einer unbeschränkt körperschaftsteuerpflichtigen Körperschaft oder Personenvereinigung in Höhe von 3/7 der Einnahmen im Sinne des § 20 Abs. 1 Nr. 1 oder 2 EStG auf die Einkommensteuer angerechnet wird, mit Art. 56 Abs. 1 EG und Art. 58 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 EG vereinbar?

    Zur Vorlagefrage

    Zur Beantwortung der Frage

    Wie von den Klägern des Ausgangsverfahrens hervorgehoben, hat das Finanzgericht Köln sein Vorabentscheidungsersuchen vor Verkündung des Urteils vom 7. September 2004, Manninen (C‑319/02, Slg. 2004, I‑7477), vorgelegt.

    In Randnr. 54 des Urteils Manninen kam der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass bei der Berechnung einer Steuergutschrift für einen in Finnland unbeschränkt steuerpflichtigen Aktionär, der Dividenden von einer Gesellschaft mit Sitz in Schweden empfangen hat, die von der in diesem anderen Mitgliedstaat ansässigen Gesellschaft tatsächlich entrichtete Steuer berücksichtigt werden muss, wie sie sich aus den auf die Berechnung der Besteuerungsgrundlage anwendbaren allgemeinen Regeln und aus dem Satz der Körperschaftsteuer im letztgenannten Mitgliedstaat ergibt.

    Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergibt sich, dass der Körperschaftsteuersatz in den betreffenden Jahren in Dänemark 34 % und in den Niederlanden 35 % betrug. Die Kläger des Ausgangsverfahrens haben in ihren Erklärungen vor dem Gerichtshof klargestellt, dass der bei der deutschen Finanzverwaltung gestellte Antrag somit dahin verstanden werden müsse, dass eine Steuergutschrift nicht in Höhe von 3/7 der Einkünfte im Sinne des § 20 Abs. 1 Nrn. 1 oder 2 EStG beansprucht werde, sondern in Höhe von 34/66 dieser Einkünfte für die Dividenden dänischer Herkunft und in Höhe von 35/65 für die Dividenden niederländischer Herkunft.

    Die deutsche Regierung, die geltend macht, das Urteil Manninen sei auf den Ausgangsrechtsstreit nicht übertragbar, führt aus, dass im Rahmen des Vollanrechnungsverfahrens, das das deutsche Recht für die Ausschüttung von Dividenden inländischen Ursprungs vorsehe, der Bruchteil von 3/7 der von den deutschen Vorschriften berücksichtigten Dividenden keine Pauschalanrechnung darstelle, sondern durch die Höhe des Körperschaftsteuersatzes von 30 % bei Ausschüttung von Dividenden bedingt sei. Bei einer Ausschüttung von Dividenden ausländischen Ursprungs könne somit eine Steuergutschrift in Höhe von 3/7 der empfangenen Dividenden, die nicht an den Steuersatz anknüpfe, der nach dem Körperschaftsteuerrecht des Sitzmitgliedstaats der die Dividenden ausschüttenden Gesellschaft für die ausgeschütteten Gewinne gelte, nicht gewährt werden.

    Unter diesen Umständen ist die Vorlagefrage so zu verstehen, dass das vorlegende Gericht damit im Wesentlichen wissen möchte, ob die Art. 56 EG und 58 EG dahin auszulegen sind, dass sie einer Steuerregelung entgegenstehen, nach der bei einer Ausschüttung von Dividenden durch eine Kapitalgesellschaft ein in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtiger Anteilseigner dann in den Genuss einer Steuergutschrift kommt, die nach Maßgabe des für die ausgeschütteten Gewinne geltenden Körperschaftsteuersatzes berechnet wird, wenn die ausschüttende Gesellschaft ihren Sitz im selben Mitgliedstaat hat, nicht aber dann, wenn sie ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.

    Nach ständiger Rechtsprechung fallen die direkten Steuern zwar in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten, doch müssen diese ihre Befugnisse unter Wahrung des Gemeinschaftsrechts ausüben (Urteile vom 29. April 1999, Royal Bank of Scotland, C‑311/97, Slg. 1999, I‑2651, Randnr. 19, und Manninen, Randnr. 19).

    Eine Steuerregelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche stellt aber eine Beschränkung im Sinne des Art. 56 EG dar.

    Die Steuergutschrift nach der im Ausgangsverfahren streitigen deutschen Steuerregelung soll nämlich entsprechend derjenigen nach der im Urteil Manninen dargestellten finnischen Steuerregelung die Doppelbesteuerung der an die Aktionäre ausgeschütteten Gewinne deutscher Gesellschaften dadurch verhindern, dass die von der Dividenden ausschüttenden Gesellschaft geschuldete Körperschaftsteuer auf die vom Aktionär geschuldete Einkommensteuer auf Kapitaleinkünfte angerechnet wird. Ein solches System führt dazu, dass letzten Endes die Dividenden beim Aktionär nur noch besteuert werden, soweit sie nicht bereits als ausgeschüttete Gewinne bei der Gesellschaft besteuert worden sind (vgl. in diesem Sinne Urteil Manninen, Randnr. 20).

    Da die Steuergutschrift nur für Dividenden gilt, die von Gesellschaften mit Sitz in Deutschland ausgeschüttet werden, benachteiligt diese Regelung die in diesem Mitgliedstaat unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Personen, die Dividenden von Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten beziehen. Diese Personen werden nämlich besteuert, ohne dass auf die von ihnen zu entrichtende Steuer auf Kapitaleinkünfte die von diesen Gesellschaften in ihrem Sitzstaat geschuldete Körperschaftsteuer angerechnet wird (vgl. in diesem Sinne Urteil Manninen, Randnr. 20).

    Dies hat zur Folge, dass die im Ausgangsverfahren streitige Steuerregelung die in Deutschland unbeschränkt Einkommensteuerpflichtigen davon abhalten kann, ihr Kapital in Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten anzulegen.

    Umgekehrt kann sich diese Regelung gegenüber den letztgenannten Gesellschaften beschränkend auswirken, weil sie sie darin behindert, in Deutschland Kapital zu sammeln. Da nämlich die Dividenden nicht deutscher Herkunft steuerlich ungünstiger behandelt werden als die von Gesellschaften mit Sitz in Deutschland ausgeschütteten Dividenden, sind die Aktien in anderen Mitgliedstaaten niedergelassener Gesellschaften für in Deutschland wohnhafte Anleger weniger attraktiv als die Aktien von Gesellschaften, die ihren Sitz in diesem Mitgliedstaat haben (vgl. Urteile vom 6. Juni 2000, Verkooijen, C‑35/98, Slg. 2000, I‑4071, Randnr. 35, Manninen, Randnr. 23, und vom 12. Dezember 2006, Test Claimants in the FII Group Litigation, C‑446/04, Slg. 2006, I‑0000, Randnr. 64).

    Die deutsche Regierung macht unter Berufung auf die Urteile vom 28. Januar 1992, Bachmann (C‑204/90, Slg. 1992, I‑249) und Kommission/Belgien (C‑300/90, Slg. 1992, I‑305), geltend, die im Ausgangsverfahren in Rede stehende Regelung sei durch die Notwendigkeit gerechtfertigt, die Kohärenz des nationalen Steuersystems zu wahren.

    Nach ständiger Rechtsprechung kann zum einen ein auf eine solche Rechtfertigung gestütztes Vorbringen nur dann Erfolg haben, wenn ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der betreffenden Steuervergünstigung und dem Ausgleich dieser Vergünstigung durch eine bestimmte Abgabe dargetan ist (Urteil Manninen, Randnr. 42).

    Zum anderen ist das auf die Notwendigkeit der Wahrung der Kohärenz einer Steuerregelung gestützte Vorbringen an dem Ziel zu messen, das mit der fraglichen Steuerregelung verfolgt wird (Urteil Manninen, Randnr. 43).

    Selbst wenn die deutsche Steuerregelung auf einem Zusammenhang zwischen der Steuervergünstigung und der ausgleichenden Abgabe beruht, indem danach die in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Aktionären gewährte Steuergutschrift nach Maßgabe der Körperschaftsteuer berechnet wird, die die in diesem Mitgliedstaat niedergelassene Gesellschaft auf die von ihr ausgeschütteten Gewinne zu entrichten hat, erscheint eine solche Regelung doch nicht für die Wahrung der Kohärenz des deutschen Steuersystems erforderlich (vgl. in diesem Sinne Urteil Manninen, Randnr. 45).

    Mit der deutschen Steuerregelung wird nämlich das Ziel verfolgt, die Doppelbesteuerung von Gesellschaftsgewinnen zu verhindern, die in Form von Dividenden ausgeschüttet werden. Im Hinblick auf dieses Ziel bleibt die Kohärenz des deutschen Steuersystems gewährleistet, soweit der Zusammenhang zwischen der dem Aktionär gewährten Steuervergünstigung und der geschuldeten Körperschaftsteuer aufrechterhalten wird. Würde in einem Fall wie dem des Ausgangsverfahrens einem in Deutschland unbeschränkt einkommensteuerpflichtigen Aktionär einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat eine Steuergutschrift gewährt, die nach Maßgabe der von dieser Gesellschaft im letztgenannten Mitgliedstaat geschuldeten Körperschaftsteuer berechnet wird, so würde dies demnach die Kohärenz des deutschen Steuersystems nicht in Frage stellen und würde den freien Kapitalverkehr weniger beschränken als die in der deutschen Steuerregelung vorgesehene Maßnahme (vgl. entsprechend Urteil Manninen, Randnr. 46).

    Zwar kann die Gewährung einer Steuergutschrift für in einem anderen Mitgliedstaat geschuldete Körperschaftsteuer dazu führen, dass sich die Steuereinnahmen der Bundesrepublik Deutschland in Bezug auf Dividenden, die von Gesellschaften mit Sitz in anderen Mitgliedstaaten gezahlt werden, verringern. Nach ständiger Rechtsprechung kann jedoch der Rückgang von Steuereinnahmen nicht als zwingender Grund des Allgemeininteresses betrachtet werden, der zur Rechtfertigung einer grundsätzlich gegen eine Grundfreiheit verstoßenden Maßnahme angeführt werden kann (Urteile Verkooijen, Randnr. 59, und Manninen, Randnr. 49).

    Nach alledem ist auf die Vorlagefrage zu antworten, dass die Art. 56 EG und 58 EG dahin auszulegen sind, dass sie einer Steuerregelung entgegenstehen, nach der bei einer Ausschüttung von Dividenden durch eine Kapitalgesellschaft ein in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtiger Anteilseigner dann in den Genuss einer Steuergutschrift kommt, die nach Maßgabe des für die ausgeschütteten Gewinne geltenden Körperschaftsteuersatzes berechnet wird, wenn die ausschüttende Gesellschaft ihren Sitz im selben Mitgliedstaat hat, nicht aber dann, wenn sie ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.

    Zur zeitlichen Wirkung des vorliegenden Urteils

    Die deutsche Regierung hat in ihren Erklärungen die Möglichkeit angesprochen, dass der Gerichtshof die zeitliche Wirkung des vorliegenden Urteils beschränkt, wenn er feststellen sollte, dass eine nationale Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende mit den Art. 56 EG und 58 EG unvereinbar ist.

    Zur Begründung ihres Ersuchens hat die deutsche Regierung den Gerichtshof zum einen auf die schwerwiegenden finanziellen Folgen aufmerksam gemacht, die ein Urteil mit einer solchen Feststellung nach sich ziehen würde. Zum anderen hat sie geltend gemacht, die Bundesrepublik Deutschland habe bis zur Verkündung des Urteils Verkooijen davon ausgehen dürfen, dass die streitige Regelung mit dem Gemeinschaftsrecht in Einklang stehe.

    Nach ständiger Rechtsprechung wird durch die Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts, die der Gerichtshof in Ausübung seiner Befugnisse aus Art. 234 EG vornimmt, erläutert und verdeutlicht, in welchem Sinne und mit welcher Tragweite diese Vorschrift seit ihrem Inkrafttreten zu verstehen und anzuwenden ist oder gewesen wäre. Daraus folgt, dass die Gerichte die Vorschriften in dieser Auslegung auch auf Rechtsverhältnisse, die vor Erlass des auf das Ersuchen um Auslegung ergangenen Urteils entstanden sind, anwenden können und müssen, wenn alle sonstigen Voraussetzungen für die Anrufung der zuständigen Gerichte in einem die Anwendung dieser Vorschriften betreffenden Streit vorliegen (vgl. u. a. Urteile vom 3. Oktober 2002, Barreira Pérez, C‑347/00, Slg. 2002, I‑8191, Randnr. 44, und vom 17. Februar 2005, Linneweber und Akritidis, C‑453/02 und C‑462/02, Slg. 2005, I‑1131, Randnr. 41).

    Der Gerichtshof kann sich nur ausnahmsweise gemäß dem der Gemeinschaftsrechtsordnung innewohnenden allgemeinen Grundsatz der Rechtssicherheit veranlasst sehen, die Möglichkeit für alle Betroffenen einzuschränken, sich auf eine von ihm vorgenommene Auslegung einer Bestimmung zu berufen, um in gutem Glauben begründete Rechtsverhältnisse in Frage zu stellen (vgl. u. a. Urteile vom 23. Mai 2000, Buchner u. a., C‑104/98, Slg. 2000, I‑3625, Randnr. 39, sowie Linneweber und Akritidis, Randnr. 42).

    Außerdem kann eine solche Einschränkung nach der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs nur in dem Urteil selbst vorgenommen werden, in dem über die erbetene Auslegung entschieden wird (Urteile vom 2. Februar 1988, Barra, 309/85, Slg. 1988, 355, Randnr. 13, und Blaizot, 24/86, Slg. 1988, 379, Randnr. 28, vom 16. Juli 1992, Legros u. a., C‑163/90, Slg. 1992, I‑4625, Randnr. 30, vom 15. Dezember 1995, Bosman u. a., C‑415/93, Slg. 1995, I‑4921, Randnr. 142, und vom 9. März 2000, EKW und Wein & Co., C‑437/97, Slg. 2000, I‑1157, Randnr. 57).

    Die zeitliche Wirkung der vom Gerichtshof auf ein Ersuchen hin vorgenommenen Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts muss sich nämlich notwendig nach einem einheitlichen Zeitpunkt bestimmen. Insoweit stellt der Grundsatz, dass eine Beschränkung nur in dem Urteil selbst erfolgen kann, in dem über die erbetene Auslegung entschieden wird, die Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten und der Einzelnen in Ansehung des Gemeinschaftsrechts sicher und erfüllt damit die Anforderungen, die sich aus dem Grundsatz der Rechtssicherheit ergeben.

    Die Auslegung, um die das vorlegende Gericht ersucht, betrifft die steuerliche Behandlung, die ein Mitgliedstaat im Rahmen eines nationalen Systems zur Verhinderung oder Abmilderung der wirtschaftlichen Doppelbesteuerung für Dividenden gewähren muss, die von einer Gesellschaft mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat ausgeschüttet werden. In dieser Hinsicht ergibt sich aus Randnr. 62 des Urteils Verkooijen, dass das Gemeinschaftsrecht einer Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats entgegensteht, die die Gewährung einer Befreiung von der Einkommensteuer auf Dividenden, die an natürliche Personen, die Anteilseigner sind, gezahlt werden, von der Voraussetzung abhängig macht, dass die Dividenden zahlende Gesellschaft ihren Sitz in diesem Mitgliedstaat hat.

    Der Gerichtshof hat aber die zeitliche Wirkung des Urteils Verkooijen nicht beschränkt.

    Im Übrigen sind die im Urteil Verkooijen aufgestellten Grundsätze, mit denen somit die Anforderungen klargestellt wurden, die sich aus dem Grundsatz des freien Kapitalverkehrs für Dividenden ergeben, die Inländer von ausländischen Gesellschaften empfangen, in den Urteilen vom 15. Juli 2004, Lenz (C‑315/02, Slg. 2004, I‑7063), und Manninen bestätigt worden (vgl. auch Urteil Test Claimants in the FII Group Litigation, Randnr. 215).

    Daher ist die zeitliche Wirkung des vorliegenden Urteils nicht zu beschränken.

    Kosten

    Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.

    Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Große Kammer) für Recht erkannt:

    Die Art. 56 EG und 58 EG sind dahin auszulegen, dass sie einer Steuerregelung entgegenstehen, nach der bei einer Ausschüttung von Dividenden durch eine Kapitalgesellschaft ein in einem Mitgliedstaat unbeschränkt steuerpflichtiger Anteilseigner dann in den Genuss einer Steuergutschrift kommt, die nach Maßgabe des für die ausgeschütteten Gewinne geltenden Körperschaftsteuersatzes berechnet wird, wenn die ausschüttende Gesellschaft ihren Sitz im selben Mitgliedstaat hat, nicht aber dann, wenn sie ihren Sitz in einem anderen Mitgliedstaat hat.

    Quelle: Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften in L-2925 Luxemburg

    RechtsgebieteEG-Vertrag, EStGVorschriftenArt. 56, 58 EG; §§ 1, 2, 20, 36 EStG, § 27 KStG