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  • 10.09.2012

    Finanzgericht Rheinland-Pfalz: Urteil vom 09.08.2012 – 6 K 1462/11

    1. Ein Arbeitnehmer, der in einem anderen EU-Staat beschäftigt ist und dort mit seiner Familie wohnt, der jedoch eine weitere Wohnung im Inland beibehalten hat, in der er seinen Urlaub und die Familie die Schulferien verbringt, hat dort einen - weiteren - Wohnsitz.

    2. Aus der Befugnis des nicht zuständigen EU-Staates zur Gewährung von Familienleistungen folgt kein Anspruch des Inhabers eines Nebenwohnsitzes auf Gewährung von Kindergeld.


    Tatbestand

    Streitig ist, ob der Kläger die Voraussetzungen des § 62 EStG erfüllt.

    Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger. Er ist der Vater der am 25.06.1999 geborenen P und der am 08.12.2007 geborenen A. Seit 1977 bewohnt er eine Einliegerwohnung im Haus seiner Eltern in K, H-Straße Hausnummer. Ab November 2005 war er arbeitslos. Seit dem 01.06.2006 ist er in der ...er Niederlassung der Firma P (in Tschechien) beschäftigt. Die Ehefrau des Klägers wohnt mit beiden Kindern in P (Tschechien); P besucht dort die deutsche Schule.

    Dem Kläger war im Jahr 2006 für P Kindergeld gewährt worden. Nachdem die beklagte Familienkasse zu der Beurteilung gelangt war, dass dem Kläger ab Juli 2006 für P kein Kindergeld mehr zustehe, hob sie mit Bescheid vom 01.05.2009 die Kindergeldfestsetzung auf und forderte den überzahlten Betrag für die Zeit von Juli 2006 bis September 2008 in Höhe von 4.158 € zurück. Als Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung wurde § 70 Abs. 2 EStG angegeben.

    Seinen dagegen gerichteten Einspruch begründete der Kläger zunächst damit, dass die Voraussetzungen des § 70 Abs. 2 EStG nicht vorgelegen hätten, denn die Verhältnisse hätten sich nicht geändert; bereits bei Bewilligung des Kindergeldes habe er in P gearbeitet.

    Zudem lägen aber auch die Anspruchsvoraussetzungen vor. Der Kläger habe einen Wohnsitz i. S. des § 8 AO in K. Er habe die Einliegerwohnung unter Umständen inne, die darauf schließen ließen, dass er die Wohnung beibehalten und nutzen werde. Er nutze die Wohnung auch mit einer gewissen Regelmäßigkeit. Er habe nie beabsichtigt, seinen Wohnsitz nach P zu verlegen und betrachte K weiterhin als seinen Lebensmittelpunkt. Er habe die Stelle in P lediglich angenommen, um nicht mehr arbeitslos zu sein. Während des Urlaubs und der Schulferien halte die Familie sich stets in K auf.

    Die Frage des Wohnsitzes könne für die Beurteilung der unbeschränkten Steuerpflicht nicht anders beantwortet werden als für die Kindergeldberechtigung.

    Die Beklagte hat den Einspruch mit Einspruchsentscheidung vom 06.02.2009 als unbegründet zurückgewiesen.

    Zur Begründung führte sie aus, ein Wohnsitz setze zum Wohnen geeignete Räume voraus, über die der Steuerpflichtige tatsächlich verfügen könne und die er nicht nur vorüber gehend nutze. Diese und die weiteren Voraussetzungen des § 62 EStG für die Anspruchsberechtigung lägen im Streitfall nicht vor. Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung sei § 173 Abs. 1 AO.

    Zur Begründung seiner Klage wiederholt der Kläger sein Vorbringen im Einspruchsverfahren und beruft sich auf das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 09.02.2010 - 4 K 5221/08. Ergänzend trägt er vor, gegen das Urteil des BFH vom 19.11.2008 - III R 108/06, mit dem der BFH entschieden habe, dass der Gesetzgeber nicht verpflichtet gewesen sei, eine Vertrauensschutzregelung zu schaffen, sei Verfassungsbeschwerde erhoben worden. Er beantrage, das Verfahren bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts ruhen zu lassen.

    Der Kläger beantragt,

    den Bescheid vom 5. Januar 2009 über die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung von Kindergeld in Höhe von 4.158 € sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 6. Februar 2009 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger Kindergeld für seine beiden Kinder ab Oktober 2008 zu gewähren,

    hilfsweise, die Revision zuzulassen.

    Die Beklagte beantragt,

    die Klage abzuweisen,

    hilfsweise, die Revision zuzulassen.

    Sie trägt ergänzend zu ihren Ausführungen in der Einspruchsentscheidung vor, es genüge nicht dass der Kläger und seine Familie die von seinen Eltern unentgeltlich zur Verfügung gestellte Einliegerwohnung als Ferienwohnung nutzen würden.

    Das BFH-Urteil vom 19.11.2008 - III R 108/06 sei grundsätzlich anzuwenden. Dem Ruhen des Verfahrens werde zugestimmt.

    Mit Beschluss vom 24.07.2009 wurde das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in dem Verfahren 2 BvR 292/09 angeordnet. Nachdem das Verfahren 2 BvR 292/09 sich aufgrund des Erlasses der Rückforderung des Kindergeldes erledigt hatte, wurde das Verfahren wieder aufgenommen.

    Gründe

    1. Die Änderung kann auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützt werden. Die Tatsache, dass der Kläger nach Tschechien verzogen war, wurde nachträglich bekannt. Dass zunächst eine andere Rechtsgrundlage für den Bescheid angegeben wurde, ist unschädlich.

    Nach dem Urteil des BFH vom 19.11.2008 - III R 108/06 war der Gesetzgeber nicht verpflichtet, eine Vertrauensschutzregelung einzuführen.

    Der Billigkeitserlass in dem Fall, über den der BFH zu entscheiden hatte, beruhte nicht auf einem zu schützenden Vertrauen des dortigen Klägers, sondern darauf, dass das Kindergeld bei der Berechnung der Sozialhilfeleistungen berücksichtigt worden war und eine nachträgliche Korrektur dieser Leistungen nicht mehr möglich war. Dieser Fall ist hier nicht gegeben.

    2. Gemäß § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG hat Anspruch auf Kindergeld, wer im Inland einen Wohnsitz hat.

    Die alternativen Anspruchsvoraussetzungen des § 62 EStG sind im Streitfall unstreitig nicht gegeben.

    Mit dem Begriff „Wohnsitz” ist der Begriff i.S. des § 8 AO gemeint (Greite in Korn/Carlé/Stahl/Strahl § 62 EStG, Rz. 14; Dürr in Frotscher § 62 EStG, Rz. 4, so auch Buciek in Beermann/Gosch § 8 AO, Rz. 1).

    Gemäß § 8 AO erfordert der Wohnsitz

    objektiv die Eignung der Räume zum Wohnen

    subjektiv die Bestimmung zum Wohnen (innehaben der Wohnung unter Umständen, die darauf schließen lassen, dass der Stpfl. die Wohnung beibehalten und benutzen wird)

    Eine Person kann nach dieser Definition mehrere Wohnsitze haben; § 8 AO differenziert nicht zwischen Haupt- und Nebenwohnsitz. Ebenso wenig ist es relevant, wo sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen befindet (Buciek in Beermann/Gosch § 8 AO, Rz. 10 m.w.N.).

    Es kommt auf die Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles an; die melderechtlichen Angaben sind hierbei ebenso Indizien wie die Veranlagung zur Einkommensteuer.

    Im Streitfall ist die objektive Eignung der Einliegerwohnung im Hause der Eltern des Klägers zum Wohnen für ihn und seine Familie gegeben. Der Kläger hat die Grundriss-Pläne vorgelegt (Bl. 118, 119 Prozessakte), aus denen sich ergibt, dass die Räume im Untergeschoss 40,97 m umfassen und im Wesentlichen aus einem Wohnraum, einem Schlafzimmer, einem Duschbad und einer Kochnische bestehen. Hinzu kommen zwei Kinderzimmer im Dachgeschoss sowie weiterer zu Wohnraum ausgebauter Speicherraum.

    Dieser Wohnraum steht dem Kläger und seiner Familie auch zur dauernden Nutzung zur Verfügung. Damit hat der Kläger die Wohnung inne. Da eine gesicherte Rechtsposition nicht Voraussetzung ist (Buciek a.a.O. Rz. 22), genügt die unentgeltliche Überlassung.

    Die Wohnung ist auch subjektiv zum Bewohnen bestimmt.

    Eine einen Wohnsitz begründende Nutzung setzt nicht voraus, dass die maßgeblichen Personen sich dauernd oder während einer Mindestzeit in der Wohnung aufhalten; auch eine Ferienwohnung kann zur Begründung eines (Neben-)Wohnsitzes führen, wenn sie mit einer gewissen Regelmäßigkeit aufgesucht wird, die über eine normale Nutzung als Ferienquartier hinaus geht (Buciek a.a.O. Rz. 27, 41, 49 „Wochenendhaus” m.w.N.).

    Nach diesen Grundsätzen ist hinsichtlich der Wohnung in K ein Zweitwohnsitz des Klägers und seiner Familie zu bejahen.

    Der Kläger ist ausschließlich wegen seiner Tätigkeit in Tschechien mit seiner Familie nach Tschechien gezogen. Zwar hat die Familie dort ihren Lebensmittelpunkt begründet, die Kinder besuchen dort eine (deutsche) Schule. Er verbringt jedoch seine gesamte freie Zeit mit der Familie in K, er selbst während seines Urlaubs und die Familie während der Schulferien.

    Diese Nutzung geht über eine übliche Nutzung als Ferienquartier deutlich hinaus. Als üblich sind ca. drei Wochen Urlaubsaufenthalt in einem Ferienquartier anzusehen.

    Zwar hat der BFH mit Urteil vom 12.01.2001 - VI R 64/98 entschieden, dass eine in Griechenland mit ihren Kindern lebende Mutter, die sich zwei bis drei mal im Jahr für jeweils zwei bis drei Wochen in ihrer unentgeltlich überlassenen Wohnung in Deutschland aufhält, dort keinen Wohnsitz hat, da es sich lediglich um eine Nutzung als Ferienwohnung handelt.

    Die Rechtsprechung hierzu erscheint jedoch kasuistisch. So wurde in dem durchaus vergleichbaren Fall, der dem Urteil des BFH vom 28.01.2004 - I R 56/02 zugrunde lag, die unbeschränkte Steuerpflicht aufgrund der im wesentlichen in den Ferien genutzten Zweitwohnung in Deutschland bejaht. Abgestellt wurde allein darauf, dass der dortige Kläger mit seiner Familie regelmäßig immer wieder die Wohnung aufsuchte, woraus zu schließen sei, dass die Wohnung beibehalten und benutzt würde.

    Auch Schwarz (in Schwarz § 8 AO, Rz. 4) äußert Bedenken hinsichtlich dieser möglicherweise widersprüchlichen Rechtsprechung und weist - zu Recht - darauf hin, dass die Absicht des Beibehaltens und Benutzens auch bei Zweitwohnungen vorliegen kann.

    Soweit der BFH im Urteil vom 12.01.2001 - VI R 64/98 in Anlehnung an die Recht-sprechung des BSG darauf abstellt, dass die Zweitwohnung nicht als ständige Bleibe genutzt wird, entspricht dieses Kriterium nicht der Wohnsitzdefinition des § 8 AO.

    Auch im Streitfall lassen die Verhältnisse darauf schließen, dass der Kläger die Wohnung beibehalten und auch künftig benutzen will. Nach diesen - entscheidenden - Kriterien liegt ein (weiterer) Wohnsitz im Sinne des § 8 AO vor.

    Dass der Kläger in Deutschland nicht zur Einkommensteuer veranlagt wird, ist lediglich ein Indiz gegen den Wohnsitz, welches aber für den Streitfall nicht den Ausschlag zu geben vermag.

    Da für die Person des Klägers ein Wohnsitz in K gegeben ist, erfüllt er die Anforderungen des § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG.

    Hinsichtlich der übrigen Familienmitglieder bedarf es diesbezüglich keiner Feststellungen; Im Rahmen der Prüfung der Voraussetzungen des § 62 EStG bedarf es für die Kinder des Klägers bezüglich des Wohnsitzes im Inland keiner Feststellungen, denn die Kinder haben ihren Wohnsitz in der EU und sind damit zu berücksichtigen (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

    3. Für den streitigen Zeitraum war die VO (EWG) 1408/71 anzuwenden.

    3.1.

    Der Kläger ist Arbeitnehmer. Er fällt also gem. Art. 2 in den Anwendungsbereich der VO 1408/71. Diese gilt gem. Art. 4 Buchst. h) auch für Familienleistungen und damit auch für das Kindergeld.

    3.2.

    Nach der Grundregel des Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 Buchst. a) der VO 1408/71 gilt für Arbeitnehmer das Recht des Beschäftigungsstaates, selbst dann, wenn er in einem anderen Staat wohnt.

    Dies ist das Recht Tschechiens.

    Eine der Ausnahmen des Art. 14 ist im Streitfall weder vorgetragen, noch ergibt sich eine Ausnahme aus der Aktenlage. Insbesondere liegt keine Entsendung von nicht mehr als 12 Monaten vor (Art. 14 Abs. 1 Buchst a) i) VO (EWG) 1408/71).

    3.3.

    Die Kollisionsregeln der §§ 73 ff. der VO 1408/71, bzw. Art. 10 DVO 574/72 sind nicht einschlägig.

    Art. 73 regelt den Fall, dass der Arbeitnehmer den Rechtsvorschriften eines Mitgliedsstaates (ausgenommen Frankreich) unterliegt - hier Tschechien - und seine Familienangehörigen in einem anderen Mitgliedstaat wohnen (im Streitfall wäre dies Deutschland). Für diesen Fall regelt Art. 73 die Anwendung der Rechtsvorschriften hier Tschechiens, als ob die Familienangehörigen in Tschechien wohnten.

    Ausgehend davon, dass die gesamte Familie des Klägers einen Nebenwohnsitz in K hat, ergibt sich folgendes:

    Die Familienangehörigen des Klägers wohnen auch - mit Hauptwohnsitz - in Tschechien, also dem Mitgliedstaat, dessen Rechtsvorschriften der Kläger unterfällt. Sie wohnen also in Tschechien, und zwar unabhängig davon, ob sie einen weiteren Wohnsitz in Deutschland haben oder nicht. Wenn sie außerdem auch in Deutschland wohnen, liegen die Voraussetzungen des Art. 73 nicht vor. Die folgt aus der Formulierung „als ob die Familienangehörigen in diesem Staat wohnten”. Art. 73 regelt somit nicht Fälle, in denen der Hauptwohnsitz im Beschäftigungsstaat liegt und lediglich ein Nebenwohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat. Denn in diesem Fall wohnen die Familienmitglieder ja bereits im Beschäftigungsstaat, so dass dies nicht fingiert werden muss.

    Art. 76 regelt den Fall, dass nach Art. 13 das Recht des Beschäftigungsstaates gilt, gleichwohl aber zugleich wegen dortiger Ausübung einer beruflichen Tätigkeit ein Anspruch nach dem Recht des Wohnsitzstaates besteht. Art. 76 setzt eine Kumulation nach Art. 73 voraus und regelt für diesen Fall, dass der Anspruch des Beschäftigungsstaates ruht bis zur Höhe des Anspruchs des Wohnsitzstaates.

    Da ein Fall des Art. 73 nicht vorliegt, greift auch nicht Art. 76 nicht. Es liegt keine Kumulation vor.

    Art. 10 DVO 574/72 regelt die Kollision von Ansprüchen verschiedener Personen in verschiedenen Mitgliedsstaaten und ist für den Streitfall nicht einschlägig. Im Streitfall ergeben sich für beide Eltern Ansprüche auf Familienleistungen nach tschechischem Recht.

    4. Eine Ausnahme vom Ausschluss von Leistungen nach deutschem Recht aufgrund der VO (EWG) 1408/71 besteht nach dem EuGH Urteil vom 20.05.2008 Rs. C-352/06 Bosmann. Für den Fall, dass nach dem Recht des nach der VO 1408/71 zuständigen Beschäftigungsstaates ein Anspruch auf Familienleistungen nicht gegeben ist, ist der andere Staat zur Gewährung dieser Leistungen befugt. Der EuGH hat auch den generellen Grundsatz aufgestellt, dass keine Kollision von Leistungsansprüchen vorliegt, wenn nach dem Recht des anderen Staates ein Leistungsanspruch überhaupt nicht gegeben ist.

    Der EuGH leitet dies ab aus dem Grundsatz, dass die Bestimmungen der Verordnung Nr. 1408/71 im Lichte des Art. 42 EG auszulegen sind, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtern soll und u. a. impliziert, dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EG-Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben (Ziff. 29). Er weist sodann darauf hin, dass im ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1408/71 ausgeführt ist, dass die in der Verordnung enthaltenen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zur Freizügigkeit von Personen gehören und zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen sollen (Ziff. 30).

    Das Urteil des EuGH vom 20.05.2008 Rs. C-352/06 betrifft einen Fall, in dem der einzige Wohnsitz des Berechtigten und seiner Kinder in einem anderen als dem Beschäftigungsstaat liegt.

    Das Urteil ist deshalb nicht ohne weiteres übertragbar auf den Fall, dass der Hauptwohnsitz im Beschäftigungsstaat liegt und lediglich ein Nebenwohnsitz in einem anderen Mitgliedstaat (dessen Rechtsanwendung begehrt wird). Hinzu kommt im Streitfall, dass die Kinder ihren Hauptwohnsitz und Lebensmittelpunkt ebenfalls in Tschechien haben.

    Zwar hat der EuGH im Urteil vom 12.06.2012 - Rs. C-611/10 angedeutet, dass das Kriterium des Wohnsitzes des Kindes nicht entscheidend sei für die Befugnis des nicht zuständigen Staates, Kindergeld zu gewähren. Er hat jedoch weiter ausgeführt, dass im Fall Bosmann der Wohnsitz des Wanderarbeitnehmers und seines Kindes besonders enge Anknüpfungspunkte seien. Damit war der alleinige Wohnsitz gemeint. Es erscheint möglicherweise angebracht, das Urteil auch auf Fälle des Hauptwohnsitzes anzuwenden. Eine Ausweitung auf Fälle, in denen lediglich ein Nebenwohnsitz im anderen - nicht zuständigen - Mitgliedstaat besteht, lässt sich aber aus den Gründen (Ziff. 29 und 30 des EuGH-Urteils vom 20.05.2008 Rs. C-352/06) nicht ableiten.

    Der EuGH hat seine Rechtsprechung zur Befugnis des nicht zuständigen Mitgliedsstaates zur Gewährung von Kindergeld fortgeführt mit dem Urteil vom 12.06.2012 Rs. C-611/10 (weiter gehender sozialer Schutz von Wanderarbeitnehmern).

    Als Anknüpfungspunkt für die Befugnis des nicht zuständigen Staates zur Gewährung von Kindergeld wurde die unbeschränkte Steuerpflicht angesehen.

    Soweit das Urteil zur Befugnis des nicht zuständigen Staates, Familienleistungen zu gewähren, für den Fall Stellung nimmt, dass der Wanderarbeitnehmer dort beschäftigt ist, aber im anderen Staat seinen Familienwohnsitz hat und dort Familienleistungen bezieht, ist es nicht einschlägig.

    Auch im Urteil vom 12.06.2012 Rs. C-611/10 betont der EuGH, dass die VO 1408/71 im Lichte des Art. 48 AEUV auszulegen ist. Da die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtert werden soll, impliziert dies, dass Wanderarbeitnehmer nicht Ansprüche verlieren, weil sie von diesem Recht Gebrauch gemacht haben (Ziff. 46).

    Andererseits hebt der EuGH auch den Grundgedanken der VO 1408/71 hervor, eine Kumulierung von Ansprüchen zu vermeiden. Arbeitnehmer sollen stets nur dem System der sozialen Sicherheit eines Mitgliedsstaates unterliegen (Ziff. 41). Dies kann dazu führen, dass ein EU-Bürger sich durch den Wegzug in einen anderen Mitgliedstaat ungünstiger stellt; dies ist mit Art. 48 AEUV vereinbar (Ziff. 43).

    Ob auch der Kläger als Wanderarbeitnehmer im Sinne der Rechtsprechung des EuGH anzusehen ist, ist nicht geklärt. In den vom EuGH entschiedenen Fällen ging es um einen in Polen sozialversicherten Landwirt, der in Deutschland als Saison-Arbeiter tätig war und einen in Polen beschäftigten und sozialversicherten Arbeitnehmer, der nach Deutschland entsendet wurde. Diese Fälle unterscheiden sich von dem Fall der dauerhaften Arbeitsaufnahme in einem anderen EU-Staat.

    Bei der dauerhaften Aufnahme einer Beschäftigung in einem anderen EU-Staat handelt es sich um den Fall, den der EuGH in Ziffer 43 seiner Urteilsgründe meint. Die fehlende Harmonisierung der Rechtsvorschriften (Ziff. 42) bewirkt, dass die Regelungen der VO 1408/71 dazu führen, dass der Berechtigte sich ungünstiger stellt, ohne dass die Grundfreiheit der Freizügigkeit dem entgegen steht. Die Schlechterstellung ist systemimmanent; eine nicht gerechtfertigte Diskriminierung liegt nicht vor. Dass es aufgrund der unterschiedlichen Regelungen der einzelnen Staaten zu unterschiedlichen Leistungen kommt, steht im Einklang mit dem Unionsrecht, da eine Harmonisierung nicht bezweckt ist (Ziff. 42).

    Ob in einem solchen Fall auch eine Befugnis des nicht zuständigen Staates zur Gewährung von Familienleistungen besteht, ist noch nicht geklärt.

    Es ist aber nicht Sinn der Kollisionsregelungen, dass Ansprüche in einem Staat begründet werden, in dem zusätzlich zum Hauptwohnsitz ein Zweitwohnsitz begründet wird. Beim Zweitwohnsitz handelt es sich ungeachtet dessen, dass auch dieser eine unbeschränkte Steuerpflicht begründen kann, um einen wesentlich schwächeren Anknüpfungspunkt als in den Fällen Bosmann und Hudzinski/Wawrzyniak.

    Im Streitfall wurde zwar vorgetragen, dass ein Leistungsanspruch in Tschechien nur bei geringem Einkommen bestehe. Der Kläger habe in Tschechien keinen Kindergeldantrag gestellt, weil er die dortigen Einkommensgrenzen ohnehin überschreite. Selbst wenn in diesem Fall aufgrund der Konstellation „Zweitwohnsitz in Deutschland” nach der EuGH-Rechtsprechung der nicht zuständige Mitgliedstaat Deutschland zur Gewährung von Kindergeld befugt sein sollte, ergibt sich hieraus nicht die Verpflichtung dazu.

    Dies folgt daraus, dass es sich um den typischen Fall des Wegzugs in einen anderen EU-Staat aufgrund dortiger Aufnahme einer Beschäftigung handelt, lediglich mit der Besonderheit, dass der bisherige Wohnsitz als Zweitwohnsitz beibehalten wird.

    Wie die Rechtsprechung des EuGH verfahrensrechtlich umzusetzen ist, ist ebenfalls ungeklärt. Es kommt eine Umsetzung im Festsetzungsverfahren in Betracht. Möglich erscheint allerdings auch ein Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung. Da im Streitfall entweder eine Befugnis Deutschlands zur Gewährung von Familienleistungen zu verneinen ist oder sich aus einer bestehenden Befugnis kein Anspruch des Klägers ergibt, kann dies dahin stehen. Über einen eventuellen Anspruch auf fehlerfreie Ermessensausübung wäre in einem gesonderten Verfahren zu entscheiden (welches nach den hier dargelegten Kriterien nicht zu einem anderen Ergebnis führen würde).

    Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

    Die Zulassung der Revision erfolgte gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO. Hinsichtlich der Annahme eines Wohnsitzes liegt möglicherweise eine Abweichung von der BFH-Rechtsprechung vor. Die Auswirkungen der Rechtsprechung des EuGH zur Befugnis des nicht zuständigen Staates zur Gewährung von Familienleistungen auf das nationale Recht sind ungeklärt.

    VorschriftenAO § 8, EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1