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  • · Fachbeitrag · Direktzugang

    Direktzugang im internationalen Vergleich: Therapeuten können noch nicht diagnostizieren

    von Alexandra Buba M. A., Wirtschaftsjournalistin, Fuchsmühl

    | Der Direktzugang des Patienten zur therapeutischen Leistung ist in anderen Ländern schon seit Jahrzehnten etabliert. In Deutschland gibt es ihn lediglich als Modellprojekt. Hauptgründe dafür sind Vorbehalte der Ärzteschaft, die restriktive Budgetverwaltung des Gesundheitssystems und die Verschiedenheit des Therapeutenberufs im Vergleich zu anderen Ländern. Wissenschaftliche Untersuchungen befassen sich mit den Erfahrungen anderer Länder mit dem Direktzugang und mit der Frage, was geschehen müsste, damit der Direktzugang auch hierzulande möglich wird. |

    Deutsche Therapeuten erkennen kritische Fälle kaum

    Nach einer Studie von Beyerlein (siehe weiterführende Hinweise) sind 75,4 Prozent der deutschen Physiotherapeuten für den Direktzugang, aber nur 61,2 Prozent fühlen sich dafür auch gewappnet. Tests derselben Studie bestätigen dieses Bild: Nur etwa die Hälfte der Therapeuten erkannte, wenn jemand in ärztliche Behandlung gehörte. Nicht einmal ein Fünftel der Therapeuten erkannte die Fälle, die sofort eine Überweisung an den Arzt benötigt hätten. Etwas sicherer in der richtigen Einschätzung waren lediglich Therapeuten mit langjähriger Berufserfahrung oder mit besonderer Fortbildung.

     

    MERKE | Weiter zitiert Beyerlein eine vergleichbare Studie aus den USA: Dort erkannte immerhin etwas mehr als die Hälfte der Therapeuten in allen Fällen, wenn ein Patient unmittelbar einen Arzt aufsuchen musste. Vier von fünf amerikanischen Therapeuten erkannten zumindest einen Teil der kritischen Fälle.

     

    Direktzugang in anderen Ländern: die Erfahrungen

    Als erstes Land führte Australien 1976 den Direktzugang ein. Bis heute dürfen Therapeuten weltweit in sieben Ländern, die zur internationalen Berufsdachorganisation gehören, Patienten ohne ärztliches Rezept behandeln.

     

    • Länder mit Direktzugang
    Land
    Zeitpunkt
    Ausbildung

    Australien

    1976

    Studium

    USA (je nach Bundesstaat)

    1983 (und später)

    siehe PP 07/2010, Seite 12

    Neuseeland

    1992

    Studium

    Schweden

    2004

    Studium

    Finnland

    2005

    Studium

    Niederlande

    2006

    Studium; Direktzugang optional

    Großbritannien

    2006

    Studium

     

    Eine aktuelle Untersuchung von Weeber (siehe weiterführende Hinweise) hat die praktischen Erfahrungen mit dem Direktzugang in diesen Ländern untersucht.

     

    Akzeptanz der Patienten

    Der Direktzugang ist für viele Menschen eine zeitsparende Alternative. In den Niederlanden etwa nutzten unmittelbar nach der Schaffung dieser Möglichkeit im Jahr 2006 knapp 30 Prozent aller Behandelten den direkten Weg zum Therapeuten; drei Jahre später ging über die Hälfte derjenigen, die unter unspezifischen Rückenschmerzen litten, gleich dorthin. Auch die Erfahrungen aus einer Reihe weiterer Länder legen nahe, dass die Akzeptanz der Patienten in aller Regel kein Problem darstellt. Nutzen sie die Möglichkeit des Direktzugangs nicht, dann geschieht dies eher aus Mangel an Information und dem fehlenden Wissen darum.

     

    MERKE | Offenbar vertraut eine Mehrheit der Patienten auf die Kompetenz des Therapeuten und gesteht ihm die Fähigkeit zur Diagnose zu - ganz ungeachtet der Tatsache, ob dies immer der Realität entspricht.

     

    Einsparung von ärztlichen Untersuchungen

    Wenn mehr Menschen mit ihren Beschwerden unmittelbar zum Physiotherapeuten gehen, müsste das gleichzeitig bedeuten, dass sie seltener eine Arztpraxis aufsuchen. Dies lässt sich durch internationale Studien aber nur z. T. belegen. So reduzierte sich etwa in den Niederlanden die zeitliche Auslastung der Ärzte nicht. Eine Studie aus den USA belegt dagegen laut Weeber, dass durch den Direktzugang weniger Röntgen-, Sono- und anderweitige Untersuchungen anfallen. Das spart erhebliche Kosten im System; in diesem Fall hätten sich die Behandlungskosten gar um die Hälfte reduziert. Insgesamt bleibt das Stimmungsbild an dieser Stelle über die verschiedenen Studien hinweg uneinheitlich - aber mit der Tendenz dazu, dass ärztliche Untersuchungen eingespart werden.

     

    Bessere Behandlungserfolge durch Zeitersparnis

    Häufig bestätigen internationale Studien auch, dass der Direktzugang die Behandlungsdauer verkürzt und insgesamt weniger Therapieeinheiten nötig sind - oder das Gegenteil. So stieg etwa in den Niederlanden die Anzahl der physiotherapeutischen Behandlungen durch den Direktzugang eher an, wie Weeber berichtet. Eine andere Studie, die sich mit der Situation in Schottland beschäftigt, belegt dagegen, dass Patienten beim Direktzugang schneller genesen - ganz einfach deshalb, weil sie schneller behandelt werden können. Damit fallen sie auch kürzer am Arbeitsplatz aus, was unmittelbare Auswirkungen auf die Kosten in den Sozialversicherungssystemen hat.

     

    MERKE | Unbestritten ist die Tatsache, dass der Direktzugang tatsächlich dafür sorgt, dass Patienten schneller und unmittelbarer behandelt werden können. Allein dieses Faktum ist ein wesentliches Argument für den Direktzugang - aus Patientensicht. Für Therapeuten und das Gesundheitssystem bringt dieser Aspekt allein keinen unmittelbaren Nutzen.

     

    Ausbildung: Unterschiede zu Deutschland

    Weeber stellt fest, dass die Qualifikationsanforderungen für Physiotherapeuten in Ländern mit Direktzugang höher sind als in Deutschland. „In jedem Land, das einen vollständigen Direktzugang für Physiotherapeuten besitzt, muss jeder Physiotherapeut eine zwölfjährige Schulausbildung mit einem gymnasialen Abschluss absolviert haben. Erst dann ist ein Studium im Fachbereich der Physiotherapie möglich“, schreibt Weeber. Ein akademischer Abschluss sei Voraussetzung für den Physiotherapieberuf; in Australien, Neuseeland, Finnland und Schweden ging die Einführung der entsprechenden Studiengänge dem Direktzugang ganz unmittelbar voraus.

     

    MERKE | In Deutschland lag die Quote der akademisierten Physiotherapeuten bei 2,3 Prozent innerhalb von zehn Jahren. Im internationalen Vergleich stehen die deutschen Physios daher schlecht da, ihnen bescheinigt das Bundesministerium für Bildung von Forschung nur ein durchschnittliches Qualifikationsniveau „4“ in ihrem Beruf, internationaler Durchschnitt sind „6“, möglich wären „8“.

     

    Der größte Unterschied zwischen internationalem Studium und deutscher Berufsausbildung liegt in der Vermittlung von Fächern wie „Diagnostik“ oder „evidenzbasierter Praxis und Forschung“ an den Hochschulen. Diese spielen in der Berufsausbildung keine Rolle und fehlen daher als Handwerkszeug, um Patienten im Direktzugang richtig und wirtschaftlich im Sinne des Sozialversicherungssystems behandeln zu können. Denn nur wer richtig diagnostiziert, gefährdet den Patienten nicht; nur wer die Wirksamkeit bestimmter Therapien kritisch hinterfragen, einschätzen und dies gegebenenfalls in der Fachliteratur verifizieren kann, behandelt zum Wohle des Patienten und des Sozialversicherungssystems effektiv.

     

    Direktzugang: Deutschland ist noch nicht bereit

    In Ländern mit Direktzugang sind die Rahmenbedingungen für Physiotherapeuten weitaus besser geeignet. Um den Direktzugang in Deutschland einzuführen, wären umfassende Reformen notwendig:

     

    Reformbedarf für den Direktzugang in Deutschland
    • Die Ausbildungsinhalte müssen ausgeweitet werden. Besser noch wäre die vollständige Akademisierung. D. h.: Der Direktzugang muss in ferne Zukunft verschoben werden (in anderen Ländern hat die Etablierung 40 Jahre gedauert). Alternative wären umfassende Nachqualifizierungsprogramme für bereits praktizierende Therapeuten.
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    • Die Finanzierung muss angepasst werden. Die gegenwärtige Honorierung der einzelnen therapeutischen Leistungen ist zu gering, um den Aus- und Fortbildungsaufwand zu rechtfertigen: Wer akademisch ausgebildet ist, will auch akademisch bezahlt werden. Das gibt die heutige Finanzierung nicht her.
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    • Eine Differenzierung von Therapeuten mit und ohne Direktzugang ist erforderlich. Denn es würde bei Einführung des Direktzugangs sicher auch Therapeuten geben, die keinen Direktzugang wollen. Gründe dafür könnten hohe Auflagen z. B. an die Weiterqualifikation sein: Länder, die den Direktzugang eingeführt haben, verpflichten Therapeuten auf einen Berufskodex, und stellen weitere Auflagen (z. B. USA: dreijährige Berufserfahrung in einigen Bundesstaaten, Erfüllung eines kontinuierlichen Fortbildungspensums zum Behalt der Direktlizenz; Niederlande: gesonderte Prüfung für Interessenten).
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    • Das Haftungsrecht muss angepasst werden. Wer haftet bei Fehlbehandlung oder nicht zutreffender Diagnostik?
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    • Die bestehenden Arbeitsabläufe in der Praxis müssen hinterfragt werden: So ist z. B. die Vorstellung evidenzbasierten Arbeitens in der deutschen Taktung von 15 bzw. 20 Minuten pro Patient reichlich skurril: Therapeut recherchiert während seiner Arbeitszeit die Sinnhaftigkeit bestimmter Behandlungsmöglichkeiten.
     

    „Es stellt sich die Frage, inwieweit Deutschland für den Direktzugang bereit wäre“, schlussfolgert Weeber. Das deutsche System ist zurzeit Jahrzehnte vom Direktzugang entfernt, wenn man es mit den Strukturen der Länder vergleicht, die eben diesen schon länger eingeführt haben. Es gilt aber auch: Er steht vielleicht am Ende von Reformen, die aus vielfältigen anderen Gründen ohnehin längst überfällig sind.

     

    Weiterführende Hinweise

    • Beyerlein, Claus: Direktzugang in der Physiotherapie - Wie entscheiden sich Physiotherapeuten im Management ihrer Patienten? Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades an der Medizinischen Fakultät der Universität Ulm. München 2010, online unter http://tinyurl.com/yc326uhp
    • Weeber, Sina Juliette: Der physiotherapeutische Direktzugang in Deutschland. Internationaler Vergleich ausbildungsinhaltlicher und struktureller Bedingungen, Springer Verlag 2017, ISBN 978-3-658-16767-7, 39,99 Euro.
    Quelle: Ausgabe 06 / 2017 | Seite 8 | ID 44708953