03.02.2022 · IWW-Abrufnummer 227284
Finanzgericht Düsseldorf: Urtel vom 12.11.2021 – 1 K 2470/14 L
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
Finanzgericht Düsseldorf
Tenor:
Die in der Lohnsteueranmeldung April 2014 vom 09.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.07.2014 festgesetzte Lohnsteuer wird um 1.925,96 € und die hierauf entfallenden Annexsteuern (Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer) werden um 240,72 € gemindert.
Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens I. und II. Instanz.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Der Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
1
Tatbestand
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Die Sache befindet sich im zweiten Rechtsgang.
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Streitig ist, ob die von der Klägerin im Monat April 2014 vorgenommenen Zahlungen von Verwarngeldern wegen des Verstoßes gegen Halteverbote durch die bei ihr angestellten Paketzusteller zu lohnsteuerpflichtigem Arbeitslohn führen.
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Die Klägerin ist ein Tochterunternehmen der im Logistikbereich tätigen A-Gruppe. Sie betreibt im gesamten Bundesgebiet einen Paketzustelldienst.
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Die von der Klägerin als Arbeitnehmer beschäftigten Fahrer haben die Aufgabe, Pakete unmittelbar bei den Kunden der Klägerin abzuholen oder den Kunden Pakete zuzustellen. Um eine möglichst schnelle Zustellung (“24-Stunden-Service“) zu gewährleisten, halten die Fahrer mit ihren Fahrzeugen in unmittelbarer Nähe zu den Kunden. Insbesondere in Innenstädten ist dies jedoch mit den zur Verfügung stehenden Parkmöglichkeiten in straßenverkehrsrechtlich zulässiger Weise nur teilweise möglich. In mehreren Städten hat die Klägerin daher bei den zuständigen Behörden Ausnahmegenehmigungen nach § 46 der Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) beantragt, die ein kurzfristiges Halten zum Be- und Entladen in ansonsten nicht freigegebenen Bereichen wie Halteverbots- oder Fußgängerzonen unter bestimmten Auflagen zum Gegenstand haben. Die Genehmigungen sind kostenpflichtig, gelten nur für ein bestimmtes Fahrzeug und werden für ein Jahr erteilt.
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Sofern eine Ausnahmegenehmigung nicht erhältlich ist, nimmt es die Klägerin zur Gewährleistung eines reibungslosen Betriebsablaufs sowie im Interesse der Kunden im Einzelfall hin, dass die Fahrer ihre Fahrzeuge auch in Haltverbotsbereichen oder Fußgängerzonen kurzfristig anhalten und hierfür gemäß § 56 des Gesetzes über Ordnungswidrigkeiten (OWiG) dann gegebenenfalls Verwarngelder erhoben werden. Die Verwarngelder werden teilweise direkt gegenüber der Klägerin als Halterin festgesetzt. In anderen Fällen wird der Klägerin als Halterin ein Zeugenfragebogen übersandt, mit der Aufforderung zur Vermeidung weiterer Ermittlungen die Personalien des Fahrers mitzuteilen oder das Verwarngeld innerhalb einer Woche zu entrichten. In beiden Varianten leistet die Klägerin die Verwarngelder ohne weitere Prüfung und Identifizierung der jeweiligen Fahrer innerhalb der gesetzten Wochenfrist. Verwarnungs- oder Bußgelder wegen anderer Verstöße ihrer Fahrer gegen die StVO trägt die Klägerin nicht.
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In regelmäßigen Schulungen werden die Fahrer der Zustellfahrzeuge darüber hinaus von der Klägerin angehalten, bei Durchführung ihrer Tätigkeiten die Regeln der StVO einzuhalten.
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Auf der Grundlage des Urteils des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 07.07.2004 ‒ IV R 29/00 (BFHE 208, 104, BStBl II 2005, 367) zog die Klägerin in der Vergangenheit aus der Zahlung der Verwarnungsgelder keine lohnsteuerrechtlichen Konsequenzen.
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Nach dem Ergehen des BFH-Urteils vom 14.11.2013 - VI R 36/12 (BFHE 243, 520, BStBl II 2014, 278) gelangte der Beklagte zu der Auffassung, die Zahlung der auf den Parkverstößen der Fahrer beruhenden Verwarnungsgelder führe bei diesen zu lohnsteuerpflichtigem Arbeitslohn. Die Klägerin meldete daraufhin ‒ entgegen ihrer eigenen Rechtsauffassung - in der Lohnsteuer-Anmeldung April 2014 für diesen Sachverhalt Lohnsteuer in Höhe von 1.925,96 € sowie darauf entfallende Annex-Steuern (Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer) in Höhe von 240,72 € an. Die Lohnsteuer wurde gemäß § 40 Abs. 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) auf Antrag der Klägerin unter Anwendung eines Pauschalsteuersatzes erhoben.
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Gegen die Lohnsteueranmeldung wandte sich die Klägerin mit Einspruch vom 20.05.2014, den der Beklagte in der Einspruchsentscheidung vom 28.07.2014 unter Bezugnahme auf das BFH-Urteil vom 14.11.2013 ‒ VI R 36/12 (BFHE 243, 520, BStBl II 2014, 278) als unbegründet zurückwies. Auf den Inhalt der Einspruchsbegründung und der Einspruchsentscheidung wird Bezug genommen.
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Die anschließende Klage vor dem Finanzgericht (FG) Düsseldorf, Urteil vom 04.11.2016 ‒ 1 K 2470/14 L, hatte Erfolg. Auf die Revision des Beklagten hat der BFH das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache an das FG Düsseldorf zurückverwiesen. In dem zurückverweisenden Urteil vom 13.08.2020 VI R 1/17 (BFHE 270, 317, BStBl II 2021, 103), auf dessen Inhalt verwiesen wird, führt der VI. Senat des BFH unter anderem aus, dass aufgrund der tatsächlichen Feststellungen des FG nicht abschließend geprüft werden könne, ob es am Zufluss eines geldwerten Vorteils bei den Arbeitnehmern der Klägerin fehle. Die Übernahme der pauschalen Lohnsteuer durch den Arbeitgeber setze voraus, dass dem Arbeitnehmer eine in Geldeswert bestehende Einnahme im Sinne des § 19 EStG zugeflossen sei. Das FG sei zwar zutreffend davon ausgegangen, dass im Streitfall die Zahlung der Verwarnungsgelder auf eine eigene Schuld der Klägerin erfolgt sei und daher nicht zu einem Zufluss von Arbeitslohn bei den Arbeitnehmern führen könne, die die Ordnungswidrigkeit begangen hätten. Ungeachtet dessen sei vom FG darüber hinaus jedoch zu prüfen, ob den Fahrern, die einen Parkverstoß begangen hätten, nicht dadurch ein geldwerter Vorteil und damit Arbeitslohn zugeflossen sei, dass die Klägerin ihnen gegenüber einen realisierbaren vertraglichen oder gesetzlichen Rückgriffs- oder Schadenersatzanspruch erlassen habe. Im Falle einer realisierbaren Forderung des Arbeitgebers gegen den Arbeitnehmer fließe Arbeitslohn in dem Zeitpunkt zu, in dem der Arbeitgeber zu erkennen gebe, dass er keinen Rückgriff nehmen werde und sich der Arbeitnehmer hiermit einverstanden erkläre.
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Da die Klägerin selbst geltend mache, ihre Fahrer seien angewiesen, sich auch in solchen Gebieten an die geltenden Verkehrsregeln zu halten, für die eine Ausnahmegenehmigung nicht zu erlangen sei, könne nicht davon ausgegangen werden, dass ein Anspruch der Klägerin wegen einer (Neben-)Pflichtverletzung des Arbeitnehmers zumindest konkludent ausgeschlossen sei.
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Ein gesetzlicher Anspruch der Klägerin aus einer Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683 Satz 1, 670 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -) könne nicht gestützt auf das Vorbringen der Klägerin verneint werden, die Übernahme der Verwarngelder sei im ausschließlich eigenbetrieblichen Interesse der Klägerin erfolgt. Denn dieses Vorbringen stehe im Widerspruch zu ihrem weiteren Vortrag, ihre Fahrer seien angewiesen, sich auch in solchen Gebieten an die geltenden Verkehrsregeln zu halten, für die eine Ausnahmegenehmigung nicht zu erlangen sei.
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Das FG habe deshalb erneut zu prüfen, ob und wenn ja, in welcher Höhe der Klägerin gegen ihre Fahrer wegen der von ihren Fahrern unstreitig begangenen Parkverstößen ein (vertraglicher oder gesetzlicher) Anspruch zustehe. Sollte das FG im zweiten Rechtszug zu dem Ergebnis gelangen, dass der Klägerin wegen der Parkverstöße ein realisierbarer (einredefreier und fälliger) Schadenersatzanspruch gegen den jeweiligen Fahrer zustand, sei ferner der Frage nach dem Zeitpunkt des Erlasses gemäß § 397 BGB, d.h. dem Zufluss des damit einhergehenden geldwerten Vorteils nachzugehen.
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Das Vorliegen von Arbeitslohn könne nicht bereits unter dem Aspekt verneint werden, dass die Zahlung der Verwarngelder ‒ anders als in dem dem BFH-Urteil in BFHE 243, 520, BStBl II 2014, 278 zugrunde liegenden Fall ‒ vorliegend im überwiegend eigenbetrieblichen Interesse der Klägerin erfolgt sei. Der BFH habe im Urteil in BFHE 243, 520, BStBl II 2014, 278 eindeutig zum Ausdruck gebracht, dass ein rechtswidriges Tun keine beachtliche Grundlage einer solchen betriebsfunktionalen Zielsetzung sein könne. Dies gelte auch, soweit es sich - wie vorliegend - bei den Parkverstößen regelmäßig um solche im absoluten Bagatellbereich handele.
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Im zweiten Rechtsgang verfolgen die Beteiligten ihre ursprünglichen Begehren weiter.
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Die Klägerin trägt vor: Bei ihren Fahrern handele es sich zum weit überwiegenden Teil um zertifizierte Berufskraftfahrer, die von Gesetzes wegen an regelmäßigen, aus verschiedenen Modulen bestehenden Weiterbildungen teilnehmen müssten. Die Kosten hierfür trage sie als Arbeitgeberin. Des Weiteren seien alle Niederlassungsleiter bzw. deren Vertreter IHK zertifizierte Verkehrsleiter, die die Fahrer bei Nichteinhaltung der StVO zu einem Gespräch bitten und darauf hinweisen würden, dass die Vorschriften einzuhalten seien. Seitens der Klägerin würden mithin umfangreiche Anstrengungen unternommen, um die Einhaltung der Regeln der StVO einschließlich der Parkregeln und Nutzungsmöglichkeiten für verkehrsberuhigte Zonen zu gewährleisten. Infolge dieser Maßnahmen sowie der Erweiterung der erteilten Ausnahmegenehmigung nach § 46 StVO seien die Verwarngelder in den letzten Jahren signifikant zurückgegangen. Die Tragung der Verwarngelder habe in wirtschaftlicher Sicht an Bedeutung abgenommen.
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Es sei davon auszugehen, dass ihr im Ergebnis gegenüber den schadensverursachenden Arbeitnehmern kein realisierbarer (einredefreier und fälliger) Regressanspruch zustehe. Ein solcher Ersatzanspruch scheitere bereits an einer fehlenden schadensverursachenden Pflichtverletzung der Arbeitnehmer sowie an einem etwaigen eigenen Mitverschulden als Arbeitgeberin. Zudem würde die Durchsetzung von etwaigen Ansprüchen einen Verstoß gegen Treu und Glauben, das Verbot widersprüchlichen Verhaltens sowie das arbeitsrechtliche Gleichbehandlungsgebot darstellen.
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Der Annahme einer schadensersatzauslösenden Pflichtverletzung der Arbeitnehmer stehe die allgemein bekannte Tatsache entgegen, dass insbesondere in innerstädtischen Bereichen ein “chronischer Mangel“ an Park- und Haltemöglichkeiten bestehe. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen würden nicht von sämtlichen Gemeinden Ausnahmegenehmigungen gewährt, um Verwarnungsgelder und relevante Parkverstöße zu vermeiden. Aufgrund des hohen täglichen Zustellkontingents sei es deshalb für die Fahrer trotz aller Bemühungen schwer, die Zustelltätigkeit Tag für Tag ohne jegliche Park- und Halteverbotsverstöße zu erledigen. Die Arbeitsbelastung der Fahrer sowie die enge Wettbewerbssituation machten es erforderlich, einerseits das verkehrswidrige Abstellen der Fahrzeuge soweit es gehe zu vermeiden, jedoch andererseits zur Sicherstellung der wettbewerbsrelevanten Betriebsabläufe gelegentliche unvermeidbare Park- und Halteverstöße der Fahrer zu übernehmen. Aufgrund dieser “Dilemma-Situation“, in der sich die Fahrer und sie ‒ die Klägerin ‒ befänden, fehle es an einer Pflichtverletzung der Fahrer gegenüber ihrem Arbeitgeber.
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Einer Schadensersatzhaftung der Fahrer stehe zudem eine Mitverantwortlichkeit des Arbeitgebers gegenüber, aufgrund derer eine etwaige Pflichtverletzung der Arbeitnehmer entschuldbar sei. Gründe für die Entschuldbarkeit seien beispielsweise das hohe Zustellvolumen für die einzelnen Fahrer, der chronischer Mangel an Park‒ und Haltemöglichkeiten in Großstädten ohne die Möglichkeit einer Ausnahmegenehmigung sowie der enorme Konkurrenzdruck bei der Klägerin trotz intensiver Effizienzverbesserungen zur Optimierung der Zustellmöglichkeiten. In § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB sei ausdrücklich geregelt, dass ein Schadensersatzanspruch wegen Pflichtverletzung entfalle, wenn der Schuldner die Pflichtverletzung nicht zu vertreten habe.
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Ferner fehle es für einen Regressanspruch an dem vom Bundesgerichtshof (BGH) in ständiger Rechtsprechung geforderten “unfreiwilligen“ Vermögensverlust (vgl. BGH-Urteil vom 28.10.2014 ‒ VI ZR 15/14). Eine Unfreiwilligkeit liege im Streitfall nicht vor, weil sie ‒ die Klägerin ‒ aufgrund der wettbewerbsrechtlich erforderlichen Wahrung effizienter Betriebsabläufe sowie im Hinblick auf die unvermeidbare Drucksituation der Fahrer einen werthaltigen Regressanspruch nicht geltend machen könne. Ihr sei bewusst, dass die Fahrer ihr Zustellvolumen nur dann bewältigen könnten, wenn die Fahrzeuge möglichst nah an der jeweiligen Auslieferungsadresse abgestellt würden.
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Einem Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag stehe das Fehlen des erforderlichen Fremdgeschäftsführungswillens entgegen. Die Verwarngelder beruhten zwar auf einem verkehrsrechtlichen Fehlverhalten der einzelnen Fahrer. Sie ‒ die Klägerin ‒ werde jedoch als Halterin der Fahrzeuge in Anspruch genommen. Aufgrund dessen übernehme sie die Zahlung der Verwarngelder aus “eigenem Geschäft“ und nicht in der Absicht, die Arbeitnehmer zu entlasten. Daneben diene die Übernahme der Verwarn-gelder der Gewährleistung eines effizienten Zustellungsprozesses und vermeide einen zeit- sowie kostenintensiven Verwaltungsaufwand, der ansonsten bei der Ermittlung der Fahrer und der vermutlich streitigen Diskussion mit diesen entstehen würde. Insoweit sei auch die deutlich abnehmbare Größenordnung der Kostentragung zu berücksichtigen und das Erfordernis eines reibungslosen Betriebsablaufs.
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Die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruches sei auch nach den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgeschlossen. Sie ‒ die Klägerin ‒ wie auch die Fahrer würden jeweils alles unternehmen, um Verwarngelder zu vermeiden. Dessen ungeachtet komme es zu einzelnen Verstößen, die aber hinsichtlich der Anzahl der Fälle und in der Summe unbedeutend seien und deshalb von ihr als Halterin der Fahrzeuge - so wie es im OWiG angelegt sei - getragen würden. Im Hinblick auf die in der Branche übliche Handhabung sei es treuwidrig, den Fahrern gegenüber einen Anspruch geltend zu machen. Das vertrauensbegründende Verhalten ergebe sich aus der über 30-jährigen Praxis, solche Ansprüche nicht geltend zu machen. Durch die Zahlung der Verwarngelder werde dem jeweiligen Arbeitnehmer zudem jede Möglichkeit genommen, die Rechtsmittel gegen die Verwarngelder auszuschöpfen. Insbesondere die offene Sachverhaltsfrage, ob tatsächlich eine Ordnungswidrigkeit von dem Fahrer begangen worden sei, stehe nach § 242 BGB einem möglichen Anspruch entgegen. Die fehlende Einforderung der originär von den Fahrern geschuldeten Verwarngelder begründe zudem eine betriebliche Übung.
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Die Geltendmachung von Regressansprüchen würde ferner einen Verstoß gegen den arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz darstellen, der ebenfalls zu einer Einrede der Arbeitnehmer führe. Vergleichbare Gruppen seien die Arbeitnehmer in Gemeinden mit und ohne Ausnahmegenehmigung. Ob eine Genehmigung vorliege, sei für die Fahrer nicht per se ersichtlich. Aus Sicht der Fahrer liege eine gleichartige Ordnungswidrigkeit vor. Eine Ungleichbehandlung erfolge dadurch, dass ein Teil der Zusteller durch Versteuerung geldwerter Vorteile, die in keiner Weise den Arbeitnehmern zugutekämen, benachteiligt würde.
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Aus den dargestellten Grundsätzen erschließe sich, dass sich die Fahrer gegen geltend gemachte Regressansprüche unter Einschaltung von Betriebsräten und Gewerkschaften erfolgreich zur Wehr setzten könnten. Zu der Frage, ob ein Schadensersatzanspruch gegenüber den Arbeitnehmern bestehe, gebe es zudem keine gesicherte zivilrechtliche Rechtsprechung. Sie ‒ die Klägerin ‒ müsse deshalb davon ausgehen, dass ein durchsetzbarer Regressanspruch nicht bestehe. Eine weitergehende, insbesondere arbeitsgerichtliche Prüfung sei nicht vorgenommen worden und wirtschaftlich betrachtet auch nicht zu vertreten. Unter Berücksichtigung des bilanzsteuerrechtlichen Realisationsprinzips dürften Forderungen gegenüber den Arbeitnehmern nur aktiviert werden, wenn mit der rechtlichen Entstehung des Anspruchs fest zu rechnen sei.
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Zur Frage bestehender Ersatzansprüche verweist die Klägerin im Übrigen auf das von ihr überreichte arbeitsrechtliche Gutachten des Dr. B vom 18.01.2021, auf das Bezug genommen wird.
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Für den Fall des Bestehens eines Regressanspruches seien die Voraussetzungen für den Zufluss eines geldwerten Vorteils erfüllt. Im April 2014 sei sie ‒ die Klägerin ‒ davon ausgegangen, dass bei Zahlung der Verwarngelder die Möglichkeit realisierbarer Regressansprüche bestanden habe, auf die von ihr verzichtet worden sei.
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Die Klägerin beantragt,
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die festgesetzte Lohnsteuer in der Lohnsteueranmeldung April 2014 vom 09.05.2014 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 28.07.2014 um 2.166,68 € (1.925,96 € Lohnsteuer, 240,72 € Solidaritätszuschlag und Kirchensteuer) zu mindern.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
32
Er trägt vor: Die Voraussetzungen von Regressansprüchen der Klägerin gegen ihre Arbeitnehmer aufgrund ihrer Inanspruchnahme wegen Verstößen gegen die StVO seien erfüllt. Die Klägerin mache selbst geltend, ihrer Fahrer angewiesen zu haben, auch in solchen Gebieten die Regeln der StVO einzuhalten, in denen keine Ausnahmegenehmigung nach § 46 StVO erteilt worden sei. Es bestehe ein Schadensersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 1, 611a BGB aufgrund einer Verletzung nebenvertraglicher Schutzpflichten nach § 241 Abs. 2 BGB. Der Klägerin sei durch das Verhalten ihrer Arbeitnehmer während der Ausführung ihrer Dienstverpflichtung ein Vermögensschaden entstanden. Entgegen der Auffassung der Klägerin sei nicht davon auszugehen, dass Leistung und Gegenleistung sich gleichwertig gegenüberstanden, sondern dass eine Vermögensminderung eingetreten sei.
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Darüber hinaus bestehe auch ein Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag. Ein Fremdgeschäftsführungswille könne auch bei Geschäften, die sowohl objektiv eigene als auch objektiv fremde seien, vorliegen.
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Der Durchsetzung der Regressansprüche stehe keine betriebliche Übung entgegen. Für eine solche sei eine dreimalige Gratifikation durch eine ausdrückliche oder konkludente Erklärung gegenüber den Arbeitnehmern erforderlich. Ob eine solche Erklärung vorliege, sei nach dem Empfängerhorizont zu beurteilen. Da die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbringen einen großen Wert auf das Einhalten der Verkehrsregeln gelegt und ihre Arbeitnehmer auf verschiedene Weise dazu angehalten habe, sei bereits fraglich, ob alle Arbeitnehmer eine verpflichtende Willenserklärung der Klägerin erkennen würden. Eine betriebliche Übung lasse sich deshalb nur schwer begründen.
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Aus den gleichen Gründen fehle es an einem Vertrauenstatbestand, welcher nach den Grundsätzen von Treu und Glauben einen Ersatzanspruch der Klägerin gegenüber den Arbeitnehmern ausschließen könne. Auch aus dem arbeitsrechtlichen Gleichbehandlungsgrundsatz, der dem Betriebsfrieden diene, könne kein Hindernis hinsichtlich der Durchsetzbarkeit von Regressansprüchen abgeleitet werden.
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Schließlich seien auch die Voraussetzungen für einen Zufluss bei den Arbeitnehmern erfüllt. Der Klägerin sei im April 2014 das Bestehen von Erstattungsansprüchen gegen die Fahrer bewusst gewesen und die Klägerin habe auf eine Geltendmachung verzichtet.
37
Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Schrift-sätze der Beteiligten nebst Anlagen verwiesen.
38
Entscheidungsgründe
39
Die Klage ist begründet.
40
A.
41
Die angefochtene Lohnsteueranmeldung April 2014 ist in Höhe der pauschalen Lohnsteuer nebst Annexsteuern von insgesamt 2.166,68 € rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz der Finanzgerichtsordnung ‒ FGO ‒). Soweit die angestellten Fahrer wegen der bei der Paketzustellung begangenen Verstöße gegen Halteverbote von der Klägerin nicht in Regress genommen werden, ist den Fahrern im Streitzeitraum (April 2014) keine in Geldeswert bestehende Einnahme im Sinne des § 19 EStG zugeflossen.
42
I.
43
Die im vorliegenden Verfahren streitgegenständliche pauschale Lohnsteuer als von der Steuer des Arbeitnehmers abgeleitete Steuer entsteht im Zeitpunkt des Zuflusses des Lohns beim Arbeitnehmer (vgl. BFH-Urteil vom 06.05.1994 ‒ VI R 47/93, BFHE 174, 363, BStBl II 1994, 715, mit ausführlicher Begründung). Die Übernahme der pauschalen Lohnsteuer durch den Arbeitgeber setzt mithin voraus, dass dem Arbeitnehmer eine in Geldeswert bestehende Einnahme im Sinne des § 19 EStG zugeflossen ist (vgl. BFH-Urteil vom 03.07.2019 ‒ VI R 36/17, BFHE 265, 239, BStBl II 2020, 788).
44
Im Streitfall liegt beim jeweiligen Fahrer bereits keine Einnahme im Sinne von § 19 EStG vor (hierzu unter A. II.). Zudem würde es im Falle des Vorliegens eines geldwerten Vorteils an dessen Zufluss im Streitmonat April 2014 fehlen (hierzu unter A. III.).
45
II.
46
Der Umstand, dass die Klägerin die jeweiligen Fahrer wegen der Verwarngelder für Verstöße gegen Halteverbote nicht in Anspruch genommen hat, stellt im Streitfall keinen Arbeitslohn im Sinne des § 19 EStG dar.
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Zu den Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit gehören gemäß § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG ‒ neben Gehältern und Löhnen ‒ auch andere Bezüge und Vorteile, die “für“ eine Beschäftigung im öffentlichen oder privaten Dienst gewährt werden, unabhängig davon, ob ein Rechtsanspruch auf sie besteht und ob es sich um laufende oder um einmalige Bezüge handelt (§ 19 Abs. 1 Satz 2 EStG).
48
1.
49
Ein geldwerter Vorteil im vorgenannten Sinne ergibt sich vorliegend nicht bereits daraus, dass die Klägerin die Zahlung der an sie gerichteten Verwarngelder vorgenommen hat. Denn mit der Zahlung der Verwarngelder hat die Klägerin ‒ wie vom BFH im Revisionsurteil vom 13.08.2020 VI R 1/17 (BFHE 270, 317, BStBl II 2021, 103) bestätigt ‒ keine Verbindlichkeit der Fahrer beglichen, sondern eine eigene Verbindlichkeit erfüllt.
50
2.
51
Ein geldwerter Vorteil ergibt sich vorliegend aber auch nicht daraus, dass die Klägerin gegenüber den Fahrern auf eine realisierbare Forderung in Form eines Rückgriffs- oder Schadensersatzanspruches verzichtet hat.
52
Ein geldwerter Vorteil (Vermögensvorteil) und damit Arbeitslohn im Sinne des § 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG liegt zwar auch dann vor, wenn der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer eine realisierbare Forderung nach § 397 Abs. 1 BGB erlässt. Der Arbeitslohn fließt in einem solchen Fall in dem Zeitpunkt zu, in dem der Arbeitgeber zu erkennen gibt, dass er keinen Rückgriff nehmen wird (vgl. BFH-Urteile vom 25.01.1985 ‒ VI R 173/85, BFHE 143, 332, BStBl II 1985, 437, und vom 27.03.1992 ‒ VI R 145/89, BFHE 168, 99, BStBl II 1992, 837) und sich der Arbeitnehmer damit einverstanden erklärt.
53
Im Streitfall fehlt es aber bereits an der Voraussetzung realisierbarer Forderungen der Klägerin gegen ihre Arbeitnehmer im April 2014. Die Geltendmachung von Schadensersatz- oder Regressansprüchen war aufgrund der besonderen Umstände des Streitfalls jedenfalls nach den Grundsätzen von Treu und Glauben ausgeschlossen.
54
a)
55
Der Klägerin stehen hinsichtlich der von ihr gezahlten Verwarngelder gegenüber ihren Fahrern keine Schadensersatzansprüche auf vertraglicher Grundlage zu.
56
aa)
57
Ein vertraglicher Schadensersatzanspruch nach §§ 611a, 280 Abs. 1 BGB scheidet entgegen der von der Klägerin vertretenen Auffassung nicht bereits wegen des Fehlens objektiver Pflichtverletzungen aus dem Arbeitsverhältnis aus.
58
In der Nichtbeachtung der StVO in Halteverbots- und Fußgängerzonen liegt eine Verletzung der den Arbeitnehmern der Klägerin nach §§ 611a, 241 Abs. 2 BGB obliegenden Schutzpflichten.
59
Nach § 241 Abs. 2 BGB ist jede Partei des Arbeitsvertrags zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen ihres Vertragspartners verpflichtet. Dies dient dem Schutz und der Förderung des Vertragszwecks (vgl. Urteil des Bundesarbeitsgerichts ‒ BAG ‒ vom 21.02.2017 ‒ 1 AZR 367/15, Sammlung der Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts ‒ BAGE ‒ 158, 148-153, Rn 16; Martens in: Ermann, BGB, 16. Aufl. 2020, § 241 BGB Rn 14).
60
Da ‒ wie die Klägerin selbst vorträgt ‒ die Fahrer fortlaufend angehalten wurden, die bestehenden Halteverbotsregelungen einzuhalten, war die Einhaltung der Regelungen der StVO Inhalt der arbeitsvertraglichen Pflichten. Gesichtspunkte, die als Grundlage für einen konkludenten Verzicht der Klägerin auf die Einhaltung der Halteverbote herangezogen werden könnten, sind deshalb ‒ auch unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Fahrer unter einem enormen Zeitdruck standen ‒ nicht gegeben. Eine objektive Pflichtverletzung wird zugleich nicht dadurch ausgeschlossen, dass die Klägerin als Arbeitgeberin die Pflichtverletzungen kannte und durch die Zahlung der Verwarngelder hingenommen hat (vgl. BAG-Urteil vom 21.05.2015 ‒ 8 AZR 116/14, 8 AZR 867/13, Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht ‒ NZA ‒ 2015, 1517, Rn 31).
61
bb)
62
Die objektiven Pflichtverletzungen im vorgenannten Sinne haben die Verhängung der Verwarngelder gegenüber der Klägerin als Halterin der Fahrzeuge zur Folge, worin ein adäquat kausal verursachter Vermögensschaden der Klägerin liegt.
63
Dies ergibt sich aus der im Schadensersatzrecht geltenden Differenzhypothese. Nach dieser besteht der nach § 249 Abs. 1 BGB ersatzfähige Schaden des Gläubigers in der Differenz zwischen seinem gegenwärtigen Vermögensstand und dem hypothetischen Vermögensstand ohne das schädigende Ereignis (vgl. Staudinger/Höpfner (2021) BGB § 249 Rn 5). Vorliegend ist ein denkbarer “wirtschaftlicher Gegenwert“ für die Klägerin in Form der schnelleren Erledigung der Zustellaufträge nicht messbar und deshalb nicht geeignet, einen Schaden bei der Klägerin zu verneinen. Aus dem von der Klägerseite zitierten BGH‒Urteil vom 28.10.2014 ‒ VI ZR 15/14 (Zeitschrift für Wirtschaft und Bankrecht ‒ WM ‒ 2014, 2318) lässt sich kein anderes Ergebnis ableiten. Die genannte Entscheidung hat ‒ worauf der Beklage zu Recht hinweist ‒ einen Sachverhalt zum Gegenstand, in dem trotz fehlender Differenz der beiden Vermögenslagen unter Berücksichtigung der erforderlichen wertenden Überprüfung des anhand der Differenzhypothese gewonnenen Ergebnisses ein Schadensersatzanspruch nicht ausgeschlossen bzw. gemindert ist.
64
cc)
65
Die objektive Pflichtverletzung ist auch von den Fahrern zu vertreten.
66
Verletzt der Schuldner eine Pflicht aus dem Schuldverhältnis, so kann der Gläubiger nach § 280 Abs. 1 Satz 1 BGB Ersatz des hierdurch entstandenen Schadens verlangen. Nach § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB haftet der Schuldner nicht, wenn er die Pflichtverletzung nicht zu vertreten hat. Was der Schuldner zu vertreten hat, nämlich Vorsatz und Fahrlässigkeit, ist in § 276 BGB geregelt. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 280 Abs. 1 Satz 2 BGB trägt der Schuldner die Darlegungs- und Beweislast für das Nichtvertretenmüssen. Eine Sonderregelung der Beweislast für das Vertretenmüssen enthält § 619a BGB. Danach hat bei der Verletzung einer Pflicht aus dem Arbeitsverhältnis der Arbeitgeber darzulegen und nachzuweisen, dass der Arbeitnehmer die Pflichtverletzung zu vertreten hat.
67
Bedingt vorsätzlich handelt, wer einen Erfolg nicht anstrebt und auch nicht als sicher, sondern nur als möglicherweise eintretend voraussieht, ihn aber für den Fall seines Eintritts in seinen Willen aufnimmt, d.h. billigend in Kauf nimmt. Abweichend von den allgemeinen zivilrechtlichen Grundsätzen (vgl. z.B. BGH‒Urteil vom 30.05.1972 ‒ VI R 6/71, Neue Juristische Wochenschrift ‒ NJW ‒ 1972, 1366) wird im Bereich der (beschränkten) Arbeitnehmerhaftung verlangt, dass sich der Vorsatz nicht nur auf die Pflicht- und Rechtsgutverletzung, sondern auch auf den konkret eingetretenen Schaden richtet (vgl. z.B. BAG‒Urteil vom 18.01.2007 ‒ 8 AZR 250/06, NZA 2007, 1230).
68
Im Streitfall bestehen keine Zweifel daran, dass die Fahrer zumindest bedingt vorsätzlich durch das Halten in den Halteverbots- bzw. Fußgängerzonen eine Ordnungswidrigkeit begangen haben und sie die im Falle einer Kontrolle durch die zuständigen Ordnungsbehörden verhängten Verwarnungsgelder als Schaden billigend in Kauf genommen haben. Bei den Fahrern handelt es sich nach dem Vorbringen der Klägerin überwiegend um Berufskraftfahrer, denen die zu beachtenden Verkehrsregeln und die Folgen im Falle der Nichteinhaltung nicht allein durch den Erwerb des Führerscheins, sondern darüber hinaus auch durch ihre Berufsausbildung bekannt sind. Hinzukommt, dass die Klägerin nach ihrem eigenen Vorbingen regelmäßig auf die Einhaltung der Verkehrsregeln auch in den vorstehenden Konstellationen hinweist.
69
dd)
70
Im Hinblick auf das zumindest bedingt vorsätzliche Handeln der Fahrer scheidet eine Einschränkung des Verschuldensmaßstabes nach den Grundsätzen des “innerbetrieblichen Schadensausgleichs“ vorliegend aus.
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Der Begriff des “innerbetrieblichen Schadensausgleichs“ stammt aus dem Arbeitsrecht und umfasst die Fälle, in denen der Arbeitnehmer im Rahmen seiner Arbeitsleistung dem Arbeitgeber z.B. einen Sachschaden zufügt. Der Arbeitnehmer kommt in den Genuss einer nach Verschuldensgraden abgestuften Haftungsprivilegierung, sofern er Schäden an den Rechtsgütern des Arbeitgebers im Rahmen einer betrieblich veranlassten Tätigkeit herbeiführt. Die Einschränkung trägt dem Umstand Rechnung, dass der Arbeitnehmer in die organisatorische Einheit des Betriebs eingegliedert wird, um den arbeitstechnischen Zweck des Betriebs durch eine weisungsgebundene Tätigkeit zu verwirklichen. Der Arbeitnehmer hat typischerweise nur einen beschränkten Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsabläufe. Der Arbeitgeber trägt die Verantwortung für die Betriebsorganisation und die Steuerung der Arbeitsprozesse. Diese Organisationshoheit muss sich der Arbeitgeber ebenso wie das Betriebsrisiko stets dann anrechnen lassen, wenn es im Betriebsablauf zu Schadensereignissen kommt (Henssler in Münchener Kommentar zum BGB ‒ MünchKomm ‒, 8. Aufl. 2019, § 619a BGB Rn 8, 9). Die Haftung für solche Schäden, die anlässlich einer im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erbrachten Arbeit verursacht werden, ist gegenüber dem allgemeinen Haftungsmaßstab beschränkt und davon abhängig, ob es sich um eine besonders gefahrenträchtige Arbeit handelt. Bei Vorsatz und grober Fahrlässigkeit ist der Schaden allerdings voll zu ersetzen (vgl. BAG‒Urteil vom 18.02.2002 ‒ 8 AZR 348/01, BAGE 101, 107-121).
72
ee)
73
Im Streitfall dürfte jedoch ‒ ohne dass es entscheidend darauf ankommt - eine Verpflichtung der Fahrer zum Schadensersatz nach § 280 Abs. 1 BGB bereits durch ein von Amts wegen zu prüfendes mitwirkendes Verschulden der Klägerin im Sinne des§ 254 Abs. 1 BGB ausgeschlossen oder zumindest eingeschränkt sein.
74
Nach § 254 Abs. 1 BGB ist die Verpflichtung zum Schadensersatz sowie der Umfang des Ersatzes davon abhängig, inwieweit der Schaden vorwiegend vom Schädiger oder vom Geschädigten verursacht worden ist. Diese Prüfung ist unabhängig von der zuvor unter A. II. 2. a) dd) dargestellten Beschränkung des Haftungsmaßstabes nach den Grundsätzen des “innerbetrieblichen Schadensausgleichs“ vorzunehmen. Auf dieser Ebene können sich haftungsbeschränkend z.B. konkrete Organisationsmängel oder eine mangelhafte Überwachung der Tätigkeit auswirken (vgl. BAG, NZA 2015, 1517, Rn 25; BeckOK ArbR/Hesse, 61. Ed. 1.9.2021 Rn 16, 17). Ein vorsätzliches Handeln des Schädigers schließt eine Minderung des Schadensersatzanspruches im Rahmen der bei § 254 BGB vorzunehmenden Abwägung nicht grundsätzlich aus (vgl. Ebert in: Erman, BGB, a.a.O., § 254 BGB Rn 93).
75
Die Beweislast für die zur Anwendung des § 254 Abs. 1 BGB führenden Umstände, mithin auch für die Ursächlichkeit eines Mitverschuldens, trägt der Schädiger (vgl. BGH-Urteil vom 30.09.2003 ‒ XI ZR 232/02, WM 2003, 2286). Dabei darf dem Schädiger indes nichts Unmögliches abverlangt werden. Er kann beanspruchen, dass der Geschädigte an der Beweisführung mitwirkt, soweit es sich um Umstände aus seiner Sphäre handelt. Dies beinhaltet die Darlegung, was zur Schadensminderung unternommen worden ist (vgl. BAG, NZA 2015, 1517, Rn 47).
76
Nach diesen Grundsätzen ist im Streitfall aufgrund des Vorbringens der Klägerin ernstlich in Betracht zu ziehen, dass Schadensersatzansprüche der Klägerin gegen die Fahrer wegen eines Mitverschuldens der Klägerin im Sinne des § 254 Abs. 1 BGB ganz oder teilweise ausgeschlossen wären. Bei der Verteilung der Verantwortlichkeit für den entstandenen Schaden ist ein zu Lasten der Klägerin zu berücksichtigendes Organisationsverschulden naheliegend. Die Fahrer müssten zu dessen Berücksichtigung darlegen, dass sie durch die ihnen übertragenen Zustellaufträge im vorgegebenen Zeitrahmen überlastet sind und die Einhaltung der Halteverbote bei den ihnen übertragenen Kapazitäten aufgrund dessen nicht gewährleistet werden kann. Zur Vermeidung dessen sei die Klägerin z.B. verpflichtet, in den Städten, in denen keine Ausnahmegenehmigung nach § 46 StVO zu erlangen sei, das tägliche Zustellvolumen anzupassen oder die Zustellfahrzeuge neben dem Fahrer mit einer weiteren Person, die die Auslieferung übernimmt, zu besetzen.
77
ff)
78
Die Frage eines einen Schadensersatzanspruch ausschließenden oder zumindest einschränkenden Mitverschuldens der Klägerin kann jedoch dahinstehen, weil die Realisierbarkeit von Schadensersatzansprüchen gegen die Fahrer wegen der von der Klägerin als Halterin der Fahrzeuge getragenen Verwarngelder jedenfalls nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB ausgeschlossen wäre (vgl. zum Nebeneinander von § 254 BGB und § 242 BGB im Schadensersatzrecht Ebert in: Erman, a.a.O., § 254 BGB Rn 4).
79
(a)
80
Der sich aus dem Gesetzeswortlaut des § 242 BGB ergebende Grundsatz, dass der Schuldner nur verpflichtet ist, die Leistung entsprechend Treu und Glauben zu erbringen, bildet eine allen Rechten, Rechtslagen und Rechtsnormen immanente Inhaltsbegrenzung, wonach eine gegen § 242 BGB verstoßende Rechtsausübung oder Ausnutzung einer Rechtslage wegen der Rechtsüberschreitung als unzulässig angesehen wird. § 242 BGB eröffnet damit die Möglichkeit jede atypische Interessenlage zu berücksichtigen, bei der ein Abweichen von der gesetzlichen Rechtslage zwingend erscheint (Schubert in MünchKomm, a.a.O., § 242 BGB Rn 2; Staudinger/Looschelders/Olzen (2019) BGB § 242 Rn 217).
81
Die Feststellung eines Rechtsmissbrauchs verlangt die Berücksichtigung aller durch die Inanspruchnahme des Rechts objektiv betroffenen Interessen der Parteien. Die Interessenabwägung hat einzelfallbezogen zu erfolgen (vgl. z.B. BeckOK BGB/Sutschet, Stand 01.08.2021, § 242 BGB Rn 111), wobei sich nicht jedes Interessenungleichgewicht rechtsbeschränkend auswirkt, sondern für die Annahme eines Rechtsmissbrauchs eine grob und unerträglich empfundene Unbilligkeit zu verlangen ist (Schubert in MünchKomm, a.a.O., § 242 BGB Rn 461). Ferner ist auf den Sinn und Zweck der Norm, auf die sich der rechtsmissbräuchlich handelnde Rechtsinhaber berufen will, und - wie allgemein im Rahmen des § 242 BGB - auf gesetzliche Wertungen, und Risikobeurteilungen zurückzugreifen, die in anderen Vorschriften zum Ausdruck kommen (Schubert in MünchKomm, a.a.O., § 242 BGB Rn 126).
82
Zur Konkretisierung atypischer Interessenlagen sind Fallgruppen gebildet worden, in denen ein rechtsmissbräuchliches Verhalten nahe liegt. Danach kann eine Rechtsausübung u.a. unzulässig sein, wenn sich der Gläubiger in Widerspruch zu seinem früheren Verhalten setzt (sogenannter venire contra factum proprium-Einwand; Schubert in MünchKomm, a.a.O., § 242 BGB Rn 353; Staudinger/Looschelders/Olzen (2019) BGB § 242 Rn 284). Im Gegensatz zu einen (konkludenten) Verzicht gemäß § 397 BGB setzt der Rechtsmissbrauch in dieser Konstellation keinen entsprechenden Rechtsfolgewillen voraus und findet damit auch dort Anwendung, wo keine rechtsgeschäftliche Vereinbarung vorliegt (Staudinger/Looschelders/Olzen (2019) BGB § 242 Rn 285). Grundlage ist allein das Gebot zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Es verlangt, dass man die Folgen eines gesetzten Rechtsscheins trägt, wenn sich die Gegenseite darauf eingelassen hat; die eigenen Interessen müssen dann zurückstehen. Obwohl das Gesetz es grundsätzlich dem Rechtsinhaber überlässt, wie er von seinem Recht Gebrauch macht und damit auch widersprüchliches Verhalten prinzipiell toleriert, folgt aus der Beschränkungsfunktion des § 242 BGB, dass der Rechtsausübung Grenzen gesetzt sind (Staudinger/Looschelders/Olzen (2019) BGB § 242 Rn 287).
83
Eine unzulässige Rechtsausübung kommt hiernach u.a. in Betracht, wenn durch ein Verhalten des Rechtsinhabers ein schutzwürdiges Vertrauen auf eine bestimmte Sach- oder Rechtslage bei der Gegenpartei hervorgerufen wurde (vgl. BGH-Urteil vom 23.10.2008 ‒ VII ZR 105/07, NJW 2009, 435; Schubert in MünchKomm, a.a.O., § 242 BGB Rn 323; Böttcher in: Erman, a.a.O., § 242 BGB Rn 106). Der vertrauensbegründende Tatbestand kann dabei sowohl in einem Tun als auch in einem gebotswidrigen Unterlassen liegen (Staudinger/Looschelders/Olzen (2019) BGB § 242 Rn 290).
84
Um die Rechtsfolgen des § 242 BGB auszulösen, ist es grundsätzlich zusätzlich erforderlich, dass die Gegenpartei auf das Bestehen oder Nichtbestehen einer bestimmten Rechts- oder Tatsachenlage vertraut hat. Das Vertrauen verdient Schutz, wenn der Betroffene von dem anderen Teil in diesem Glauben bestärkt worden ist (vgl. BAG-Urteil vom 23.02.2005 ‒ 4 AZR 139/04, BAGE 114, 33-50 Rn 39). Für eine besondere Schutzwürdigkeit spricht, wenn der Schuldner bereits vertrauensvoll Dispositionen getroffen hat, wobei es sich nicht um eine unerlässliche Voraussetzung handelt (Schubert in MünchKomm, a.a.O., § 242 BGB Rn 320; Staudinger/Looschelders/Olzen (2019) BGB § 242 Rn 291, 292).
85
(b)
86
Im Rahmen der vom Senat vorzunehmenden einzelfallbezogenen Interessenabwägung steht nach den genannten Grundsätzen der Geltendmachung vertraglicher Schadensersatzansprüche durch die Klägerin der Einwand einer unzulässigen Rechtsausübung mit der Rechtsfolge eines Anspruchsausschlusses entgegen.
87
(aa)
88
Vorliegend würde sich die Klägerin im Falle der Geltendmachung von Ersatzansprüchen bezogen auf die von ihr im Monat April 2014 gezahlten Verwarngelder in einen unauflöslichen Widerspruch zu ihrem früheren Verhalten setzen.
89
Zwar hat die Klägerin nach ihrem eigenen Sachvortag die Fahrer fortlaufend zur Einhaltung der Halteverbotsregeln angehalten. In Fällen der Nichteinhaltung und dem Anfall von Verwarngeldern hat die Klägerin hieraus aber bewusst keine Konsequenzen gezogen. Die Klägerin hat vielmehr ‒ was sich aus dem vom Beklagten mit Schriftsatz vom 10.08.2021 vorgelegten Prüfungsbericht vom 07.06.1993 der Zentralen Außenprüfungsstelle für Lohnsteuer beim Finanzamt C-Stadt für den Prüfungszeitraum 01.10.1988 bis 31.12.1992 (Bl. 263 eAkte) ableiten lässt ‒ über einen Zeitraum von ca. 27 Jahren hinweg in den Fällen eines ihr als Halterin der Fahrzeuge gegenüber geltend gemachten Verwarngeldes von einem Regress gegenüber den Fahrern abgesehen. Grundlage für diese Handhabung war die von der Klägerin vertretene Auffassung, dass die Übernahme der Verwarngelder im überwiegend eigenbetrieblichen Interesse liege und die Zahlung der Verwarngelder deshalb nicht als geldwerter Vorteil der Arbeitnehmer zu beurteilen sei. Dieser steuerlichen Beurteilung folgend ist die Klägerin zugleich vom Nichtbestehen arbeitsrechtlicher Ersatzansprüche gegen die Fahrer ausgegangen und hat deshalb von der Geltendmachung von Ersatzansprüchen abgesehen. Hinsichtlich der Annahme eines überwiegend eigenbetrieblichen Interesses im Zusammenhang mit der Zahlung der Verwarngelder konnte sich die Klägerin seit dem Jahr 2004 auf die Rechtsauffassung des BFH im Urteil vom 07.07.2004 IV R 29/00 (BFHE 208, 104, BStBl II 2005, 367) stützen. An der Beurteilung hat die Klägerin auch nach dem Ergehen des BFH‒Urteils vom 14.11.2013 VI R 36/12 (BFHE 243, 520, BStBl II 2014, 278) festgehalten. Der Auffassung der Klägerin ist der Senat im Urteil vom 14.11.2016 1 K 2470/14 L gefolgt. Im Anschluss daran hat der BFH im Urteil vom 13.08.2020 VI R 1/17 die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Anhand dieser Schilderung ist ersichtlich, dass die Klägerin über einen langandauernden Zeitraum hinweg die Verhängung der Verwarngelder ohne Sanktionen oder die Geltendmachung von Ersatzansprüchen gegenüber ihren Fahrern unter Berufung auf die geltende Rechtsprechung hingenommen hat. Dadurch hat sie aufgrund ihres Verhaltens gegenüber den Fahrern einen eindeutigen Rechtsschein dahingehend begründet, keinen Rückgriff im Fall der Verhängung von Verwarngeldern im Zusammenhang mit Verstößen gegen Halteverbote nehmen zu wollen.
90
(bb)
91
Durch das Verhalten der Klägerin ist auf Seiten der Fahrer als Arbeitnehmer ein besonders schutzwürdiges Vertrauen hervorgerufen worden. Die Fahrer konnten ungeachtet der Hinweise der Klägerin auf die Verpflichtung zur Einhaltung der StVO-Regeln darauf vertrauen, wegen der Verhängung von Verwarngeldern aufgrund von Verstößen gegen Halteverbote ‒ anders als bei sonstigen Verstößen gegen die StVO ‒ von der Klägerin nicht im Regresswege in Anspruch genommen zu werden.
92
Für die Beurteilung einer besonderen Schutzwürdigkeit des Vertrauens der Fahrer sind die den Streitfall charakterisierenden Umstände maßgeblich. Aus der Sicht der Fahrer als Arbeitnehmer korrespondierte die Übernahme der Verwarngelder durch die Klägerin mit der besonderen Art der Zustelltätigkeit. Das Geschäftskonzept der Klägerin hat eine schnellstmögliche Zustellung der von den Kunden in Auftrag gegebenen Versendungen zum Gegenstand. Soweit die Zustellaufträge in städtischen Bereichen vorzunehmen sind, ergeben sich bei fehlenden Haltemöglichkeiten besondere Schwierigkeiten nicht nur für den Transport als solchen (nach der aktuellen Homepage der Klägerin werden bis zu 70 kg wiegende Pakete transportiert), sondern insbesondere auch im Hinblick auf die angestrebte möglichst kurzfristige Dauer der Zustellzeiten. Zur Verwirklichung schnellstmöglicher reibungsloser Zustellungen war die Klägerin ‒ was auch den Fahrern bekannt war ‒ bemüht, Ausnahmegenehmigungen nach § 46 StVO zu erhalten. Diese wurden jedoch nur beschränkt erteilt. Soweit keine Ausnahmegenehmigung vorlag, bestand ungeachtet dessen ein für die Fahrer erkennbares Interesse der Klägerin an einer schnellstmöglichen Zustellung.
93
Soweit die Klägerin vor diesem Hintergrund bei der Verhängung von Verwarngeldern über Jahrzehnte hinweg von einem Rückgriff abgesehen hat, ergab sich aus Sicht der Fahrer, dass die Klägerin von der Geltendmachung von Ersatzansprüchen trotz des Anhaltens zur Einhaltung der Regeln der StVO im Hinblick auf die besonderen Arbeitsumstände ihrer Tätigkeit absehen würde. Die Fahrer durften deshalb bei unveränderten Umständen darauf vertrauen, dass von ihnen kein Ersatz der Verwarngelder bei Halteverbotsverstößen verlangt werden würde. Solche veränderten, das Vertrauen der Fahrer nicht mehr als schützenswert anzusehende Umstände hätten z.B. nach einer betrieblichen Bekanntgabe der künftigen Geltendmachung von Ersatzansprüchen vorgelegen. Anhaltpunkte für eine solche Änderung bereits im April 2014 liegen jedoch nicht vor und sind von den Beteiligten auch nicht vorgetragen worden.
94
Schützenswert war das Vertrauen der Fahrer bei unveränderter Sachlage zudem deshalb, weil sie im Falle der Kenntnis von einer möglichen Inanspruchnahme durch die Klägerin, hierauf ihrerseits durch ein geändertes Verhalten, z.B. durch ein anderes Verkehrsverhalten zu Lasten der Schnelligkeit bei den Zustellungen, ihre Inanspruchnahme auf Ersatz hätten vermeiden können. Ferner hätten die Fahrer auch darauf drängen können, nur noch in Fahrbezirken mit einer Ausnahmegenehmigung nach § 46 StVO eingesetzt zu werden.
95
(cc)
96
Eine andere Beurteilung ist im Zusammenhang mit der Frage eines Anspruchsausschlusses nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB auch nicht deshalb geboten, weil die Halteverbotsverstöße ein rechtswidriges, gegen die Regeln der StVO verstoßendes Verhalten der Fahrer darstellen.
97
Eine Rechtswidrigkeit des Verhaltes der Fahrer schließt die Schutzwürdigkeit ihres Vertrauens im Streitfall nicht aus. Grundlage für diese Beurteilung sind die Besonderheiten des Verwarnungsverfahrens. Entsprechend den Ausführungen im Revisionsurteil vom 13.08.2020 VI R 1/17 unter II. 2. b) bb) (1) und (2) liegen diese darin, dass von der Durchführung eines Bußgeldverfahrens mit einer förmlichen Entscheidung “im äußersten Bagatellbereich“ abgesehen wird und eine geringfügige präventive Maßnahme genügt, sofern der Betroffene, zu denen ungeachtet seines Tatbeitrages im Sinne des OWiG auch der Halter des Fahrzeuges zählt, wenn ihm gegenüber ein Verwarngeld erhoben wird, das Verwarngeld zahlt. Zahlt der Fahrzeughalter das Verwarngeld, erübrigt sich die weitere Verfolgung und Entscheidung über die Frage, wer für den Verkehrsverstoß verantwortlich ist. Eine Zuweisung von Schuld findet nicht mehr statt. Mit der Wirksamkeit der Verwarnung entsteht gemäß § 56 Abs. 4 OWiG ein Verfolgungshindernis eigener Art, wonach die Tat nicht mehr verfolgt werden darf. Mithin ist das Verwarnungsverfahren nicht auf eine Ermittlung des den Verkehrsverstoß tatsächlich verwirklichenden Verkehrsteilnehmers angelegt, sondern gibt sich mit einer Inanspruchnahme des Fahrzeughalters “zufrieden“. Dies rechtfertigt es, das Vertrauen der Fahrer auch in Fällen, in denen ihnen ein Verstoß gegen Halteverbote bzw. das Befahren von Fußgängerzonen anzulasten ist, als schützenswert zu beurteilen.
98
Die vom BFH im Revisionsurteil vom 13.08.2020 VI R 1/17 unter II. 2. c) cc) aufgeführten Grundsätze, wonach ein rechtswidriges Handeln der Arbeitnehmer trotz des Bagatellcharakters der Halteverbotsverstöße keine beachtliche Grundlage einer betriebsfunktionalen Zielsetzung darstellen kann, rechtfertigen keine andere Beurteilung. Die Ausführungen des BFH stehen im Zusammenhang mit der Abgrenzungsfrage, ob ein geldwerter Vorteil auf Seiten der Arbeitnehmer vorliegt, oder von einem überwiegend eigenbetrieblichen Interesse der Klägerin als Arbeitgeberin auszugehen ist. Im vorliegenden Zusammenhang geht es hingegen um die davon unabhängige Frage der Realisierbarkeit von Schadensersatzansprüchen oder ihres Ausschlusses nach den Grundsätzen von Treu und Glauben.
99
b)
100
Der Ausschluss vertraglicher Ansprüche nach den § 242 BGB erfasst zugleich etwaige gesetzliche Ersatzansprüche der Klägerin. Aufgrund dessen kann dahin stehen, ob die übrigen Voraussetzungen für einen Anspruch aus Geschäftsführung ohne Auftrag (§§ 683 Satz 1, 670 BGB) erfüllt sind.
101
III.
102
Die Klage wäre auch dann begründet, wenn abweichend von der hier vertretenen Auffassung das Bestehen eines vertraglichen oder gesetzlichen Rückgriffs- oder Schadensersatzanspruches gegen die Fahrer aufgrund der Zahlung der Verwarngelder zu bejahen wäre, da es dann am Zufluss eines damit einhergehenden geldwerten Vorteils im Streitmonat April 2014 fehlen würde.
103
1.
104
Arbeitslohn, der nicht als laufender Arbeitslohn gezahlt wird (sonstige Bezüge), ist dem Arbeitnehmer als Einnahme nach § 11 Abs. 1 EStG zugeflossen, wenn er darüber wirtschaftlich verfügen kann. Insofern darf eine Besteuerung erst dann erfolgen, wenn beim Arbeitnehmer eine Steigerung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit eintritt, in dem sein Vermögen durch eine Zuwendung tatsächlich vermehrt wird (vgl. BFH-Urteil vom 29.07.2010 ‒ VI R 39/09, Sammlung aller Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ‒ BFH/NV ‒ 2010, 2298).
105
Im Falle des Erlasses einer realisierbaren Forderung nach § 397 Abs. 1 BGB fließt der Arbeitslohn dem Arbeitnehmer in dem Zeitpunkt zu, in dem der Arbeitgeber zu erkennen gibt, dass er keinen Rückgriff nehmen wird (vgl. BFH-Urteile vom 25.01.1985 ‒ VI R 173/80, BFHE 143, 343, BStBl II 1985, 437, und vom 27.03.1992 ‒ VI R 145/89, BFHE 168,99, BStBl II 1992, 837) und entsprechend den Gründen des Revisionsurteils BFHE 270, 317, BStBl II 2021, 103 unter II. 2. c) aa) der Arbeitnehmer sich mit dem “Erkennen Geben“ des Arbeitgebers einverstanden erklärt hat.
106
Soweit in den Urteilen des VI. Senats des BFH vom 27.03.1992 VI R145/89 (BFHE 168, 99, BStBl II 1992, 837) und vom 24.05.2007 VI R 73/05 (BFHE 218, 180, BStBl II 2007, 766) neben der (konkludenten) Erlasserklärung durch den Arbeitgeber die Voraussetzung eines (konkludenten) Einverständnisses des Arbeitnehmers als Schuldner nicht ausdrücklich angeführt wird, rechtfertigt dies keine abweichende Beurteilung hinsichtlich des Erfordernisses eines Einverständnisses auf Seiten des Arbeitnehmers für den Zufluss des geldwerten Vorteils. Denn für einen gesonderten Hinweis auf die Erforderlichkeit eines Einverständnisses des Arbeitnehmers für den Zufluss bestand in den vorgenannten Entscheidungen des BFH keine Veranlassung. Die Entscheidungen betreffen Sachverhalte, in denen es um Ersatzansprüche gegen Arbeitnehmer im Zusammenhang mit Fahrten eines zur privaten Nutzung überlassenen Firmen-PKW unter Alkoholeinfluss ging. In diesen Fällen liegt die Annahme eines konkludenten Einverständnisses des Arbeitnehmers auf der Hand.
107
Auch in der Literatur wird für einen Zufluss beim Arbeitnehmer gefordert, dass die Forderung, auf die der Arbeitgeber verzichtet, durch Vertrag zivilrechtlich untergegangen ist. Denn nur dann ist der Arbeitnehmer endgültig vor einer Inanspruchnahme geschützt und damit in Höhe des Nominalbetrages der Verbindlichkeit durch die, einen geldwerten Vorteil erst begründende Steigerung seiner wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, bereichert (Breinerdorfer in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, 318. AL 10/2021 d) Nichtselbständige Arbeit (§ 2 Absatz 1 Satz 1 Nummer 4), Rn B 251).
108
Das Erfordernis eines Einverständnisses des Arbeitnehmers entspricht zudem den zivilrechtlichen Voraussetzungen für einen Erlassvertrag im Sinne des § 397 Abs. 1 BGB. Danach erlischt ein Schuldverhältnis, wenn der Gläubiger dem Schuldner durch Vertrag die Schuld erlässt. Zivilrechtlich ist der Erlass als Verfügungsvertrag ausgestaltet. Obgleich der Schuldner durch den Erlass nur begünstigt wird, ist seine Mitwirkung in Gestalt einer vertragskonstitutiven Willenserklärung erforderlich (vgl. z.B. Wagner: in Erman, a.a.O., § 397 BGB Rn 1).
109
2.
110
Gemessen an diesen Grundsätzen sind die Voraussetzungen für einen Zufluss jedenfalls im Streitmonat April 2014 nicht erfüllt.
111
Zwar könnte ‒ wovon die Beteiligten übereinstimmend ausgehen ‒ ein konkludenter Verzicht der Klägerin für den Fall des Bestehens eines Rückgriffs- oder Schadensersatzanspruches bereits im April 2014 mit der Zahlung der Verwarngelder vorgelegen haben.
112
Die Frage einer konkludenten Verzichtserklärung der Klägerin im April 2014 kann jedoch dahinstehen. Denn im April 2014 fehlt es jedenfalls an jeglicher Tatsachengrundlage für ein zumindest konkludentes Einverständnis der Fahrer mit einem von der Klägerin zu erkennen gegebenen Verzicht.
113
Einem Einverständnis der Arbeitnehmer steht bereits entgegen, dass für den Senat im Streitfall keine Gesichtspunkte dafür erkennbar sind, dass die Fahrer der Klägerin im April 2014 überhaupt Kenntnis von ihnen gegenüber bestehenden Rückgriffs- oder Schadensersatzansprüchen hatten, von denen die Klägerin als Arbeitgeberin keinen Gebrauch gemacht hat. Im April 2014 entsprach es den betrieblichen Abläufen bei der Klägerin, dass diese eine Zahlung der an sie gerichteten Verwarngelder ohne Rücksprache mit den Fahrern veranlasst hat. Den Fahrern war somit weder der Zeitpunkt der Geltendmachung von Verwarngeldern durch die Ordnungsbehörden noch der Zeitpunkt der Zahlung durch die Klägerin bekannt.
114
Selbst wenn jedoch eine Kenntnis von Regressansprüchen als Grundvoraussetzung für ein Einverständnis der Fahrer mit einem Verzicht seitens der Klägerin vorliegen würde, ist es realitätsfern anzunehmen, dass sich die jeweiligen Fahrer bereits im April 2014 mit einem konkludenten Verzicht der Klägerin ihrerseits konkludent einverstanden erklärt hätten, weil ‒ woran für den Senat aufgrund der Ausführungen unter A. II. keine Zweifel bestehen ‒ mögliche Ansprüche der Klägerin gegen ihre Arbeitnehmer jedenfalls streitbehaftet und damit nicht durchsetzbar gewesen wären. Das fehlende Einverständnis der jeweiligen Fahrer im April 2014 schließt zugleich das Vorliegen einer Steigerung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit auf Seiten der Arbeitnehmer als Grundvoraussetzung für den Zufluss eines geldwerten Vorteils in diesem Monat aus.
115
B.
116
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 135 Abs. 1, 143 Abs. 2 FGO.
117
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
118
C.
119
Die Revision war nicht zuzulassen, da die Rechtssache im zweiten Rechtsgang weder grundsätzliche Bedeutung hat (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO) noch die Fortbildung des Rechts eine Entscheidung des BFH (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 1. Alt. FGO) erfordert.