· Fachbeitrag · Landespflegegeld
Blinde Menschen haben Mitteilungspflichten
| Ein blinder Mensch hat einen Anspruch, behördliche Entscheidungen trotz Sehbehinderung vollständig verstehen zu können. Der Bescheid kann in Blindenschrift oder elektronisch vorlesbar erstellt werden. Der Betroffene muss der Behörde aber mitteilen, welche speziellen Formen ihm helfen, so das OVG Brandenburg. |
Sachverhalt
Das VG hatte entschieden, dass die blinde Klägerin ihrer Mitteilungspflicht grob fahrlässig nicht nachgekommen sei. Sie hatte die Behörde nicht informiert, dass sie zum 1.1.11 von Brandenburg nach Niedersachsen umzieht (§ 60 Abs. 1 SGB I i. V. m. § 9 LPflG). Vom 1.12.11 bis 31.5.13 bezog sie weiter Landespflegegeld. Die Leistung ist jedoch davon abhängig, dass der Empfänger seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Brandenburg hat (§ 1 LPflGG Bbg). Im Bewilligungsbescheid wurde auch über die gesetzlichen Mitteilungspflichten informiert. Auch blinden Menschen sei zumutbar, einen nicht in Blindenschrift verfassten Bescheid nicht einfach zu ignorieren bzw. untätig zu bleiben.
Außerdem habe die Klägerin den Antrag auf Landespflegegeld auch schriftlich gestellt, so dass davon auszugehen war, dass sie die Inhalte des Bescheides mit Hilfe von Dritten erfährt. Das sah die Klägerin anders: Sie könne nicht sicher sein, ob ihr ein Antrag auch vollständig vorgelesen werde, da ihr eine Kontrollmöglichkeit fehle. Ferner sei ihr Ehemann genau in jenen Wochen berufsbedingt abwesend gewesen, in der der Bescheid zuging. Das OVG Berlin-Brandenburg entschied gegen die Klägerin und lehnte ihren Antrag auf Zulassung der Berufung ab (7.3.17, OVG 6 N 4.17, Abruf-Nr. 193001).
Entscheidungsgründe
Zwar stehe blinden Menschen nach brandenburgischem Landesrecht ein Anspruch zu, dass Bescheide in einer für sie wahrnehmbaren Form zugänglich gemacht werden. Die Behörde sei deshalb aber nicht verpflichtet gewesen, auch im vorliegenden Fall den Bescheid in Blindenschrift auszustellen. Es komme auch nicht darauf an, ob der Behörde bereits bekannt war, dass der Empfänger ein blinder Mensch ist.
Denn sie durfte davon ausgehen, dass die Klägerin den Bescheid zur Kenntnis nehmen kann, weil ihr privater Bereich entsprechend organisiert ist. Der schriftliche Antrag der Klägerin war ein Indiz dafür, dass die Klägerin jedenfalls in ihrer unmittelbaren Nähe jemanden habe, der ihr bei Bedarf helfe und sie deshalb gerade nicht auf sich allein gestellt sei. Die Klägerin habe auch nicht erklärt, warum die lediglich kurze Abwesenheit ihres Ehemanns von nur 16 Tagen hinderlich war. Denn den Bescheid hätte sie inhaltlich auch nach dessen Rückkehr erfahren bzw. sich vorlesen lassen können. Zudem stützte die Klägerin ihren Zulassungsantrag (Berufung) darauf, dass das VG eine Entscheidung des OVG Koblenz (25.6.12, 7 A 10286/12) unberücksichtigt gelassen hätte (Divergenzrüge, § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO). Hierauf komme es aber nicht an.
Relevanz für die Praxis
Behörden müssen nicht automatisch von sich aus in jedem Einzelfall blindengerechte Bescheide erstellen. Der Betroffene muss selbst aktiv werden, diesen Wunsch äußern und sagen, welche (zusätzliche) Form ihm genau hilft. Grundsätzlich sollte der Mandant einer Behörde schon zu Beginn mitteilen, dass er Leistungsbescheide benötigt
- in Blindenschrift,
- in Großdruck,
- per E-Mail oder
- als Audio- bzw. Daisy-CD.
Gem. § 10 Abs. 1 S. 2 BGG besteht ein Anspruch, Bescheide etc. - zusätzlich - in einer für blinde Menschen wahrnehmbaren Form zu erhalten: Der Mandant erhält also einen gedruckten Bescheid sowie einen barrierefreien Bescheid. Das OVG Rheinland-Pfalz beispielsweise betont, dass es auch darauf ankommt, wie gut sich geistig eingeschränkte oder ältere Betroffene an ihre Mitteilungspflichten erinnern können. Grobe Fahrlässigkeit ist nur dann vorzuwerfen, wenn der Betroffene sich zu einem entsprechenden Zeitpunkt (hier: Aufnahme in Alten- oder Pflegeheim) hätte erinnern müssen, dies einem Leistungsträger anzuzeigen (25.6.12, 7 A 10286/12).
Bevollmächtigte älterer Mandanten können schlüssig argumentieren: Es spielt auch eine Rolle, wie lange es her ist, dass der Betroffene über seine Pflichten informiert wurde. Anders als Sehenden ist es einer blinden Person nicht möglich, die sich ihr etwa stellende Frage „War da nicht etwas?“ dadurch zu klären, dass sie den Bewilligungsbescheid heraussucht und ihn nochmals durchliest. Der Gesetzgeber sagt ganz klar: Grobe Fahrlässigkeit liegt nur vor, wenn der Betreffende die erforderliche Sorgfalt in besonders schwerem Maße verletzt hat (vgl. § 45 Abs. 2 S. 3 Nr. 3 Hs. 2 SGB X).
Weiterführende Hinweise
- Blindenführhunde als Hilfsmittel: So kann es begründet werden, SR 17, 24
- Technologien und Eingabehilfen für eingeschränkte Mandanten (u.a.: Assistenzsysteme für Sehbehinderte), SR 14, 3