· Fachbeitrag · Prozessrecht
Gericht muss Widersprüche zwischen Gerichts- und Privatgutachten aufklären
| Klärt das Gericht entscheidungserhebliche Widersprüche zwischen den Schlussfolgerungen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen und denjenigen eines Privatgutachters nicht hinreichend auf, sondern folgt ohne logische und nachvollziehbare Begründung den Ausführungen eines von ihnen, fehlt es an einer tragfähigen Tatsachengrundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts (§ 286 ZPO). Damit ist das rechtliche Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG) derjenigen Partei verletzt, die sich das ihr günstige Beweisergebnis zu eigen gemacht hat. So entschied es aktuell der BGH. |
1. Grundsatzentscheidung des BGH
Die BGH-Entscheidung (5.11.19, VIII ZR 344/18, Abruf-Nr. 212697) erging in einer kaufrechtlichen Sache. Die Grundsätze sind aber allgemeingültig und haben daher auch in Bereichen Geltung, die besonders Senioren betreffen. Besondere Bedeutung erlangen sie u. a. in den Bereichen BUZ und Unfallversicherung, in denen es um körperliche Beeinträchtigungen etc. geht.
2. Über allem steht das Gebot rechtlichen Gehörs
Das Gebot rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen. In den Entscheidungsgründen müssen die wesentlichen Tatsachen- und Rechtsausführungen verarbeitet werden.
Wenn ein bestimmter Vortrag einer Partei den Kern des Parteivorbringens darstellt und für den Prozessausgang von entscheidender Bedeutung ist, hat das Gericht die Pflicht, die vorgebrachten Argumente zu würdigen und in den Entscheidungsgründen hierzu Stellung zu nehmen (so schon BVerfG 27.2.18, 2 BvR 2821/14, NJW-RR 18, 694 Rn. 18 m. w. N.).
Dabei ist zu beachten, dass sich eine Partei die bei einer Beweisaufnahme zutage tretenden, ihr günstigen Umstände ‒ und damit auch die Ausführungen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen ‒ regelmäßig zumindest hilfsweise zu eigen macht. So wird der Inhalt dieser Ausführungen auch zum Inhalt des Parteivorbringens.
PRAXISTIPP | Um jede Unklarheit insoweit zu vermeiden, sollten Sie die für Ihre Partei vorteilhaften Ausführungen des Sachverständigen in einem Schriftsatz aufzeigen bzw. ggf. wiederholen und sich ausdrücklich zu eigen machen. |
3. Das muss bei Widersprüchen passieren
Ergeben sich zwischen den ‒ für Ihre Partei günstigen ‒ Feststellungen eines gerichtlich bestellten Sachverständigen und denjenigen anderer sachkundiger Personen ‒ beispielsweise eines Privatgutachters ‒ Widersprüche, muss das Gericht diesen nachgehen. Erkennbar widersprüchliche Gutachten sind keine ausreichende Grundlage für die Überzeugungsbildung des Gerichts. Da Art. 103 Abs. 1 GG als Prozessgrundrecht sichern soll, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, muss das Gericht die einander widersprechenden Ausführungen sorgfältig und kritisch würdigen sowie den Sachverhalt weiter aufklären. Hierzu hat der BGH eine dreistufige Vorgehensweise vorgegeben:
- In welcher (geeigneten) Weise der Tatrichter seiner Pflicht zur Aufklärung des Widerspruchs nachkommt, steht grundsätzlich in seinem Ermessen. Zweckmäßigerweise kann das Gericht den Sachverständigen unter Gegenüberstellung mit dem Privatgutachter anhören (vgl. BGH NJW-RR 09, 1192 Rn. 7; NJW-RR 11, 704 Rn. 8).
- Kann der Sachverständige im Ergebnis die sich aus dem Privatgutachten ergebenden Einwendungen nicht ausräumen, muss der Tatrichter im Rahmen seiner Verpflichtung zur Sachaufklärung erforderlichenfalls gemäß § 412 Abs. 1 ZPO ein weiteres Gutachten einholen (vgl. BGH VersR 04, 790 unter II 1 a; NJW 16, 639 Rn. 5).
- Erst wenn solche Aufklärungsbemühungen erfolglos geblieben sind, dürfen Diskrepanzen vom Tatrichter frei gewürdigt werden. Dabei muss das Gericht jedoch die einander widersprechenden Ansichten der Gutachter gegeneinander abwägen sowie mit einleuchtender und logisch nachvollziehbarer Begründung einem von ihnen den Vorzug geben (vgl. BGH VersR 08, 1676 Rn. 11; NJW-RR 19, 17 Rn. 19).
4. Folgen falscher Würdigung
Hält sich das Gericht nicht an diese Vorgaben, handelt es sich dabei nicht „lediglich“ um einen Fehler im Rahmen der Beweiswürdigung (§ 286 ZPO), welcher revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbar wäre (st. Rspr.; vgl. BGH NJW 17, 2819 Rn. 24). Vielmehr beruht die Würdigung des Gerichts auf einer nicht tragfähigen Tatsachengrundlage. Es hat bei seiner Beweiswürdigung entscheidungserheblichen Klägervortrag übergangen, den Prozessstoff somit nicht vollständig hinsichtlich der für die Überzeugungsbildung wesentlichen Aspekte gewürdigt und damit das Verfahrensgrundrecht der betroffenen Partei aus Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Im Ausgangsfall hat der BGH daher auf die Nichtzulassungsbeschwerde das OLG-Urteil aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Weiterführender Hinweis
- Was Sie bei widersprüchlichen Gutachten berücksichtigen müssen: Lücke, VK 09, 37