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· Fachbeitrag · Rechtsprechungsübersicht

Merkzeichen und Schwerbehinderung

von Rechtsanwaltsfachangestellten Christian Noe, Leipzig

| Die Sozialgerichte haben in letzter Zeit häufig Entscheidungen zur Schwerbehinderteneigenschaft sowie zu den Voraussetzungen für die Zuerkennung von Merkzeichen getroffen. Nachstehend ein Überblick über die wichtigsten Entscheidungen. |

1. Merkzeichen „aG“: Straßenverkehrsrechtliche Sicht

Stellt ein Sachverständiger fest, dass der Kläger unter bestimmten geschützten Bedingungen (in geschlossenen Gebäuden auf hindernisfreien Wegen) längere Wegstrecken zurücklegen kann, steht dies der Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ nicht entgegen. Ist der Kläger praktisch von den ersten Schritten außerhalb seines Kraftfahrzeugs an nur noch mit fremder Hilfe in der Lage eine Wegstrecke zurückzulegen, liegen die Voraussetzungen für das Merkzeichen vor. Zu berücksichtigen sind dabei das Gehen in einem normalen Lebensumfeld mit Bordsteinkanten, abfallenden und ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten (straßenverkehrsrechtliche Sicht), auf die der Kläger auf den ersten Schritten nach Verlassen des Fahrzeuges trifft (LSG Berlin-Brandenburg 15.1.15, L 13 SB 22/14, Abruf-Nr. 143999).

2. Pauschaler Freibetrag

Die Anerkennung eines pauschalen Freibetrags wegen Schwerbehinderung setzt jedenfalls voraus, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 30 SGB XII vorliegen (z.B. volle Erwerbsminderung nebst Schwerbehindertenausweis mit Merkzeichen „G“, Bezug Eingliederungshilfe). Mehrbedarfe nach § 30 SGB XII können pauschal vom Einkommen abgesetzt werden. Dies setzt aber ebenfalls voraus, dass die sozialrechtlichen Tatbestandsvoraussetzungen für den Mehrbedarf dargelegt und glaubhaft gemacht werden (LAG Köln 4.11.14, 11 Ta 147/14, Abruf-Nr. 173821).

3. Notwendigkeit Kfz bei Wiedereingliederungsmaßnahme

Benötigt ein Antragsteller ein Kraftfahrzeug für die Teilnahme an einer beruflichen Wiedereingliederungsmaßnahme, so handelt es sich bei der begehrten Leistung um eine solche zur Teilhabe am Arbeitsleben. Bei Bezug von Leistungen nach dem SGB II als erwerbsfähiger Leistungsberechtigter ist der Grundsicherungsträger vorrangig zuständig für die berufliche Eingliederung (SG Detmold 28.10.14, S 8 SO 46/13, Abruf-Nr. 144000).

4. Befristung des Schwerbehindertenausweises

Wird mit Bescheid ein GdB zunächst unbefristet festgestellt, besteht kein Anspruch auch auf einen unbefristeten Schwerbehindertenausweis. Ausweise für schwerbehinderte Menschen sind stets für die Dauer von längstens fünf Jahren zu befristen (§ 6 Abs. 2 SchwAwV). Nur wenn eine wesentliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nicht zu erwarten ist, kann der Ausweis unbefristet erteilt werden (LSG Hamburg, 19.1.15, L 3 SB 7/13, Abruf-Nr. 144001).

5. Merkzeichen „RF“: Keine vollständige Gebührenbefreiung

Das Merkzeichen „RF“ berechtigt nicht die Forderung nach einer vollständigen Freistellung vom Rundfunkbeitrag. Die Ermäßigung für behinderte Menschen auf (nur) ein Drittel (5,83 EUR) ist nicht rechtswidrig. Unterstellt, dass das Merkzeichen „RF“ als Nachweis auch für den (seit 1.1.13) neuen Rundfunkbeitrag gilt, kann die Rechtsfolge der Beitragsermäßigung - auch der Höhe nach - ausschließlich § 4 Abs. 2 S. 1 RBStV entnommen werden (VG Stuttgart 1.10.14, 3 K 4897/13, Abruf-Nr. 144002).

6. Beweisfunktion gegenüber Finanzgericht

Angemessene Aufwendungen für den Einbau eines Aufzugs sind als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen (§ 33 Abs. 1 EStG), wenn die medizinische Notwendigkeit nachgewiesen ist und ein Sachverständigengutachten aus einem anderen Verfahren ergibt, dass ein alternativ günstigerer Treppenlift unter Einhaltung technischer Vorschriften dazu nicht möglich ist. Bei der Beurteilung der medizinischen Notwendigkeit kommt dem Schwerbehindertenausweis eine drittwirkende Beweisfunktion als öffentliche Urkunde (§ 417 ZPO) auch gegenüber dem Finanzgericht zu (FG Köln 27.8.14, 14 K 2517/12; BFH 11.3.14, VI B 95/13, Abruf-Nr. 141260).

7. Voraussetzungen Merkzeichen „aG“

Die Zuerkennung des Merkzeichens „aG“ kommt nicht in Betracht, soweit ein Betroffener, der nicht zu dem in der Verwaltungsvorschrift zu § 46 Abs. 1 Nr. 11 StVO ausdrücklich aufgeführten Personenkreis gehört, noch in der Lage ist, gegebenenfalls unter Zuhilfenahme eines Rollators eine gewisse Wegstrecke zurückzulegen, ohne dass er von Beginn an große Anstrengungen aufwenden muss. Dies gilt auch im Fall einer gewissen Sturzneigung, soweit diese nicht Anlass ist, dass man dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen ist (SG Aachen 19.8.14, S 12 SB 1088, Abruf-Nr. 144003).

8. Angsterkrankung: Merkzeichen „G“ und „B“

Eine Angsterkrankung kann zu einer psychogenen Gangstörung führen und im Hinblick auf die Folgen für die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel mit der Situation bei einem Anfallsleiden vergleichbar sein. Mit einer erheblichen Einschränkung der Gehfähigkeit liegt ein behinderungsbedingter Zustand vor, der ein regelmäßiges Angewiesensein auf fremde Hilfe bedingen kann.

 

Auch wenn der Zustand (therapeutisch) verbesserbar ist, ist die derzeitige psychische Situation/deren Absehbarkeit zu berücksichtigen und infolgedessen von einem dauerhaften Zustand auszugehen (SG Augsburg 31.7.14, S 8 SB 301/13, Abruf-Nr. 144004).

9. Mitteilungspflicht bei Bewerbungen

Für schwerbehinderte Bewerber spielt es keine Rolle mehr, ob der Arbeitgeber eine Schwerbehinderung nachfragt oder nicht. Die Schwerbehinderteneigenschaft muss klar erkennbar im Bewerbungsschreiben mitgeteilt werden. Die unauffällige Information oder Mitteilung (z.B. Kopie des Schwerbehindertenausweises als Anlage) genügt nicht. Dies gilt auch dann, sofern bereits in einer früheren Bewerbung beim gleichen Arbeitgeber auf die Schwerbehinderung hingewiesen wurde (BGH 18.9.14, 8 AZR 759/13, Abruf-Nr. 174553).

 

PRAXISHINWEIS | Die BGH-Entscheidung hat für schwerbehinderte Bewerber weitreichende Folgen, da der Verlust des besonderen Kündigungsschutzes (§ 85 ff. SGB IX) droht, wenn dem Arbeitgeber die Schwerbehinderung nicht an deutlicher Stelle (in der Regel das Bewerbungsanschreiben) mitgeteilt wird.

 

10. Abschreckende Einladung zum Vorstellungsgespräch

Stellt ein öffentlicher Arbeitgeber einem schwerbehinderten Bewerber ein Vorstellungsgespräch in Aussicht, teilt aber gleichzeitig mit, dass dessen Bewerbung nach der „Papierform“ nur eine geringe Erfolgsaussicht habe, begründet dies die Vermutung der Benachteiligung (§ 22 AGG) des Bewerbers (LAG Baden-Württemberg 3.11.14, 1 Sa 13/14, Abruf-Nr. 174572).

11. Kosten: Antrag auf „höheren“ oder „Mindest-GdB“

Klageanträge auf Gewährung eines „höheren GdB“ oder eines „Mindest-GdB“ sind hinsichtlich der Kostenentscheidung nicht grundsätzlich auf die Gewährung eines Gesamt-GdB von 100 gerichtet. Vorliegend wurde klageweise die Zuerkennung eines GdB von mindestens 50 Prozent beantragt (bis dahin anerkannt: GdB von 40). Nach Einholung eines Gutachtens einigten sich die Parteien vergleichsweise auf Anerkennung eines GdB von 50. Das SG entschied, dass die Beklagte die außergerichtlichen Kosten des Klägers vollständig zu tragen habe. Nach Rechtsprechung des BSG sei ein behinderter Mensch nach Anhebung des GdB auf den von ihm genannten Mindestwert nicht mehr beschwert (9.8.95, 9 RVs 7/94). Ist der Kläger „nicht mehr beschwert“, könne dies nur bedeuten, dass er mit seinem Klagebegehren voll durchgedrungen ist. Dabei ist unerheblich, dass es schon aus verfahrens- bzw. prozessökonomischen Gründen geboten sein dürfte, bei entsprechenden Beweisergebnissen auch einen höheren als den ausdrücklich beantragten Mindest-GdB anzuerkennen (SG Köln 27.1.15, S 16 SB 1593/13, Abruf-Nr. 144005).

 

Weiterführende Hinweise

  • Schwerbehinderte Mandanten richtig vertreten (Noe, SR 15, 15)
  • So wenden Sie die Schutzvorschriften für schwerbehinderte Arbeitnehmer optimal an (Noe, SR 13, 15)
Quelle: Ausgabe 03 / 2015 | Seite 44 | ID 43236713