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· Fachbeitrag · Senioren im Strafvollzug

JVA-Senioreneinrichtungen: Das müssen Sie wissen

von Rechtsanwaltsfachangestellter Christian Noe B.A., Leipzig

| Der demografische Wandel spiegelt sich auch in den Justizvollzugsanstalten wider. Bisher noch eine Minderheit, sollen dort bis 2030 30 Prozent mehr Senioren leben. Die Haftanstalten reagieren mit besonderen Abteilungen für ältere Gefangene. Was diese leisten und wie Sie eine Aufnahme oder einen Wechsel inhaftierter Mandanten dorthin unterstützen, erklärt dieser Beitrag. |

1. Eine neue Häftlingsgeneration

Titel wie „Seniorenabteilungen“ oder „Abteilungen für Lebensältere“ tragen die speziellen Einrichtungen, die Justizvollzugsanstalten für ältere Insassen erarbeitet haben. Viele Inhaftierte sind zwischen 50 und 70 Jahre alt. Auch wenn Gerontologie und Gerontopsychologie in den vergangenen Jahren den Umgang mit altersbedingten Krankheiten und den sie begleitenden psychischen Entwicklungen verbessert haben, profitieren Inhaftierte hiervon oft wenig. Viele Haftanstalten sind auf die körperlich angemessene und psychosoziale Betreuung älterer Gefangener nicht vorbereitet. Auch die Altersstruktur in Gefängnissen kann diese Gruppe zu Außenseitern oder gar Opfern von Repressalien werden lassen.

 

Bundesweit haben Justizvollzugsanstalten (JVA) wie in Waldheim, Detmold oder Singen gezielt auf diese altersgerechten Bedürfnisse reagiert und Einrichtungen mit besonderen Konzepten zur räumlichen und betreuenden Infrastruktur geschaffen.

 

PRAXISHINWEIS | Unter älteren Häftlingen finden sich viele Menschen, die zuvor straffrei gelebt haben und das erste Mal eine Hafterfahrung machen. 30 Prozent der über 60-jährigen Insassen verbüßt ein Strafmaß von mehr als fünf Jahren, jeder achte Insasse eine lebenslange Freiheitsstrafe. Die ohnehin schwierige Eingewöhnung in den Haftalltag ist für ältere Häftlinge, die zuvor Jahrzehnte in stabile soziale Netzen und feste Tagesabläufe eingebunden waren, noch deutlich schwerer.

 

2. Was leisten Seniorenabteilungen?

Die von den JVA eingerichteten Abteilungen oder Außenstellen unterscheiden sich von den Abläufen im regulären Strafvollzug neben dem überdurchschnittlichen Durchschnittsalter insbesondere durch intensivere Betreuung, aktive Einbindung der Insassen sowie individuelle Besuchsregelungen.

 

  • Hafteinrichtungen für Lebensältere: Merkmale
Einrichtung und Betreuung
Besuch und Ausgang

Gezielte medizinische Versorgung (z.B. stationärer Ergotherapeut)

Pflegekräfte unterstützen Erhalt der Mobilität

 

Alterserkrankungen und Therapieunterstützung (begrenzt) im Haftalltag (Therapeutenbesuch) berücksichtigen, wobei die Möglichkeiten der Abteilungen variieren.

Umfangreichere Besuchsmöglichkeiten für Angehörige und gesetzliche Vertreter

 

Enge Zusammenarbeit mit Bezugspersonen und Besuchern, um vollzugsöffnende Maßnahmen und Entlassungsvorbereitung zu planen.

Barrierefreies Haftgelände bzw. innere Räumlichkeiten (z.B. Flure und Zellen Rollstuhl geeignet)

 

Psychologische Betreuung

 

Aktive Kommunikation zw. Häftlingen, Pflegekräften und JVA-Personal: Förderung der Verantwortung der Insassen für sich selbst, Selbstständigkeit und Fähigkeit, eine eigene Tagesstruktur aufrechtzuerhalten

Förderung der Mobilität: Viel Bewegung ermöglichen, daher umfassende Ausgangszeiten bzw. täglicher Aufenthalt auf Gelände, möglich Organisation von Sportabenden, Fitnessräume

 

Geringere Sicherheitsstufen als im regulären Vollzug, da von geringerer Fluchtgefahr auszugehen ist

Koch- oder sonstige Gruppen, Beschäftigungsangebote (z.B. Buchbinderei, Gartenbau)

 

Gemeinschaftsräume, -küche, Spieleabende

 

Möglichkeiten, sich zu unterschiedlichen Zeiten kleine Mahlzeiten zuzubereiten

 

Umfassende und frühzeitig einsetzende Wiedereingliederungshilfen

Rückzugsgebiete und -möglichkeiten, die über den Tag genutzt werden können,

 

Aktiver Einbezug in den Tagesablauf (Mitgestaltung)

 

Erhalt bzw. Wiederanknüpfung von/an sozialen Kontakten des Insassen zu Ehepartnern, Verwandten, Freunden

 

Deshalb wesentlich: Kommunikation und Kennenlernen zw. JVA-Personal und Besucher (s.o.)

Gegebenenfalls Zulassung von Bargeldbesitz

 

Frühzeitige Entlassungsvorbereitung durch interne Sozialdienste (z.B. Sicherung der Altersversorgung)

Ggf. Begleitausgang mit Wander-, Einkaufsprogrammen o.Ä., Teilnahme an Präventiv-Programmen mit jungen Straftätern („alt trifft jung“)

Eine Rückverlegung in reguläre JVA-Abteilung ist möglich (z.B. bei Fehlverhalten)

 

 

PRAXISHINWEIS | Das Angebot der Senioren-Einrichtungen der bundesweiten JVAen ist nicht einheitlich. Während die eine Einrichtung bestimmte, einfach gelagerte Pflegehilfen organisiert, ist dies in einer anderen nicht (oder noch nicht) möglich. Nicht selten liegt der Fall vor, dass intensivere Pflegeleistungen oder die Betreuung bei schweren Erkrankungen nicht dort, sondern lediglich in den Haftkrankenhäusern geleistet werden können.

 

3. JVA-Gestaltung ist Ländersache

Grundsätzlich fallen Planung und Einrichtung der Abteilungen dem Bundesland zu. Daher können auch die Voraussetzungen für eine Aufnahme oder den Wechsel von einer regulären JVA-Abteilung in eine Seniorenabteilung sowie das Angebot dort voneinander abweichen. Rechtsanwälte und Berater sollten daher den Einzelfall individuell prüfen, ob die landesrechtlichen Voraussetzungen der jeweiligen Abteilung erfüllt werden können.

 

  • Voraussetzungen für Aufnahme oder JVA-Wechsel
Person
Strafmaß und Verhalten

Alter (variiert, z.B. ab 55. oder 63. Lebensjahr)

Dauer der Haftstrafe (z.B. mind. 12 oder 15 Monate)

Vorerkrankungen und Prognose

Führung und Verhalten, Eignung

Kann Versorgung und notwendige medizinische Betreuung geleistet werden?

keine Fluchtversuche bzw. Einschätzung geringer Fluchtgefahr, Stellungnahme bisheriger JVA

Einverständnis/Wunsch auf Aufnahme/Verlegung

Länderübergreifende Verlegung möglich? (Genehmigung der Justizministerien erforderlich)

Stets prüfen: Erreichen Angehörige/Besucher die Seniorenabteilung, wenn diese weiter entfernt? Wie vertraut/eingebunden ist der Inhaftierte in bisheriger JVA? Bereitschaft für neues soziales Umfeld?

Ansprechpartner: Justizministerium des Bundeslandes/Anstaltsleitung der Seniorenabteilung (JVA senden auf Anfrage Informationsflyer/Broschüren zu Seniorenabteilungen zu).

 

 

Baden-Württemberg z.B. legt im Vollstreckungsplan des Landes fest, welche Person in welcher Einrichtung seine Haftstrafe verbüßen muss. Dabei haben Rechtsanwälte keinen Einfluss auf die Verlegung eines Gefangenen. Zudem müssen weitere Kriterien erfüllt sein, die häufig der Einzelfallprüfung unterliegen.

 

Die Abteilung Kornhaus der JVA Schwalmstadt z.B. sieht in ihrem Konzept „Ältere Gefangene“ die Aufnahme vor, sofern diese mindestens 55 Jahre alt und als ruhig, wenig gefährlich und wenig fluchtgefährdet eingestuft werden. Die Eignung wird in einer Behandlungs- bzw. Vollzugsplankonferenz festgestellt. Die Entscheidung trifft die Entsendeanstalt im Einvernehmen mit der Leitung der JVA Schwalmstadt.

 

PRAXISHINWEIS | Einzelfallentscheidungen? Die bedeuten häufig auch, dass sich Rechtsanwalt oder Betreuer mit Anregungen und Hinweisen für eine Aufnahme oder Verlegung einsetzen und Entscheidungsprozesse beeinflussen können. Entsteht der Eindruck, dass der Mandant in der bisherigen JVA z.B. psychischem Druck ausgesetzt ist oder mobilitätsfördernde Maßnahmen seinen Gesundheitszustand verbessern könnten, kann die Aufnahme auf ärztliche Empfehlungen, Befunde oder Gutachten gestützt werden. Auch eine hausärztliche Empfehlung/Prognose kann hilfreich sein.

 

 

Der künftige Ausbau von Seniorenabteilungen wird dafür sorgen, dass gegebenenfalls auch die JVA, in der sich derzeit Ihr Mandant aufhält, eine solche anbieten wird. Haftplätze dort sind begehrt und schnell entstehen Wartelisten. Informieren Sie sich regelmäßig bei den Justizministerien über aktuelle Entwicklungen und Aufbaupläne solcher Abteilungen.

4. Mandantenbetreuung nach Aufnahme

Die Mandantenbetreuung endet nicht mit der erfolgreichen Aufnahme. Die ersten Wochen können kritisches Potenzial haben, da sich der Insasse an ein neues soziales Umfeld gewöhnen muss. Dies steht auch in Relation zu der Aufenthaltsdauer in der JVA zuvor und den (vertrauten) Bindungen, die aufgegeben werden.

 

Nutzen Sie die ersten Wochen für einen intensiven Kontakt zu Anstaltsleitung und Mandant, fördern Sie Angehörigenbesuch in der Anfangszeit und motivieren Sie den Mandanten, Gespräche zu suchen und sich mit dem Umfeld vertraut zu machen.

 

  • Haftantritt und erste Haftwochen
Bedürfnisse
Erfahrungen

Fördern Rückzugsmöglichkeiten die Isolation?

 

Wie schätzt die Anstaltsleitung den Mandanten ein?

Gefühl der Ausweglosigkeit, „Mitnahme“ schlechter Erfahrungen und daher Skepsis.

Greift Gegenwirkung zu Einsamkeit nach einem langen Leben in stabilen sozialen Netzwerken (Familie, Freunde, Verein)?

Probleme der Mitgefangenen: Krankheit, Tod und Suizid von Häftlingen sind schwere psychische Belastungen.

Vermeidung von Konfrontationen, Aggressivität und gewalttätigen Eskalationen ist ein Grundbedürfnis.Empfindet der Mandant diese als erfüllt?

Wie intensiv gliedert sich Mandant ein und profitiert von den Angeboten?

 

5. Die psychische Komponente

Ein häufig mit Rechtsanwälten nicht besprochenes Thema beschäftigt viele ältere Inhaftierte, insbesondere wenn sie bereits krank sind oder längere Haftzeiten bevorstehen: Wie entwickeln sich Beschwerden und Krankheitsbilder weiter? Lassen sich bestimmte Lebenswünsche nach der Haft noch verwirklichen (Reisen) und wird man das Gefängnis vielleicht nicht mehr lebend verlassen?

 

Die Reflektion des bisherigen Lebens und die Auseinandersetzung mit Fehlern, dem Verlust langjähriger Partnerschaften und der Endlichkeit des eigenen Lebens geschieht bei älteren Inhaftierten auf einer anderen, schwieriger zu bewältigenden Ebene, die häufig psychologischer Unterstützung bedarf.

 

PRAXISHINWEIS | Ermuntern Sie Ihren Mandanten, psychologische Hilfen in Anspruch zu nehmen, wenn Sie den Eindruck gewinnen, dass sich Belastungen, Persönlichkeitsveränderungen oder Auffälligkeiten entwickeln. Dies ist besonders wichtig, da bereits vorhandene Krankheiten durch psychische Belastungen verschlimmert werden oder sich neue Krankheitsbilder (z.B. Angststörungen) entwickeln können.

 

 

Checkliste / So recherchieren Sie die wichtigsten Fakten

  • Seniorenabteilungen sind Ländersache. Über das Vorhandensein oder den geplanten Aufbau solcher Abteilungen informiert auf Anfrage das Justizministerium/die Landesjustizverwaltungen des Bundeslandes und ergänzend die Anstaltsleitungen.

 

  • Erfragen Sie frühzeitig die konkreten Aufnahmebedingungen (vgl. oben S. 70) und prüfen Sie Eignung und bisheriges Haftverhalten.

 

  • Frühzeitiges Einholen von Dokumenten und ärztlichen Attesten oder hausärztlichen Empfehlungen, die einen Antrag auf Aufnahme/Verlegung unterstützen können.

 

  • Früher Einbezug der Angehörigen des Mandanten: Informieren Sie über die Möglichkeiten und motivieren Sie diese, auf den Mandanten bei der Frage nach Verlegung einzuwirken, ihn zu unterstützen und gegebenenfalls Ängste zu nehmen.

 

  • Entstehen größere Distanzen (Seniorenabteilung weiter entfernt), sollten Angehörige trotzdem dorthin reisen bzw. mühelos den Kontakt aufrechterhalten können.

 

  • Technische Infrastruktur der Abteilung (z.B. Internettelefonie) erfragen, die den Insassen gegebenenfalls auch den visuellen Kontakt zu Angehörigen via Videoübertragung möglich macht.
 

6. Ein Anwalt ist nicht notwendig

Meist geht der Wunsch auf Aufnahme oder den Wechsel in eine Seniorenabteilung vom Mandanten aus. Einen entsprechenden Wunsch kann er gegenüber der Anstaltsleitung oder dem dortigen Sozialdienst äußern, sodass es zunächst keine juristisch nennenswerten Hürden geben mag. Grundsätzlich ist daher keine anwaltliche Hilfe erforderlich. Wünscht der Mandant eine aktive Unterstützung, die gegebenenfalls mit zusätzlichem Aufwand verbunden ist (Kontaktaufnahme mit der JVA, behandelnden Ärzten, Korrespondenz mit den JVA/Landesjustizverwaltungen) und auch juristische Prüfung erfordert, sollte sich der Rechtsanwalt auch Gedanken um seine Vergütung machen.

 

In einer kommenden Ausgabe stellen wir verschiedene Varianten vor, welcher erhöhte Aufwand anfallen und welche Vergütung dabei abgerechnet werden kann.

Quelle: Ausgabe 04 / 2015 | Seite 68 | ID 43273609