Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww

· Fachbeitrag · Verfall des Urlaubs bei Krankheit

Gilt die 15-Monatsfrist auch bei unterlassener Mitwirkung des Arbeitgebers?

von RA Christian Deutz, FA Arbeitsrecht, Aachen

| Das deutsche Urlaubsrecht ist in den zurückliegenden Jahren stark durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verändert, geprägt und zum Teil auch „revolutioniert“ worden. Der EuGH musste wiederholt prüfen, ob einzelne Vorschriften insbesondere des BUrlG und deren Auslegung durch die nationalen Arbeitsgerichte mit den europarechtlichen Bestimmungen vereinbar sind. So auch in einer aktuell mit Spannung erwarteten Entscheidung zum Verfall von Urlaubsansprüchen bei Krankheit. |

1. Die gesetzliche Ausgangslage

§ 7 Abs. 3 BUrlG regelt, dass der Urlaub im laufenden Kalenderjahr gewährt und genommen werden muss. Der Urlaub darf nur auf das nächste Kalenderjahr übertragen werden, wenn dringende betriebliche oder in der Person des Arbeitnehmers liegende Gründe dies rechtfertigen. Im Fall der Übertragung muss der Urlaub in den ersten drei Monaten des folgenden Kalenderjahres gewährt und genommen werden. Gerade diese Vorschrift hat das BAG wiederholt unionsrechtskonform ausgelegt.

2. Die Rechtsprechung des EuGH und des BAG

Am 6.11.18 hatte der EuGH (C-684/16, Abruf-Nr. 205302) in einer viel beachteten Entscheidung entschieden, dass die maßgeblichen europäischen Regelungen zur Arbeitszeitgestaltung dahingehend auszulegen sind, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen. So auch der Regelung im BUrlG, nach der ein Arbeitnehmer, der im betreffenden Bezugszeitraum (also im Kalenderjahr) keinen Antrag auf bezahlten Jahresurlaub gestellt hat, am Ende des Bezugszeitraums die ihm zustehenden Urlaubstage verliert. Und zwar automatisch und ohne vorherige Prüfung, ob er vom Arbeitgeber, z. B. durch angemessene Aufklärung, tatsächlich in die Lage versetzt wurde, diesen Anspruch wahrzunehmen.

 

Der Arbeitnehmer verliert also weder seine erworbenen Ansprüche auf bezahlten Jahresurlaub noch (entsprechend im Fall der Beendigung des Arbeitsverhältnisses) die finanzielle Abgeltung für nicht genommenen Urlaub, wenn der Arbeitgeber nicht nachweisen kann, dass er mit aller gebotenen Sorgfalt gehandelt hat, um den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage zu versetzen, den ihm zustehenden bezahlten Jahresurlaub zu nehmen.

 

Die Folge hiervon ist, dass der Arbeitgeber verpflichtet ist, „konkret und in völliger Transparenz“ dafür zu sorgen, dass der Arbeitnehmer auch tatsächlich in der Lage ist, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Hierzu muss er ihn ‒ gegebenenfalls förmlich ‒ auffordern, dies zu tun, und ihm klar und rechtzeitig mitteilen, dass nicht genommener Urlaub am Ende des Bezugszeitraums (oder eines zulässigen Übertragungszeitraums) verfallen wird. Diese Verpflichtung geht aber nicht soweit, dass der Arbeitgeber seinen Arbeitnehmer zwingen muss, seinen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub tatsächlich wahrzunehmen.

3. Die Folgen für die betriebliche Praxis

Kann der Arbeitgeber nicht nachweisen, dass er den Arbeitnehmer angemessen aufgeklärt hat, verstößt das Erlöschen des Urlaubsanspruchs am Ende des Bezugs- (oder zulässigen Übertragungs-)Zeitraums gegen zwingendes Europarecht.

 

MERKE | Kann der Arbeitgeber dagegen den ihm insoweit obliegenden Beweis erbringen, und zeigt sich, dass der Arbeitnehmer aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Konsequenzen darauf verzichtet hat, seinen bezahlten Jahresurlaub zu nehmen, stehen die entsprechenden europarechtlichen Bestimmungen dem Verlust dieses Anspruchs nicht entgegen.

 

Mit seiner Entscheidung vom 19.2.19, 9 AZR 541/15, Abruf-Nr. 207302, hat das BAG seine Rechtsprechung zu § 7 Abs. 3 BUrlG weiterentwickelt. Es hat die genannte Entscheidung des EuGH berücksichtigt und die vom EuGH aufgestellten Grundsätze übernommen.

 

Für Arbeitgeber bedeutet diese neue Rechtsprechung einen weitaus höheren Verwaltungsaufwand. Es muss regelmäßig geprüft werden, wie viel Urlaub der einzelne Arbeitnehmer im Kalenderjahr bereits genommen hat und wie viele Urlaubstage noch offen stehen.

 

Mit Urteil vom 19.2.19, 9 AZR 423/16, Abruf-Nr. 209604, hat das BAG dann praktische Hinweise erteilt. Weil keine konkreten gesetzlichen Vorgaben bestehen, kann der Arbeitgeber grundsätzlich selber entscheiden, mit welchen Mitteln er seine Mitwirkungsobliegenheiten erfüllt. Sie müssen jedoch zweckentsprechend sein. So müssen sie insbesondere den Arbeitnehmer in die Lage versetzen, in Kenntnis aller relevanten Umstände frei darüber zu entscheiden, ob er seinen Urlaub in Anspruch nimmt. Ob der Arbeitgeber das Erforderliche getan hat, um seinen Mitwirkungspflichten zu genügen, ist unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls festzustellen.

 

MERKE | Nach dieser Entscheidung des BAG muss der Arbeitgeber sich bei Erfüllung seiner Mitwirkungsobliegenheiten auf einen „konkret“ bezeichneten Urlaubsanspruch eines bestimmten Jahres beziehen und den Anforderungen an eine „völlige Transparenz“ genügen. Er kann diese Obliegenheiten regelmäßig z. B. dadurch erfüllen, dass er dem Arbeitnehmer zu Beginn des Kalenderjahres in Textform mitteilt, wie viele Arbeitstage Urlaub ihm im Kalenderjahr zustehen, ihn auffordert, seinen Jahresurlaub so rechtzeitig zu beantragen, dass er innerhalb des laufenden Urlaubsjahres genommen werden kann. Zudem muss er ihn über die Konsequenzen belehren, die eintreten, wenn der Urlaub nicht entsprechend der Aufforderung beantragt wird.

 

Die Anforderungen an eine „klare“ Unterrichtung sind regelmäßig durch den Hinweis erfüllt, dass der Urlaub grundsätzlich am Ende des Kalenderjahres verfällt, wenn der Arbeitnehmer in der Lage war, seinen Urlaub im Kalenderjahr zu nehmen, er ihn aber nicht beantragt. Nimmt der Arbeitnehmer in diesem Fall seinen bezahlten Jahresurlaub nicht in Anspruch, obwohl er hierzu in der Lage war, geschieht dies aus freien Stücken und in voller Kenntnis der sich daraus ergebenden Folgen.

 

Rein abstrakte Angaben ‒ etwa im Arbeitsvertrag oder in einem Merkblatt ‒werden den Anforderungen einer konkreten und transparenten Unterrichtung in der Regel nicht genügen. Andererseits verlangt der Zweck der vom Arbeitgeber zu beachtenden Mitwirkungsobliegenheiten grundsätzlich nicht, dass diese Mitteilung ständig aktualisiert wird, etwa anlässlich jeder Änderung des Umfangs des Urlaubsanspruchs.

 

MERKE | Hat der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten ordnungsgemäß erfüllt und den Urlaubsanspruch an das Urlaubsjahr gebunden und verlangt der Arbeitnehmer dennoch nicht, ihm Urlaub zu gewähren, verfällt sein Urlaubsanspruch mit Ablauf des Urlaubsjahres.

 

Erfüllt der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheiten nicht, tritt der am 31.12. des Urlaubsjahres nicht verfallene Urlaub zu dem Urlaubsanspruch hinzu, der für den Arbeitnehmer am 1.1. des Folgejahres neu entsteht. Dieser Teil des Urlaubsanspruchs ist aber gegenüber dem Teil, den der Arbeitnehmer zu Beginn des aktuellen Urlaubsjahres neu erworben hat, nicht „besser gestellt“. Für ihn gelten ‒ wie für den neu entstandenen Urlaubsanspruch ‒ die gleichen Regelungen. Der Arbeitgeber kann deshalb den uneingeschränkten Aufbau von Urlaubsansprüchen von mehreren Jahren insbesondere dadurch vermeiden, dass er seine Mitwirkungsobliegenheiten für den Urlaub aus zurückliegenden Urlaubsjahren im aktuellen Urlaubsjahr nachholt.

4. Das aktuelle Problem

Aktuell stellt sich in diesem Zusammenhang die Frage, ob im Hinblick auf den Verfall des Urlaubs bei Krankheit die von der Rechtsprechung herangezogene 15-Monatsfrist auch bei einer unterlassenen Mitwirkung des Arbeitgebers im vorgenannten Sinne gilt. Um zu klären, ob und unter welchen Voraussetzungen der Anspruch eines im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers bei seither ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres (oder zu einem späteren Zeitpunkt) verfallen kann, hat das BAG ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH gerichtet.

 

Konkret lauten die Fragen des Vorlagebeschlusses dahingehend, ob die entsprechenden europarechtlichen Regelungen der Arbeitszeitgestaltung und der Charta der Grundrechte der EU der Auslegung einer nationalen Regelung wie § 7 Abs. 3 BUrlG entgegenstehen, der zufolge der bisher nicht erfüllte Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub eines im Verlauf des Urlaubsjahres arbeitsunfähig erkrankten Arbeitnehmers, der den Urlaub vor Beginn seiner Erkrankung im Urlaubsjahr ‒ zumindest teilweise ‒ noch hätte nehmen können, bei ununterbrochen fortbestehender Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach Ablauf des Urlaubsjahres auch in dem Fall erlischt, in dem der Arbeitgeber den Arbeitnehmer nicht durch entsprechende Aufforderung und Hinweise tatsächlich in die Lage versetzt hat, seinen Urlaubsanspruch auszuüben. Und sofern der EuGH dies bejaht, ob unter diesen Voraussetzungen bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit auch ein Verfall zu einem späteren Zeitpunkt ausgeschlossen ist (BAG 7.7.20, 9 AZR 401/19, Abruf-Nr. 216685).

 

Die in dem Verfahren klagende Arbeitnehmerin ist bei der beklagten Arbeitgeberin seit ihrer Erkrankung im Jahr 2017 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Von ihrem Urlaub für das Jahr 2017 nahm sie einige Urlaubstage nicht in Anspruch. Die Beklagte hatte die Klägerin weder aufgefordert, den Urlaub zu nehmen, noch darauf hingewiesen, dass nicht beantragter Urlaub mit Ablauf des Kalenderjahres oder Übertragungszeitraums verfallen kann. Mit der Klage möchte die Klägerin festgestellt haben, dass ihr die noch nicht genommenen Urlaubstage aus 2017 weiterhin zustehen. Sie ist der Ansicht, dass der Urlaub nicht verfallen sei, weil die Beklagte es unterlassen habe, sie rechtzeitig auf den drohenden Verfall hinzuweisen. Die Beklagte hingegen geht davon aus, dass der Urlaubsanspruch aus dem Jahr 2017 spätestens mit Ablauf des 31.3.19 erloschen sei.

 

Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen. Nach Auffassung des BAG kommt es für die Frage eines möglichen Verfalls maßgeblich auf die Auslegung von Unionsrecht an, die wiederum dem EuGH vorbehalten ist. Das BAG hatte sich in seiner Rechtsprechung seinerzeit der Entscheidung des EuGH vom 22.11.11 (C-214/10, Abruf-Nr. 113900) angeschlossen. Danach ist für den Fall, dass der Arbeitnehmer im Urlaubsjahr aus gesundheitlichen Gründen an seiner Arbeitsleistung gehindert war, § 7 Abs. 3 BUrlG dahingehend auszulegen, dass gesetzliche Urlaubsansprüche bei fortdauernder Arbeitsunfähigkeit 15 Monate nach dem Ende des Urlaubsjahres erlöschen.

 

Damit muss der EuGH jetzt die Frage beantworten, ob das Unionsrecht den Verfall des Urlaubsanspruchs nach Ablauf dieser 15-Monatsfrist (oder gegebenenfalls einer längeren Frist) auch dann gestattet, wenn der Arbeitgeber im Urlaubsjahr seine Mitwirkungsobliegenheit nicht erfüllt hat, obwohl der Arbeitnehmer den Urlaub bis zum Eintritt der Arbeitsunfähigkeit zumindest teilweise hätte nehmen können. Bis zu einer Entscheidung des EuGH hat das BAG das Revisionsverfahren ausgesetzt.

5. Fazit und Ausblick

Die Arbeitsrechtswelt sieht der zu erwartenden Entscheidung des EuGH mit Spannung entgegen. Eine sichere Prognose scheint hier kaum möglich.

 

Der Beschluss des BAG verdeutlicht aber eindrucksvoll, dass bei der Ermittlung von Urlaubsansprüchen der bloße Blick ins Gesetz nicht mehr genügt. Die Regelungen des BUrlG sind im Lichte der europarechtlichen Bestimmungen, vor allem der Rechtsprechung des EuGH, zu betrachten und auszulegen.

Quelle: Ausgabe 08 / 2020 | Seite 135 | ID 46718214