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· Fachbeitrag · Akteneinsicht

Endlich: BVerfG entscheidet zu Informationen außerhalb der Bußgeldakte (hier: Rohmessdaten)

| Seit längerer Zeit wird in der verkehrsrechtlichen Rechtsprechung und Literatur um die Frage gestritten, ob der Betroffene zu seiner Verteidigung Zugang zu außerhalb der Akten befindlichen Informationen haben muss, um sich sachgerecht zu verteidigen. Fraglich ist auch, welche Auswirkungen es hat, wenn ihm dieser Zugang nicht gewährt wird. Das BVerfG hat nun zumindest teilweise für die lange erwartete Klarheit gesorgt. |

1. Das Problem

Die Frage der Akteneinsicht spielt insbesondere eine Rolle, wenn die Ergebnisse einer Messung mit einem standardisierten Messverfahren überprüft werden sollen (Stichwort: Rohmessdaten; vgl. dazu Burhoff/Niehaus, Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn. 219 ff.). Die OLG, allen voran das OLG Bamberg haben hier einen Informationsanspruch des Betroffenen weitgehend verneint. In ihrer ablehnenden Haltung haben sie sich auch nicht durch verfassungsrechtliche Rechtsprechung aus dem Saarland beirren lassen (OLG Bamberg VA 18, 141).

 

Nun liegt mit dem Beschluss des BVerfG vom 12.11.20 (2 BvR 1616/18, Abruf-Nr. 219741) endlich eine Entscheidung vor, die hoffentlich zu einer Änderung der Praxis führen wird, zumindest teilweise.

2. Informationen, die nicht Teil der Bußgeldakte sind

Der Beschluss des BVerfG (vorhergehend: OLG Bamberg 19.6.18, 3 Ss OWi 672/18) betraf den Zugang des Betroffenen in einem Bußgeldverfahren wegen Geschwindigkeitsüberschreitung zu Informationen, die nicht Teil der Bußgeldakte waren. Der Betroffene hatte zunächst im Rahmen des Verwaltungsverfahrens u.a. Einsicht in die Lebensakte des verwendeten Messgeräts (PoliScan Speed M1) des Herstellers Vitronic, den Eichschein und die sog. Rohmessdaten verlangt. Diese Informationen befanden sich nicht in der Bußgeldakte. Die Bußgeldstelle gewährte daraufhin Einsicht in die Bußgeldakte, die neben dem Messprotokoll und dem Messergebnis auch den Eichschein des eingesetzten Messgeräts enthielt. Die Bedienungsanleitung zu dem verwendeten Messgerät wurde dem Beschwerdeführer als Datei auf der Internetseite der Bußgeldstelle zugänglich gemacht.

 

Bezüglich der übrigen angefragten Informationen teilte die Behörde mit, dass diese nicht Bestandteil der Ermittlungsakte seien. Sie würden nur auf gerichtliche Anordnung vorgelegt. Einen Antrag des Beschwerdeführers auf gerichtliche Entscheidung (§ 62 OWiG) verwarf das Amtsgericht als unzulässig, da der Betroffene nicht mehr beschwert sei. Aufgrund des Einspruchs werde nunmehr im gerichtlichen Bußgeldverfahren eine umfassende Prüfung erfolgen, ob der Betroffene die ihm vorgeworfene Geschwindigkeitsüberschreitung tatsächlich begangen habe.

 

In der Hauptverhandlung hat das AG die Anträge des Betroffenen auf Aussetzung der Hauptverhandlung und gerichtliche Entscheidung gemäß § 46 Abs. 1 OWiG in Verbindung mit § 238 Abs. 2 StPO zurückgewiesen und ihn verurteilt.

 

Das OLG Bamberg hat seine Rechtsbeschwerde gegen die amtsgerichtliche Verurteilung verworfen. Die Verfassungsbeschwerde dagegen hatte Erfolg: Das BVerfG sieht das Recht des Betroffenen auf ein faires Verfahren aus Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 20 Abs. 3 GG verletzt.

 

Auf folgende Punkte aus der Entscheidung des BVerfG ist hinzuweisen:

 

  • Das BVerfG bestätigt die im Fall eines standardisierten Messverfahrens nach der obergerichtlichen Rechtsprechung reduzierte Sachverhaltsaufklärungs- und Darlegungspflicht der Tatgerichte (vgl. Burhoff in Handbuch für das straßenverkehrsrechtliche OWi-Verfahren, 6. Aufl., 2021, Rn. 2259 ff.). Diese Vorgehensweise der Fachgerichte im Ordnungswidrigkeitenverfahren ist nicht zu beanstanden. Hierdurch wird gewährleistet, dass bei massenhaft vorkommenden Verkehrsordnungswidrigkeiten nicht bei jedem einzelnen Bußgeldverfahren anlasslos die technische Richtigkeit einer Messung jeweils neu überprüft werden muss. Dem geringeren Unrechtsgehalt der Ordnungswidrigkeiten gerade im Bereich von massenhaft vorkommenden Verkehrsverstößen kann durch Vereinfachungen des Verfahrensgangs Rechnung getragen werden.

 

  • Aber: Aus dem Recht auf ein faires Verfahren folgt grundsätzlich auch im Ordnungswidrigkeitenverfahren das Recht, Kenntnis von solchen Inhalten zu erlangen, die zum Zweck der Ermittlung entstanden sind, aber nicht zur Akte genommen wurden. Wenn der Betroffene Zugang zu Informationen begehrt, die sich außerhalb der Gerichtsakte befinden, um sich Gewissheit über seiner Entlastung dienende Tatsachen zu verschaffen, ist ihm dieser Zugang grundsätzlich zu gewähren.

 

  • Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Recht auf Zugang zu den außerhalb der Akte befindlichen Informationen unbegrenzt gilt. Gerade im Bereich massenhaft vorkommender Ordnungswidrigkeiten ist in Hinblick auf die Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege eine sachgerechte Eingrenzung des Informationszugangs geboten.
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  • Die begehrten, hinreichend konkret benannten Informationen müssen deshalb zum einen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem jeweiligen Ordnungswidrigkeitenvorwurf stehen und zum anderen eine Relevanz für die Verteidigung aufweisen, um eine uferlose Ausforschung, erhebliche Verfahrensverzögerungen und Rechtsmissbrauch zu verhindern.

 

  • Insofern ist aber maßgeblich auf die Perspektive des Betroffenen beziehungsweise seines Verteidigers abzustellen. Entscheidend ist, ob dieser eine Information verständiger Weise für die Beurteilung des Ordnungswidrigkeitenvorwurfs für bedeutsam halten darf.

 

  • Zwar steht dem Betroffenen ein Zugangsrecht vom Beginn bis zum Abschluss des Verfahrens zu. Er kann sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn er diesen rechtzeitig im Bußgeldverfahren begehrt. Solange sich aus der Überprüfung der Informationen keine hinreichend konkreten Anhaltspunkte für die Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses ergeben, bleiben die Aufklärungs- und Feststellungspflichten der Tatgerichte nach den Grundsätzen des standardisierten Messverfahrens reduziert. Ermittelt der Betroffene indes konkrete Anhaltspunkte für eine Fehlerhaftigkeit des Messergebnisses, muss das Tatgericht entscheiden, ob es sich ‒ gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen ‒ dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann. Im Übrigen bleiben die Möglichkeiten zur Ablehnung von Beweisanträgen aus § 77 Abs. 2 OWiG unberührt.

3. Folgen für die Praxis

Auf den ersten Blick sicherlich schön und ein lang erwarteter Schritt in die richtige Richtung. Aber ein Freifahrtsschein ist die Entscheidung nicht. Denn: Die Grundsätze des standardisierten Messverfahrens bleiben anwendbar. Allerdings betont das BVerfG auch insoweit ein Einsichtsrecht des Betroffenen und gibt damit all denen Recht, die darauf seit Jahren hinweisen (vgl. nur schon Cierniak zfs 012, 664 ff.; Cierniak/Niehaus DAR 14, 2 und 18, 541). Aber: Es muss sich um Daten und Unterlagen handeln, die vorhanden sind, es geht nicht um solche, die nicht existieren, wie etwa nicht gespeicherte Rohmessdaten. Insoweit zieht das BVerfG dann aber die Grenzen weiter als bisher die Rechtsprechung: Es geht um das Aufklärungsinteresse des Betroffenen, nicht um das der Verwaltungsbehörde oder des Gerichts, das ggf. bestimmte Beweismittel und Unterlagen nicht für erforderlich hält.

 

a) Einsicht muss rechtzeitig beantragt werden

Der Betroffene muss sich aber frühzeitig und rechtzeitig um die Einsicht in die begehrten Beweismittel und Ermittlungsvorgänge bemühen. Er muss also entsprechende Anträge stellen, die dann inhaltlich beschieden werden müssen. Die umfassende und eigenständige Überprüfung des Messergebnisses darf dem Betroffenen nicht verwehrt werden. Er darf also nicht, wie manche Verwaltungsbehörden es in der Vergangenheit immer wieder gern getan haben, auf eine (spätere) richterliche Überprüfung verwiesen werden. Das ist nicht „Parität des Wissens“.

 

b) Gericht muss Anträge bescheiden

Hat der Betroffene die entsprechenden Unterlagen erhalten, muss er ggf. bei Gericht entsprechende Anträge stellen, die dann anhand der Kriterien der §§ 244 StPO, 77 OWiG geprüft werden müssen. Lamentieren, wie es z.B. vor Kurzem noch das AG St. Ingbert getan hat (10.11.20, 23 OWi 62 Js 1144/20 (2176/20), Abruf-Nr. 219718), bringt nichts mehr. Die Anträge sind zu bescheiden, auch, wenn es den „regulären Geschäftsbetrieb erschwert“. Im Übrigen: Das BVerfG sieht den immer wieder beschworenen Stillstand der Rechtspflege in diesen Fällen in seinem Beschluss nicht.

 

c) Wie wird es nun weitergehen?

M.E. werden sich die Verwaltungsbehörden und ihnen im Zweifel folgend die (Ober)Gerichte darauf zurückziehen, dass bestimmte Unterlagen/Daten nicht vorhanden sind und deshalb nicht herausgegeben werden können. Allerdings steht dem entgegen, dass das BVerfG eine Prüfungsmöglichkeit für den Betroffenen verlangt und die Hersteller und in ihrem Gefolge zum Teil die Obergerichte nun nicht einfach hingehen können/dürfen und die Geräte so herstellen, dass sie (Mess)Daten nicht mehr speichern. Ob und inwieweit das zulässig ist, wird sicherlich die Diskussion der nächsten Zeit beherrschen.

 

Und zu klären ist auch, wie damit umzugehen ist, dass ggf. eine Rechtsfrage nicht dem BGH vorgelegt worden ist. Dazu schweigt das BVerfG. Zwei LandesVerfG haben sich dazu bereits geäußert, und zwar der VerfGH Koblenz VA 20, 54 und der VerfGH Stuttgart (14.12.20, 1 VB 64/17, Abruf-Nr. 219743). Beide sehen in einer Nichtvorlage einen Verstoß gegen das Gebot des gesetzlichen Richters. Allerdings: Auch hier muss der Verteidiger reagieren. Denn der Betroffene muss ggf. erläutern, welche relevanten Erkenntnisse er oder ein von ihm beauftragter Sachverständiger aus den verlangten Daten für eine ihn betreffende Einzelmessung gewinnen will (OLG Zweibrücken zfs 20, 413). Tut er das nicht bzw. nicht ausreichend, muss er sich möglicherweise entgegenhalten lassen, dass es sich um eine Frage des Einzelfalls handelt und deshalb eine Divergenzvorlage ausscheidet (OLG Zweibrücken, a. a. O.).

 

d) Erste Reaktion des BayObLG

Als erste Reaktion liegt eine Entscheidung des BayObLG vor (4.1.21, 202 ObOWi 1532/20, Abruf-Nr. 219744). Es hat sich dem BVerfG zumindest teilweise angeschlossen. Es geht jetzt auch davon aus, dass sich aus dem Recht auf ein faires Verfahren bei einer standardisierten Messung ein Anspruch des Betroffenen auf Zugang zu nicht bei der Bußgeldakte befindlicher, aber bei der Verfolgungsbehörde vorhandener und zum Zwecke der Ermittlungen entstandener bestimmter Informationen, wie z.B. der sog. Rohmessdaten einer konkreten Einzelmessung, ergeben kann. Das BayObLG hält aber daran fest, dass durch die bloße Versagung der Einsichtnahme bzw. die Ablehnung der Überlassung von nicht zu den Bußgeldakten gelangter sog. Rohmessdaten das rechtliche Gehör des Betroffenen (Art. 103 Abs. 1 GG) regelmäßig nicht verletzt ist (ebenso BayObLG 9.12.19, 202 ObOWi 1955/19, DAR 20, 145 und KG 2.4.19, 122 Ss 43/19). Auch soll der Betroffene keinen Anspruch auf Einsichtnahme und Überlassung der (digitalen) Daten der gesamten Messreihe haben (so u.a. OLG Zweibrücken 5.5.20, 1 OWi 2 SsBs 94/19, zfs 20, 413).

 

Das BayObLG weiß es damit teilweise schon wieder besser als das BVerfG. Denn die Ausführungen zu Umfang der Einsichtnahme dürften nicht mit dem in Einklang stehen, was das BVerfG sagt. Das BVerfG macht deutlich, dass die Verteidigung beurteilen muss, welche Daten sie zur Überprüfung braucht. Dazu sagt das BayObLG nichts. Anderenfalls hätte man ja auch zur vom BVerfG in Bezug genommenen Spurenaktenentscheidung in BVerfGE 63, 45 Stellung nehmen müssen. Auch dort wird dem Beschuldigten das Recht eingeräumt, dass „er selbst nach Entlastungsmomenten suchen kann, die zwar fernliegen mögen, aber nicht schlechthin auszuschließen sind.” Auf die Sicht der Ermittlungsbehörden kommt es grundsätzlich nicht an. Das BayObLG scheint da anderer Ansicht zu sein. Der Kampf wird also weitergehen.

Quelle: Seite 33 | ID 47058022