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· Fachbeitrag · Außerordentliche Kündigung

Außerordentliche Kündigung nach verbaler sexueller Belästigung wirksam

  • 1. Eine sexuelle Belästigung nach § 3 Abs. 4 AGG ist generell geeignet, einen wichtigen Grund i.S. des § 626 Abs. 1 BGB darzustellen. Im Einzelfall ist zu prüfen, unter welchen Umständen, mit welchem Umfang und welcher Intensität die sexuelle Belästigung stattgefunden hat.
  • 2. Für das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit nach § 3 Abs. 4 AGG ist nicht erforderlich, dass die betroffene Person ihre ablehnende Einstellung aktiv verdeutlicht hat. Maßgeblich ist allein, ob die Unerwünschtheit des Verhaltens objektiv erkennbar war.
  • 3. Die stets bei der Prüfung des wichtigen Grundes erforderliche Interessenabwägung hat unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes zu erfolgen. Hierbei ist entscheidend, ob der ArbN wegen gleichartiger Pflichtverletzungen bereits abgemahnt worden ist. Nicht erforderlich ist, dass es sich um identische Pflichtverletzungen handelt. Ausreichend ist vielmehr, dass die Pflichtwidrigkeiten aus demselben Bereich stammen und die Abmahnungs- und Kündigungsgründe in einem inneren Zusammenhang stehen.
  • 4. Ein solcher Zusammenhang besteht zwischen sexuellen Belästigungen durch körperliche Berührungen und solchen, die allein verbal erfolgen.
  • 5. Der ArbG hat bei Verstößen i.S. des § 7 Abs. 1 AGG, also auch bei sexuellen Belästigungen, die geeigneten, erforderlichen und angemessenen Maßnahmen zur Unterbindung der Benachteiligung zu ergreifen. Dies sind insbesondere Abmahnung, Umsetzung, Versetzung oder Kündigung. Geeignet sind Maßnahmen, die erwarten lassen, dass die Benachteiligung für die Zukunft abgestellt wird, also eine Wiederholungsgefahr ausgeschlossen ist.

(BAG 9.6.11, 2 AZR 323/10, Abruf-Nr. 120210)

Sachverhalt

Der ArbN war seit dem 1.7.76 als Einkäufer und Produktmanager beim ArbG, der ein Unternehmen des Möbeleinzelhandels mit mehreren hundert ArbN betreibt, tätig. Bereits unter dem 18.10.07 wurde dem ArbN seitens des ArbG eine Abmahnung erteilt, in der ihm vorgeworfen wurde, eine Mitarbeiterin durch einen Schlag auf das Gesäß belästigt zu haben. Am 25. und 26.6.08 machte der ArbN gegenüber einer 26-jährigen Einkaufsassistentin, deren Vorgesetzter er war, bei vier Gelegenheiten Bemerkungen sexuellen Inhalts. Nach Meldung der Vorfälle beim ArbG durch die Mitarbeiterin hörte dieser den ArbN unter dem 4.7.08 zu den Vorwürfen an und teilte dem Betriebsrat mit, er beabsichtige den ArbN fristlos, hilfsweise fristgemäß, zu kündigen. Unter dem 10.7.08 erteilte der Betriebsrat hierzu seine Zustimmung. Unter dem 11.7.08 sprach der ArbG dem ArbN eine fristlose, hilfsweise fristgemäße Kündigung aus.

 

Nachdem das Arbeitsgericht die Kündigungsschutzklage abgewiesen hatte, gab das LAG (11 Sa 511/09) der Kündigungsschutzklage statt. Die hiergegen gerichtete Revision des ArbG war in vollem Umfang erfolgreich.

 

Entscheidungsgründe

Der 2. Senat des BAG stellt zunächst fest, dass in dem Verhalten des ArbN eine sexuelle Belästigung in verbaler Form i.S. des § 3 Abs. 4 AGG gelegen habe. Diese Feststellung ist bereits durch das LAG in der Berufungsinstanz getroffen worden. Darüber hinaus betont das BAG, dass das Tatbestandsmerkmal der Unerwünschtheit im Rahmen des Begriffs der sexuellen Belästigung nach § 3 Abs. 4 AGG bereits erfüllt ist, wenn die Unerwünschtheit des Verhaltens für den Belästigenden objektiv erkennbar gewesen und nicht erforderlich sei, dass die Betroffene ihre ablehnende Haltung zu den Verhaltensweisen aktiv verdeutlicht habe.

 

Sämtliche vier Bemerkungen hätten sexuellen Inhalt gehabt und seien als sexuelle Belästigung zu werten. Der ArbN habe u.a. einen anzüglichen Vergleich angestellt, die Mitarbeiterin auf ihr Sexualleben beim Mittagessen angesprochen und ihr ein anzügliches Angebot unterbreitet. Hierdurch habe er wiederholt die Würde der Mitarbeiterin verletzt und sie zum Sexualobjekt erniedrigt.

 

Anders als das LAG ist das BAG der Auffassung, allein die außerordentliche Kündigung sei unter Berücksichtigung der Umstände des Einzelfalls und unter Abwägung der beiderseitigen Interessen als Reaktionsmittel des ArbG angemessen gewesen. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und das damit verbundene Auswahlermessen des ArbG sei durch § 12 Abs. 3 AGG dahingehend eingeschränkt, dass der ArbG die Benachteiligung zu „unterbinden“ habe. Hierfür sei eine Prognose notwendig, ob aus der konkreten Vertragspflichtverletzung geschlossen werden könne, dass der ArbN den Arbeitsvertrag auch in Zukunft in gleicher oder ähnlicher Weise verletzen würde. Entscheidend sei insofern, ob ein ArbN aufgrund einer Abmahnung habe erkennen können, dass der ArbG ein weiteres Fehlverhalten nicht hinnehmen, sondern mit einer Kündigung reagieren würde.

 

Auch die Abmahnung vom 18.10.07 habe eine sexuelle Belästigung, nämlich einen Schlag auf das Gesäß einer Mitarbeiterin, i.S. des § 3 Abs. 4 AGG betroffen. In dem abgemahnten und in dem zum Kündigungsanlass genommenen Fall sei ein die Integrität der Betroffenen missachtendes, erniedrigendes Verhalten gegenständlich gewesen. Der ArbN habe daher ohne Weiteres erkennen können, dass eine abermalige Belästigung, gleich ob verbal oder körperlich, seitens des ArbG zum Kündigungsanlass genommen würde.

 

Die Intensität der verbalen Belästigung wurde seitens des BAG als erheblich eingestuft. Zum einen habe die Belästigung in vier Fällen an zwei Arbeitstagen hintereinander stattgefunden, zum anderen bewegten sich rein verbale Belästigungen nicht automatisch in einem „weniger gravierenden Bereich“ des Spektrums der sexuellen Belästigungen nach § 3 Abs. 4 AGG. Es habe sich nicht um eine einmalige Entgleisung gehandelt, sondern die Belästigungen seien fortgesetzt und hartnäckig unter Anspielung auf körperliche Merkmale und unter Unterbreitung anzüglicher Angebote erfolgt. Der ArbN habe sich auch nicht in einem nachvollziehbaren Irrtum über die Unerwünschtheit seiner Verhaltensweise befunden, da er trotz der für ihn erkennbaren ablehnenden Haltung seine Äußerungen fortgesetzt habe.

 

Eine nochmalige Abmahnung sei kein dem ArbG zumutbares milderes Mittel gewesen, da auch die vorangegangene Abmahnung nicht zur Warnung genommen wurde. Insofern habe der ArbG davon ausgehen können, dass eine weitere Abmahnung künftige Pflichtverletzungen nicht würde verhindern können.

 

Auch eine Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses zum Ablauf der ordentlichen Kündigungsfrist sei dem ArbG nicht zumutbar gewesen. Diese habe nämlich nach § 12 Abs. 1 S. 1 AGG die Pflicht, weibliches Personal effektiv vor weiteren sexuellen Belästigungen zu schützen. Durch den Ausspruch einer nur ordentlichen Kündigung sei dies, insbesondere im Hinblick auf die Länge der Kündigungsfrist des ArbN nicht zu gewährleisten. Die Gefahr weiterer sexueller Belästigungen durch den ArbN, möglicherweise gerade verstärkt durch das absehbare Ende des Arbeitsverhältnisses, habe fortbestanden.

 

Praxishinweis

Die Entscheidung des 2. Senats ist als eine Art Weckruf an alle ArbG zu verstehen, die auf ihnen angezeigte sexuelle Belästigungen zu reagieren haben. Auch rein „verbale“ sexuelle Belästigungen können eine Intensität erreichen, die insbesondere bei erfolgter einschlägiger Abmahnung eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr möglich macht, sodass der ArbG nach § 12 Abs. 1 S. 1, Abs. 3 AGG mit einer ordentlichen oder außerordentlichen Kündigung reagieren muss. Der ArbG wird also nicht ohne Weiteres solche Anzeigen unter Hinweis auf eine nur verbale sexuelle Belästigung mit einer Abmahnung „abtun“ können.

 

BEACHTE |  Das ist insbesondere der Fall, wenn bereits eine einschlägige Abmahnung wegen sexueller Belästigung vorliegt.

 

Dies gilt auch dann, wenn ein langjährig beschäftigter, sozial besonders schutzwürdiger ArbN sich - vor allem als Vorgesetzter - mehrfach zu sexuellen Belästigungen hinreißen lässt. Liegt ein Fall der sexuellen Belästigung vor, kann (und muss) der ArbG angemessene arbeitsrechtliche Maßnahmen ergreifen. Das können eine Abmahnung, eine Umsetzung, eine Versetzung oder auch - als „ultima ratio“ - eine Kündigung (§ 4 Abs. 1 BeschSchG) sein.

 

Checkliste / Sexuelle Belästigung

Was unter sexueller Belästigung im Einzelnen zu verstehen ist, ist in § 3 Abs. 4 AGG geregelt:

  • ein unerwünschtes, sexuell bestimmtes Verhalten,
  • unerwünschte sexuelle Handlungen,
  • Aufforderungen zu solchen Handlungen,
  • sexuell bestimmte körperliche Berührungen,
  • Bemerkungen sexuellen Inhalts,
  • unerwünschtes Zeigen von pornografischen Darstellungen,
  • unerwünschtes sichtbares Anbringen von pornografischen Darstellungen, wenn hierdurch bezweckt oder bewirkt wird, dass die Würde der betroffenen Person verletzt wird.
 
Quelle: Seite 20 | ID 31236080