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· Fachbeitrag · Betriebsvereinbarung

Tarifvertrag regelt Fahrtzeiten für Außendienstler ‒ Betriebsvereinbarung nicht mehr möglich

von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FA ArbR, Prof. Dr. Jesgarzewski & Kollegen Rechtsanwälte, Osterholz-Scharmbeck, FOM Hochschule Bremen

| Wenn vergütungspflichtige Fahrtzeiten nach den Bestimmungen des einschlägigen Tarifvertrags uneingeschränkt der entgeltpflichtigen Arbeitszeit zuzurechnen und mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten sind, sind entgegenstehende Regelungen in einer Betriebsvereinbarung wegen Verstoßes gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG unwirksam. |

 

Sachverhalt

Die Parteien streiten über die Vergütung von Fahrzeiten zu Kundenterminen. Der ArbN ist als Außendienstmitarbeiter für Servicetätigkeiten beschäftigt. Der ArbG ist kraft Mitgliedschaft im Arbeitgeberverband an die Tarifverträge des Groß- und Außenhandels Niedersachsen gebunden. Im zwischen den Parteien bestehenden Arbeitsvertrag findet sich zudem eine dynamische Bezugnahmeklausel zur Anwendung dieser Tarifverträge auf das Arbeitsverhältnis. Im Tarifvertrag findet sich die allgemeine Regelung, dass sämtliche Tätigkeiten, die ein ArbN in Erfüllung seiner vertraglichen Hauptleistungspflicht erbringt, mit der tariflichen Grundvergütung abzugelten seien.

 

Für den Betrieb ist eine Betriebsvereinbarung zu Fahrtzeiten gültig. In dieser ist geregelt, dass Anfahrtszeiten zum ersten und Abfahrtszeiten vom letzten Kunden nicht zur Arbeitszeit zählen, wenn sie jeweils 20 Minuten nicht überschreiten. Nur eine jeweils die 20 Minuten übersteigende Fahrtzeit der An- und Abreise zählt nach der Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit.

 

Der ArbG verbuchte die Arbeitszeiten des ArbN unter Einhaltung der Betriebsvereinbarung auf das Arbeitszeitkonto. Demnach wurden Reisezeiten von der Wohnung des ArbN zum ersten Kunden genauso wie vom letzten Kunden zurück zur Wohnung bis zu einer Dauer von jeweils 20 Minuten nicht als Zeiten geleisteter Arbeit eingestellt. Der ArbN meint, die Betriebsvereinbarung verstoße gegen den Tarifvertrag und dürfe daher nicht angewendet werden. Er verlangt die Zeitgutschrift für die bisher nicht berechneten 20 Minuten Fahrtzeit zum und vom Kunden auf sein Arbeitszeitkonto.

 

Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab (LAG Düsseldorf 14.12.18, 10 Sa 96/18, Abruf-Nr. 206630).

 

Entscheidungsgründe

Das BAG (18.3.20, 5 AZR 36/19, Abruf-Nr. 214880) hob das Berufungsurteil nach der Revision des ArbN auf. Der 5. Senat folgte der Argumentation des ArbN. Die Fahrtzeiten seien bereits im Tarifvertrag geregelt worden. Daher könnten die Betriebsparteien nichts Abweichendes dazu mehr vereinbaren.

 

Die Fahrten zum ersten und vom letzten Kunden tätige der ArbN in Erfüllung seiner vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung. Die Fahrtzeiten seien daher auch von der ersten Minute an zu vergüten. Dies folge aus dem Tarifvertrag. Die entgegenstehende Regelung in der Betriebsvereinbarung stehe dem nicht entgegen, da sie insoweit unwirksam sei.

 

Nach dem Tarifvertrag seien alle Tätigkeiten zur Erfüllung der vertraglich geschuldeten Hauptleistungspflicht zu vergüten. Diese Formulierung sei dahin auszulegen, dass auch Wegezeiten zum ersten und vom letzten Kunden für Außendienstmitarbeiter als Arbeitszeit zu qualifizieren wären, da sie ausschließlich zur Erfüllung der geschuldeten Arbeit dienten. Die gesamte für An- und Abfahrten zum Kunden aufgewendete Fahrtzeit gehöre bei Außendienstmitarbeitern zur Arbeitszeit dazu.

 

Eine entgegenstehende Regelung in einer Betriebsvereinbarung sei wegen Verstoßes gegen die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 S. 1 BetrVG unwirksam, da der gegenständliche Tarifvertrag vorliegend keine Öffnungsklausel zugunsten abweichender Betriebsvereinbarungen enthalte. Durch Tarifvertrag geregelte Arbeitsentgelte könnten danach nicht Gegenstand einer Betriebsvereinbarung sein.

 

An dieser Wertung änderten auch die Mitbestimmungsrechte des § 87 BetrVG im Ergebnis nichts. Die Mitbestimmungsrechte würden überhaupt nur dann greifen, soweit keine gesetzliche oder tarifliche Regelung bestehe. Dies folge bereits aus dem Wortlaut der Norm.

 

Im Ergebnis könne der ArbN somit vom ArbG die Gutschrift der umstrittenen Fahrtzeiten verlangen, soweit unter ihrer Berücksichtigung die vertraglich geschuldete regelmäßige Arbeitszeit nicht überschritten wurde. Hierzu habe das LAG aus seiner Sicht folgerichtig noch keine Feststellungen getroffen, sodass diese nachzuholen seien. Die Sache ist deshalb unter Aufhebung des Berufungsurteils zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das LAG zurückverwiesen worden.

 

Relevanz für die Praxis

Die Frage, wann Fahrzeiten vergütungspflichtige Arbeitszeit sind, ist aufgrund der Vielzahl denkbarer Einzelfallgestaltungen von hoher praktischer Relevanz. Das vorliegende Urteil leistet indes nicht nur hierzu einen Klärungsbeitrag. Es präzisiert auch das Verhältnis von Tarifvertrag und Betriebsvereinbarung.

 

Grundsätzlich ist der Weg zum Arbeitsort keine Arbeitszeit (siehe zuletzt BAG 22.10.19, 1 ABR 11/18, Abruf-Nr. 214125). Anders können die Dinge jedoch liegen, wenn die Aufnahme der vertraglich geschuldeten Arbeit, wie etwa bei Außendienst-Tätigkeiten, nicht im Betrieb des ArbG, sondern direkt beim Kunden erfolgt. Bei ArbN, die keinen festen Dienstort haben, sondern ihre Tätigkeit naturgemäß reisend ausüben, sind die von ihnen zurückgelegten Wegezeiten immer als Arbeitszeit einzuordnen. Der 5. Senat stellt klar, dass dies auch für den Weg zum ersten Kunden und vom letzten Kunden zurück zum Wohnort gilt. Beide Wegstrecken werden ausschließlich zum Zwecke der Erfüllung der Hauptleistungspflicht zurückgelegt. Dem ist zuzustimmen. Auch die An- und Abreise zu Beginn und zum Ende der Tätigkeit erfolgt ausschließlich zum Zwecke der Erbringung der Arbeitsleistung. Der ArbG hat daher in diesen Konstellationen auch die geschuldete Vergütung zu leisten.

 

Findet auf ein Arbeitsverhältnis ein auch die Vergütung betreffender Tarifvertrag Anwendung, dürfte damit praktisch immer die Grundvergütung für geleistete Arbeit geregelt sein. Es liegt im Wesensgehalt von Tarifverträgen, dass für diesen Kernbereich auch keine Öffnungsklauseln für Betriebsvereinbarungen vorhanden sind. Folgerichtig muss danach die Regelungssperre des § 77 Abs. 3 BetrVG greifen. Die Betriebsparteien haben es nicht mehr in der Hand, Regelungen zur Vergütung zu treffen. Genau dies ist in der Praxis jedoch durchaus weit verbreitet. Diese Praxis dürfte nunmehr nicht mehr zu halten sein. ArbG sollten daher sehr sorgfältig den Arbeitsort und die Tätigkeit individualvertraglich konkretisieren, um dadurch den Beginn und das Ende der täglichen Arbeitszeit präzise festzulegen.

 

Die vorgenannte Entscheidung zeigt, dass jedenfalls für fahrtintensive Tätigkeiten im tarifgebundenen Bereich die Regelungsmöglichkeit über Betriebsvereinbarungen versperrt sind, da auch diese Fahrten der Erfüllung der vertraglich geschuldeten Arbeitsleistung dienen. Dies werden die Tarif- und Arbeitsvertragsparteien noch stärker in den Blick zu nehmen haben.

 

 

Weiterführende Hinweise

  • Twitter-Accounts des ArbG ‒ der Betriebsrat bestimmt mit: LAG Hamburg in AA 20, 65
  • Keine Mitbestimmung des Betriebsrats bei der Vergütung des Vorsitzenden: LAG Düsseldorf in AA 19, 97
Quelle: Seite 132 | ID 46641639