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· Fachbeitrag · Erbfähigkeit

Das noch nicht geborene Kind im Erbrecht

von RA Holger Siebert, FA Erbrecht und FA Steuerrecht, Berlin

| § 1923 Abs. 1 BGB bestimmt: „Erbe kann nur werden, wer zur Zeit des Erbfalls lebt.“ Für den nasciturus als Erben öffnet § 1923 Abs. 2 BGB die Tür: „Wer zur Zeit des Erbfalls noch nicht lebte, aber bereits gezeugt war, gilt als vor dem Erbfall geboren.“ Der Gesetzgeber fingiert die Geburt eines nasciturus auf den Zeitpunkt des Erbfalls und stellt damit die Erbfähigkeit eines zum Zeitpunkt des Erbfalls noch nicht geborenen Kindes her. Dieser Beitrag stellt dar, unter welchen Voraussetzungen der nasciturus tatsächlich gemäß § 1923 Abs. 2 BGB erbfähig wird. Darüber hinaus wird thematisiert, inwieweit über den Regelungsgehalt des § 1923 Abs. 2 BGB hinaus ein Erbrecht ungeborener Abkömmlinge letztwillig verfügt werden kann. |

1. Die Erbfähigkeit des nasciturus

§ 1923 Abs. 2 BGB zielt darauf ab, ein bereits gezeugtes Kind am Nachlass des Vaters auch dann zu beteiligen, wenn dieser vor der Geburt des Kindes verstirbt. Aber auch eine Geburt nach dem Tod der Mutter und die damit verbundene Erbenstellung ist möglich (z. B. bei einer künstlichen Aufrechterhaltung des Kreislaufs der Schwangeren über den rechtlich maßgeblichen Todeszeitpunkt hinaus mit späterer Entbindung). § 1923 Abs. 2 BGB ermöglicht dann dem Kind die Beerbung der Mutter. Auch im Verhältnis zu anderen Personen als denEltern gilt die Vorschrift, sodass ‒ etwa, wenn der Großvater seine Enkel testamentarisch als Erben eingesetzt hat ‒ auch ein beim Tod des Großvaters bereits gezeugter, aber erst danach geborener Enkel Erbe werden würde. Soweit nach den Auslegungsregeln der §§ 2066 ff. BGB diejenigen Personen bedacht sind, die zum Zeitpunkt des Erbfalls gesetzliche Erben sein würden, sind bereitsgezeugte, nach dem Erbfall geborene Personen im Zweifel einzubeziehen.

 

§ 1923 Abs. 2 BGB enthält im Ergebnis zwei Tatbestandsvoraussetzungen für die Erbfähigkeit des nasciturus:

 

  • Die Zeugung muss im Zeitpunkt des Erbfalls stattgefunden haben.

 

  • Die Leibesfrucht muss nach dem Erbfall lebend geboren werden und dadurch Rechtsfähigkeit nach § 1 BGB erlangen.

 

a) Die Zeugung

Nach der wohl herrschenden Meinung (vgl. Palandt/Ellenberger, BGB, 75. Aufl., § 1 Rn. 8; Martinek in: Herberger/Martinek/Rüßmann u. a., jurisPK-BGB,7. Aufl., § 1 BGB Rn. 14 und aktuell OLG Köln 4.7.16, 2 Wx 114/16, BeckRS 2016, 13050) ist hierbei auf den Zeitpunkt der Nidation (Einnistung des Eies in die Gebärmutter) abzustellen. Lässt sich durch eine Rückwärtsrechnung aufgrund von Ultraschallaufnahmen des Fötus nicht aufklären, ob eine Nidation vor oder nach dem Erbfall stattgefunden hat, kann die Erbfähigkeit des später geborenen Kindes nicht festgestellt werden (OLG Köln a. a. O.).

 

b) Erlangung der Rechtsfähigkeit durch Geburt

Die Rechtsfähigkeit beginnt mit Vollendung der Geburt. Darunter ist die vollständige Trennung, also der vollständige Austritt des Kindes vom Mutterleib zu verstehen (MüKo/Schmitt, BGB, 8. Aufl., § 1, Rn. 15; Schulze/Dörner, § 1, Rn. 4). Unerheblich ist, ob dies auf natürlichem oder künstlichem Wege geschieht. Auf den Zeitpunkt der Durchtrennung der Nabelschnur kommt es nicht an. Das Kind muss im Sinne der Vorschrift bei Vollendung der Geburt gelebt haben, um als Rechtssubjekt existiert zu haben. Es kommt nicht auf die Lebensfähigkeit an. Verstirbt etwa die Mutter bei der Geburt und ist testamentarisch nichts anderes bestimmt, beerbt das (zumindest kurz) lebende Kind die Mutter. Wer sich darauf berufen möchte, dass eine Person nach Vollendung der Geburtgelebt hat, ist beweispflichtig. Eine gesetzliche Vermutung hierfür gibt es nicht.

 

c) Sonderfälle

aa) In-vitro-Fertilisation

Die heute mögliche Befruchtung außerhalb des Mutterleibes (In-vitro-Fertilisation) mit nachfolgender Einpflanzung des Embryos in die Gebärmutter einer Frau konnten die Verfasser des BGB noch nicht berücksichtigen. Die h. M. geht nach dem Schutzzweck des § 1923 Abs. 2 BGB davon aus, dass in solchen Fällen die Erbfähigkeit des später lebend geborenen Kindes bereits dann zu bejahen ist, wenn die In-vitro-Fertilisation zum Zeitpunkt des Erbfalls erfolgt war, auch wenn die Implantation des Embryos erst nach dem Erbfall geschah.

 

bb) Vor dem Erbfall begonnene und danach vollendete Befruchtung

Wenn eine Eizelle bereits zu Lebzeiten des Mannes mit dessen Samen imprägniert und der Befruchtungsvorgang dann durch Kryokonservierung unterbrochen wurde, fällt die Fortsetzung durch Wiederauftauen nach dem Tod des Mannes nicht unter das Verbot des § 4 Abs. 1 Nr. 3 ESchG (so OLG Rostock FamRZ 2010, 1117). Nach dieser Entscheidung stehen die imprägniertenEizellen im Eigentum der Frau.

 

Ob ein durch einen solchen fortgesetzten Befruchtungsvorgang entstandenes Kind unter den Schutzbereich des § 1923 Abs. 2 BGB fällt, ist streitig. Bei einer analogen Anwendung dieser Vorschrift wäre es noch Jahre nach dem Erbfall möglich, durch die Fortsetzung die Erbfolge nachträglich zu beeinflussen (vgl. Staudinger/Otte, BGB, 2017, § 1923 Rn. 25 ff.).

 

cc) Befruchtungsvorgang findet insgesamt postmortal statt

Im Falle der heute möglichen, nach dem ESchG (§ 4 Abs. 1 Nr. 3) allerdings verbotenen künstlichen Insemination nach dem Tod des Samenspenders kann das auf diese Weise gezeugte Kind nach dem Wortlaut des § 1923 Abs. 2 BGB nicht Erbe seines genetischen Vaters sein, da die Fiktion dieser Vorschrift nur bei einem bereits gezeugten Kind eingreift.

 

Auch hier besteht Streit darüber, ob nicht auch in diesem Falle eine analoge Anwendung des § 1923 Abs. 2 BGB in Betracht kommt, was an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden soll. Gegen eine analoge Anwendung des § 1923 Abs. 2 BGB in dieser Konstellation spricht jedoch die große und insbesondere zeitlich unbefristete Rechtsunsicherheit die hieraus erwächst. Denn auch noch lange Zeit nach dem eigentlichen Erbfall könnte hier auf künstlichem Wege die Insemination durchgeführt werden. Ob der BGB-Gesetzgeber, hätte er diesen Fall damals bereits im Sinn gehabt, tatsächlich den Anwendungsbereich des § 1923 Abs. 2 BGB erweitert hätte, dürfte daher eher zweifelhaft sein.

2. Erbeinsetzung des nasciturus durch letztwillige Verfügung

Setzt ein Erblasser, was nicht selten vorkommt, seine künftig geborenen Kinder letztwillig zu Erben ein, so gilt für die Erbfähigkeit das unter Ziffer 1 Gesagte. Es kommt mithin auf die Voraussetzungen des § 1923 BGB an.

 

Setzt der Erblasser jedoch die Kinder einer anderen Person als Erben ein, so gestaltet sich die Angelegenheit etwas schwieriger. Ein geradezu schulmäßiger Fall liegt der Entscheidung des OLG Hamm 12.12.2019, I-10 W 166/18, ErbR 2020, 293, Abruf-Nr. 216366, mit der vorausgegangenen Entscheidung desAG Minden 27.11.18, 7 VI 766/11, ErbR 2019, 257, zugrunde.

 

a) Sachverhalt

Der spätere Erblasser und seine Ehefrau hatten ein gemeinschaftliches Testament errichtet, in dem sie sich gegenseitig zu jeweils alleinigen Erben einsetzten. Als Schlusserben bestimmten sie ihre einzige Tochter zu 1/2 und „deren künftig geborenen Kinder“ ebenfalls zu 1/2. Die Ehefrau verstarb kurz nach der Errichtung dieses Testaments, der Ehemann zehn Jahre später. Im Zeitpunkt des Schlusserbfalls existierten zwei von der Tochter des Erblassers geborene Kinder. Eine weitere Fortpflanzung war nicht geplant.

 

b) Verfahren

Die beiden Enkelkinder des Erblassers beantragten einen Erbschein, der sie als Schlusserben zu je 1/4 ausweist. Das Nachlassgericht wies den Antrag zurück. Es ist der Meinung, dass der Wortlaut des Testaments betreffend der Schlusserbeneinsetzung eindeutig ist, sodass die gesetzlichen Zweifelsregelungen nicht zum Tragen kommen. Das Testament sei dahin gehend auszulegen, dass sämtliche künftig gezeugten und geborenen Enkel die Erbenstellung erlangen sollten, da andererseits eine Benachteiligung der später geborenen Enkel eintreten würde.

 

Der hiergegen gerichteten Beschwerde wurde nicht abgeholfen. Die Sache wurde sodann dem OLG Hamm vorgelegt. Dies hat entschieden, dass die Schlusserbeneinsetzung der „künftig geborenen Kinder“ der Tochter im Hinblick auf die Frage, ob sie auch nach dem Schlusserbfall geborene Enkelkinder umfasst, nicht eindeutig sei. Gegen die Annahme, die Erblasser hätten sämtliche Enkelkinder gleichbehandeln wollen, spreche, dass die Einsetzung Nachgeborener eine unter Umständen noch lange Zeit nach dem Schlusserbfall bestehende Unsicherheit über die Erbfolge bedeutet hätte.

 

c) Erbrecht der Enkelkinder?

Die erste Frage, die sich im Zusammenhang mit dem beantragten Erbschein stellt, ist, inwieweit ein Erblasser noch nicht geborene Kinder durch letztwillige Verfügung als Erben wirksam einsetzen kann.

 

aa) Das ungeborene Kind als Vollerbe

Grundsätzlich gilt auch hier zunächst § 1923 BGB. D. h., nur wer erbfähig ist, kann testamentarischer Vollerbe werden. Insoweit gilt auch das zu § 1923 Abs. 2 BGB Gesagte. Das findet seinen Niederschlag dann auch folgerichtig in der gesetzlichen Vermutung des § 2070 BGB, wonach bei einer Erbeinsetzung der Abkömmlinge Dritter im Zweifel anzunehmen ist, dass diejenigen Abkömmlinge nicht bedacht sein sollen, die im Zeitpunkt des Erbfalls noch nicht gezeugt waren.

 

Auf den obigen Fall bezogen hätte unabhängig vom konkreten Auslegungsergebnis diese Zweifelsregelung gar nicht zur Anwendung kommen können, weil es sich bei den insoweit als Erben eingesetzten „künftigen“ Enkeln nicht um Abkömmlinge Dritter im Sinne dieser Vorschrift handelt (vgl. MüKo/Leipold, BGB, 8. Aufl. 2020, § 2070 BGB, Rn. 3).

 

bb) Das noch nicht gezeugte Kind als Nacherbe

Die Vorschrift des § 2101 BGB eröffnet im Falle der eingesetzten noch nicht gezeugten Personen die Einsetzung als Nacherbe und statuiert folgende Zweifelsregelung:

 

  • Zweifelsregelung

Ist eine zur Zeit des Erbfalls noch nicht gezeugte Person als Erbe eingesetzt, so ist im Zweifel anzunehmen, dass sie als Nacherbe eingesetzt ist.

 

Die Anwendung dieser Umdeutungsregel setzt die positive Feststellung voraus, dass die Erbeinsetzung eines noch nicht Gezeugten vom Erblasser gewollt ist (OLG Köln DNotZ 93, 813). Wird diese Feststellung getroffen, greift die Vermutung nach Abs. 1, es sei denn, es lässt sich feststellen, dass der Erblasser eine Nacherbschaft insoweit nicht anordnen wollte.

 

Im Ergebnis wird daher die Einsetzung noch nicht gezeugter Kinder nach h. M. in eine zulässige (§§ 2101, 2108 BGB) Nacherbeneinsetzung umgedeutet. Nach anderer Ansicht (MüKo/Lieder, BGB, 8. Aufl. 2020, § 2101 BGB, Rn. 2) wird dieses Ergebnis im Wege der Auslegung (§§ 133, 2084 BGB) erreicht, sodass§ 2101 BGB nur bei fehlender Andeutung im Testament zur Anwendung käme.

3. Auslegungsalternativen

Sind wie im Falle des OLG Hamm die „künftig geborenen Kinder“ allein oder neben anderen zu Erben eingesetzt, so gibt es unterschiedliche Ergebnisse der Auslegung nach den konkreten Gegebenheiten.

 

  • Möglichkeit 1

Man sieht nur die im Zeitpunkt des Erbfalls erbfähigen Kinder als eingesetzt an. So sieht es im Rahmen einer Einzelfallauslegung auch das OLG Hamm entgegen der Vorinstanz. Auf die Frage, ob § 2070 BGB hier analog anzuwenden ist, kam es daher nicht an.

 
  • Möglichkeit 2

Man sieht auch die über den Erbfall hinaus noch gezeugten Kinder als Erben an. Dann können diese gemäß §§ 2101, 2108 BGB allenfalls Nacherben sein. Gemäß § 2101 BGB wird dies vermutet. Kommt man im Wege der Auslegung dagegen zu dem Ergebnis, dass der Erblasser eine Nacherbfolge nicht wollte, so ist die Erbeinsetzung unwirksam.

 
  • Möglichkeit 3

Gibt es wie im Falle des OLG Hamm neben den noch nicht gezeugten Kindern bereits solche, die Erbfähigkeit besitzen, so wären diese nach der vom AG Minden zunächst vertretenen Ansicht quotenmäßig „ausgebremst“. Hier gäbe es m. E. zwei Möglichkeiten der Vorgehensweise. Entweder man erlässt den Erbschein aufgrund der Gegebenheiten, wie sie sich im Zeitpunkt der Antragstellung darstellen. Da der Erbschein seiner Natur nach nur ein „vorläufiges“ Gutglaubensinstrument darstellt, kann dieser, sollte in der Zukunft noch ein Kind geboren werden, jederzeit eingezogen und abgeändert werden.

 

Etwas weniger praktisch für die bereits lebenden Kinder wäre der Weg über einen quotenlosen Erbschein, wie er gemäß § 352a Abs. 2 S. 2 FamFG beantragt werden kann. Dann müsste aber zumindest für die unbekannten Nacherben ein Nachlasspfleger eingesetzt werden (§ 1960 BGB). Dieser müsste dann für die unbekannten (Nach-)Erben bei Maßnahmen, zu denen es der Zustimmung der Nacherben bedarf, deren notwendigen Erklärungen abgeben. Dies hätte zumindest den Vorteil, dass wenigstens über Wirtschaftsgüter des Nachlasses verfügt werden kann.

 

Die Beispiele zeigen, wie wichtig es ist, die vom Erblasser gewünschten Regelungen so klar wie möglich zu formulieren. Mitunter sollte überlegt werden, ob der gewünschte Plan nicht mehr Schaden anrichtet und die Erben in ihrer Vorgehensweise blockiert. Oft fehlt hier schlicht der notwendige anwaltliche Rat. So kann etwa folgende Formulierung Klarheit und Sicherheit schaffen:

 

Musterformulierung / 

Zu meinen Erben bestimme ich: Meine Tochter zu 1/2 und meine bis zu meinem Tod erbfähigen Enkelkinder. Diese sollen Vollerben werden. Eine Nacherbschaft ist insoweit nicht gewünscht.

 

Steht in Aussicht, dass es künftig noch mehr Enkelkinder geben wird und diese wirtschaftlich nicht außen vor bleiben sollen, könnte beispielsweise die Tochter mit einer höheren Quote bedacht werden, verbunden mit der Auflage, den künftigen Enkeln diese Erhöhung später zukommen zu lassen. Alternativ könnte hier auch mit konkreten Geldvermächtnissen gearbeitet werden.

 

Weiterführende Hinweise

  • Ludyga, Die post-mortem-Befruchtung, NZFam 2020, 185
  • Minwegen, Der Zeitpunkt der Zeugung i.S.d. § 1923 II BGB und die Fortschritte in der Fortpflanzungsbiologie, FuR 2020, 151
Quelle: Seite 122 | ID 46665321