· Fachbeitrag · Gesetzgebung
Strafrechtliche Aspekte des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes
von RA Dr. Tilman Reichling, FA Strafrecht, undRA Dr. Moritz Lange, Frankfurt a. M.
| Am 29.6.20 wurde das Zweite Corona-Steuerhilfegesetz (BGBl. I 20, 1512 ff.) vom Bundestag verabschiedet. Es trat zum 1.7.20 in Kraft. Der Gesetzgeber hat damit nicht nur eine Vielzahl (steuerlicher) Maßnahmen umgesetzt, um die Wirtschaft zu stärken. Es wurden vielmehr auch aufgrund des sog. Cum/Ex-Skandals die Verjährungsregelungen des § 376 AO angepasst. Zudem hat der Gesetzgeber die Anwendung der strafrechtlichen Einziehungsvorschriften mittels der Einführung des § 375a AO nachgeschärft. |
1. Die Aufarbeitung der Cum/Ex-Geschäfte
Seit Ende 2012 die Ermittlungen durch die Durchsuchung der HypoVereinsbank öffentlich wurden, werden die sog. Cum/Ex-Geschäfte, die insbesondere von 2007 bis 2011 im großen Stil mit deutschen Aktien durchgeführt wurden, aufgearbeitet (Handelsblatt v. 18.12.19, S. 31). Dabei wurden die Ermittlungen, wie z. T. erwartet, massiv ausgeweitet (dazu Groß, PStR 13, 296, 301). Im Wesentlichen klären die Staatsanwaltschaft Köln und München sowie die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a. M. die Sachverhalte rund um die hochkomplexen Handelsstrukturen auf, die zur doppelten Erstattung von Kapitalertragsteuer führten, die nur einmal einbehalten worden war (dazu Knauer/Schomburg, NStZ 19, 305 ff.). Dieser sog. „double-dip“ führte zu einem Milliardenschaden (ca. 10 Milliarden EUR, so der Untersuchungssauschuss des Bundestags, BT-Drucksache 18/12700, 472).
1.1 Erstes Urteil und weitere Anklagen
Mittlerweile ist das erste Hauptverfahren gegen zwei (ehemalige) britische Banker erstinstanzlich abgeschlossen. Das LG Bonn hat entschieden, dass die angeklagten Cum/Ex-Geschäfte von 2007 bis 2011 den objektiven Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt haben. Für die Mehrzahl der Taten wurde auch der Vorsatz der Angeklagten festgestellt. Darüber hinaus hat die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a. M. im sog. „Maple-Bank-Komplex“ (SZ v. 19.2.19, S. 19) und im „Roth-Komplex“ (Handelsblatt v. 18.12.19, S. 31) sowie die Staatsanwaltschaft Köln eine weitere Anklage (Handelsblatt v. 5.6.20, S. 34) betreffend vier Warburg-Bank-Mitarbeiter erhoben. Zudem wurden die ersten Haftbefehle auch im Ausland vollstreckt (nur i. d. Online-Ausgabe: SZ vom 26.6.20, abrufbar unter: www.iww.de/s3798). Dies ist nur die „Spitze des Eisbergs“ (Knauer/Schomburg, NStZ 19, 305, 305). Dieser umfasst nach aktuellen Angaben aus Juni 2020 (allein) aus NRW 880 Beschuldigte in 68 Ermittlungsverfahren (Ministerium der Justiz des Landes NRW, 57. Sitzung des Rechtsausschusses des Landtags NRW am 10.6.20, S. 4 f.). Auf ganz Deutschland bezogen sollen sogar 1.000 Personen und mehr als 100 Banken auf vier Kontinenten betroffen sein (Entwurf des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetz, Formulierungshilfe, S. 25). Dass die Zahl der Beschuldigten so rasant wächst, ist wohl auf Folgendes zurückzuführen: Mittlerweile wurden die Sachverhaltskomplexe in Vernehmungen von (möglichen) „Kronzeugen“ weiter aufgearbeitet. Auch durch die E-Mail-Analysen und Auswertung der im Rahmen der Durchsuchungen aufgefundenen Beweismittel oder Aufarbeitungsberichte verschiedener Banken, die Internal Investigations vorgenommen haben, wurden neue Sachverhalte und Details zu Tage gefördert. In der Folge wurde sodann aufgrund der neuen Erkenntnisse eine Vielzahl von Ermittlungsverfahren eingeleitet.
1.2 Verjährung statt Bestrafung?
Diese Einleitungen erfolgten meist im Mai oder Juni 2019 bzw. nun 2020, um ‒ zehn Jahre nach der jeweiligen Dividendensaison und den im Rahmen dieser erfolgten Steuerauszahlungen bzw. -erstattungen ‒ die Verjährung nach § 78 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB zu unterbrechen. Folge: Die Verjährung beginnt von Neuem zu laufen, § 78c Abs. 3 S. 1 StGB. Bemerkenswert ist dabei Folgendes: Die Cum/Ex-Geschäfte haben früh ein breites Medieninteresse hervorgerufen. Hinzu kam folgendes Phänomen: Bereits im Mai/Juni 2019 wurde in der Presse diskutiert, ob die Cum/Ex-Sachverhalte verjähren würden und der Staat nicht in der Lage sei, diese aufzuklären (SZ v. 25.3.19, S. 17). Es folgte die oben angesprochene „erste Einleitungswelle“. Eine zweite folgte nun im Mai/Juni 2020, nachdem wiederum in der Presse im Zusammenhang mit den aufwendigen Cum/Ex-Ermittlungen von der „[ü]berforderte[n] Justiz“, die mit der Aufarbeitung der Vielzahl der Fälle „nicht hinterherkommt“, zu lesen war (Handelsblatt v. 26.5.20, S. 30).
1.3 (Scheinbar spontanes) Tätigwerden des Gesetzgebers
Nachdem diese mediale Kritik 2019 noch verhallte und das BMJV erklärte, dass keine drohende Verjährung bekannt sei, sowie darauf hinwies, dass eine absolute Verjährungsfrist von 20 Jahren bei besonders schweren Fällen der Steuerhinterziehung vorläge (SZ v. 25.3.19, S. 17), trat 2020 ‒ scheinbar spontan ‒ ein Umdenken ein. So erarbeitete das BMF Anfang Juni 2020 (Handelsblatt v. 10.6.20, S. 34) einen Gesetzentwurf, der die Verlängerung der Verjährungsfristen für Fälle der besonders schweren Steuerhinterziehung vorsieht. Damit soll „[d]en Strafverfolgungsbehörden … ein angemessener Zeitraum zur Aufarbeitung der einzelnen Gestaltungen und Fallkomplexe ermöglicht werden“. Denn, so heißt es weiter, „[k]äme es zu keiner Verlängerung der absoluten Verfolgungsverjährung, würde schon in naher Zukunft eine Verjährung der ersten Taten drohen“ (Entwurf des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes, Formulierungshilfe, S. 25).
Im Folgenden wird der Frage nachgegangen, ob vorgenannte Begründung der Einführung eines „angemessenen“ Verjährungszeitraums überzeugend ist und die Verjährung in naher Zukunft wirklich eintritt.
2. Bisherige Verjährung von Steuerhinterziehungstaten
Die „Sorge“ der Nichtaufklärbarkeit folgt aus § 78 Abs. 1 S. 1 StGB, wonach die Verfolgungsverjährung die Ahndung einer Tat nach der im Gesetz geregelten Zeitdauer ausschließt. Für einfache Steuerhinterziehungstaten gem. § 370 Abs. 1 AO sieht § 78 Abs. 3 Nr. 5 StGB eine Verjährungsfrist von fünf Jahren vor. Seit der Einführung des § 376 AO verjähren die Regelbeispiele der besonders schweren Fälle gem. § 370 Abs. 3 AO abweichend vom Grundtatbestand ‒ und von der Regelverjährung nach § 78 StGB (kritisch dazu Hüls/Reichling-Asholt, Steuerstrafrecht, 2. Aufl., § 376 AO Rn. 20 f.) ‒ erst nach zehn Jahren, § 376 Abs. 1 AO.
2.1 Beginn der Verjährung
Die Verjährung beginnt nach § 78a StGB, § 369 Abs. 2 AO, sobald die Tat beendet ist. Im Einzelnen ist der Beendigungszeitpunkt, und damit der Beginn des Laufes der Verjährungsfrist, oft problematisch und umstritten. Bei einer Begehung durch aktives Tun (also in Fällen der Abgabe unrichtiger Steuererklärungen) ist die Tat beendet, sobald die Steuer aufgrund der unrichtigen Erklärung zu niedrig festgesetzt und dies dem Steuerpflichtigen durch Steuerbescheid bekannt gegeben ist (vgl. BGH 7.2.84, 3 StR 413/83 = wistra 84, 142 sowie Hüls/Reichling-Schott, a.a.O., § 370 AO, Rn. 192). Bei der Begehung durch Unterlassen (also der pflichtwidrigen Nichtabgabe von Steuererklärungen) wird hingegen vom BGH auf den Zeitpunkt des Abschlusses der „allgemeinen Veranlagungsarbeiten“ des zuständigen FA abgestellt (BGH 7.11.01, 5 StR 395/01 = wistra 02, 64, 66). In den Cum/Ex-Fällen wurde die verkürzte Kapitalertragsteuer i. d. R. auf Antrag (im schriftlichen oder im sog. Datenträger-Verfahren) erstattet oder angerechnet, sodass bei Auszahlung der Steuer die Verjährung zu laufen beginnt. Bei Taten, die im Versuch „stecken geblieben sind“, was vereinzelt 2008 und (wohl erst) flächendeckend 2011 oft vorgekommen ist, beginnt diese mit Einreichung des Erstattungsantrags, § 22 StGB, § 370 Abs. 2 AO.
2.2 Unterbrechung der Verjährung
Diese Verjährungsfristen können durch bestimmte Handlungen unterbrochen werden, § 78c StGB. Folge: Die Verjährung beginnt von Neuem, § 78c Abs. 3 S. 1 StGB. Die absolute Verjährung tritt ein, wenn das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist verstrichen ist, § 78c Abs. 3 S. 2 StGB. Folge: Die Verfolgung der Steuerhinterziehung ist in besonders schweren Fällen, wie den meisten Cum/Ex-Fällen, spätestens nicht mehr möglich, wenn das Doppelte der gesetzlichen Verjährungsfrist verstrichen ist: In den hier zu betrachtenden Cum/Ex-Fällen beträgt die Verfolgungsverjährung somit gegenwärtig 20 Jahre.
2.3 Ruhen der Verjährung
Die Verjährung kann ruhen, § 78b StGB. Nach § 78b Abs. 4 StGB gilt Folgendes: In den Fällen des § 78 Abs. 3 Nr. 4 StGB, in denen das Gesetz strafschärfend für besonders schwere Fälle Freiheitsstrafe von mehr als fünf Jahren androht und das Hauptverfahren vor dem LG eröffnet worden ist, ruht die Verjährung ab Eröffnung des Hauptverfahrens, höchstens jedoch für einen Zeitraum von fünf Jahren. Ob diese Regelung auch bei Fällen der besonders schweren Steuerhinterziehung griff, war streitig (dazu Hüls/Reichling-Asholt, a.a.O., § 376 AO Rn. 68 f.). Einerseits wurde dies u. a. mit Verweis auf § 376 Abs. 1 AO abgelehnt (Ebner, ZWH 17, 44 ff.). Andererseits wurde von der wohl h.M. auf den Wortlaut verwiesen, der nur einen besonders schweren Fall voraussetzt, der bei einem LG angeklagt wurde (Hübschmann/Hepp/Spitaler-Bülte, AO/FGO, 256. EL, § 376 AO Rn. 198; Wulf, DStR 09, 459, 463). Der 1. Strafsenat des BGH ging ‒ ohne jede (erkennbare) Auseinandersetzung mit dem Problem ‒ davon aus, dass § 78b StGB auf den Steuerhinterziehungstatbestand anwendbar ist (BGH 7.12.16, 1 StR 185/16 = wistra 17, 321 ff.).
3. Änderungen der Verjährungsregelungen
Betreffend die vorgenannten Regelungen fügte der Gesetzgeber nun folgende Ergänzung des § 376 AO ein:
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Abs. 3: Abweichend von § 78c Absatz 3 Satz 2 des Strafgesetzbuches verjährt in den in § 370 Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 bis 6 genannten Fällen besonders schwerer Steuerhinterziehung die Verfolgung spätestens, wenn seit dem in § 78a des Strafgesetzbuches bezeichneten Zeitpunkt das Zweieinhalbfache der gesetzlichen Verjährungsfrist verstrichen ist. § 78b des Strafgesetzbuches bleibt unberührt.
Abs. 4: § 78b Absatz 4 des Strafgesetzbuches gilt in den in § 370 Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 bis 6 genannten Fällen besonders schwerer Steuerhinterziehung entsprechend. |
Diese Ergänzungen führen im Vergleich zur vorherigen, bis zum 30.6.20 geltenden Rechtslage zu folgenden Änderungen:
3.1 Verlängerung der absoluten Verjährungsfrist
Durch die Neuregelung in § 376 Abs. 3 S. 1 AO verlängert sich die Grenze der absoluten Verfolgungsverjährung auf das Zweieinhalbfache der gesetzlichen Verjährungsfrist anstelle der bisherigen, doppelten Verjährungsdauer. Die Frist der absoluten Verfolgungsfrist beträgt ‒ im Fall von Unterbrechungshandlungen nach § 78c StGB ‒ damit künftig 25 statt 20 Jahre.
3.2 Anwendbarkeit des § 78b Abs. 4 StGB
Der Gesetzgeber erklärt durch die Einführung des Abs. 4 den Ruhenstatbestand des § 78b Abs. 4 StGB für die Fälle der besonders schweren Steuerhinterziehung (§ 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 bis 6 AO) ausdrücklich für anwendbar.
3.3 Zusammenfassung der Gesetzesbegründung
In der Gesetzesbegründung verweist der Gesetzgeber darauf, dass die Aufarbeitung der Cum/Ex-Geschäfte „sehr aufwendig und langwierig [ist]. Dies gilt insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Beschuldigten von ihrem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch machen und … [sich] die Aufklärung der Strukturen sowie des Zusammenwirkens der Beteiligten … [daher] äußerst schwierig gestaltet“ (Entwurf des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes, Formulierungshilfe, S. 25). Weiter heißt es, dass „[d]iese aufgedeckten Steuerhinterziehungsfälle möglichst lang strafrechtlich geahndet werden [sollen]. Es kann nicht in Kauf genommen werden, dass die Beschuldigten auf die Verjährung hoffen. … Dem Anspruch des Staats auf Wahrung und Durchsetzung des Rechts und damit auf Verfolgung strafbewährten Unrechts muss in angemessener Weise Rechnung getragen werden“ (Entwurf des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes, Formulierungshilfe, S. 25).
Als Begründung für die Einführung des § 376 Abs. 3 AO führt der Gesetzgeber an, dass auf diese Weise a„künftig Verfahrensverschleppungen verhindert und der Intention des Gesetzgebers ‒ für komplexe Verfahren vor allem im Bereich der Wirtschaftskriminalität mehr Zeit zur Verfügung zu stellen ‒ … auch im Bereich der Steuerhinterziehung in besonders schweren Fällen Geltung verschafft wird“ (Entwurf des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes, Formulierungshilfe, S. 26).
3.4 Kritische Würdigung des Vorhabens und der Gesetzesbegründung
Es scheint, als wiederhole sich die Geschichte: Nach der „Liechtenstein-Affäre“ wurde der Gesetzgeber tätig und verlängerte durch die Einführung des § 376 AO die Verjährungsfristen für besonders schwere Fälle um das Doppelte ‒ von fünf auf zehn Jahre. Nun wird der Cum/Ex-Skandal herangezogen, um die absolute Verjährung um fünf Jahre ‒ auf 25 Jahre und damit das Zweieinhalbfache der Regelverjährung ‒ zu verlängern. Es erstaunt einerseits, dass, (erneut) aufgrund eines „Steuerskandals“, der Gesetzgeber (scheinbar spontan) tätig wird und, dies ist bemerkenswert, eine Änderung der Verjährungsfristen im Rahmen des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes, kurz vor der parlamentarischen Sommerpause, vorsieht. Die Stellungnahme Nr. 28 der BRAK führte hierzu zutreffend aus: „Es entsteht der Eindruck, dass diese Änderungen im Rahmen des Gesetzes versteckt und im Zuge der äußerst eiligen Corona-Maßnahmen möglichst unbemerkt mit durchgedrückt werden sollen.“
Umso bemerkenswerter ist es, dass dabei nicht § 376 Abs. 1 AO geändert, sondern eine Abweichung von § 78c Abs. 3 S. 2 StGB vorgenommen werden soll. Zwar ist dies nicht die erste Durchbrechung der Verjährungssystematik für den Bereich des Steuerstrafrechts, jedoch erscheint diese Variante offensichtlich unnütz (ebenso Mitsch, NZWiSt 15, 8, 12, der bereits 2015 kein Bedürfnis sah, den „Verfahrenszeitraum“ auf 25 Jahre auszudehnen). So wird aus Ermittlerkreisen (vgl. Handelsblatt v. 1.6.20, S. 34) kritisch darauf hingewiesen, dass diese Änderung keine Vorteile bringe. Denn umfassende verjährungsunterbrechende Maßnahmen in 2017 und 2018 für die verfahrensgegenständlichen Vorgänge in den Dividendensaisons 2007 und 2008 sind nicht bekannt. Vielmehr konstatierte auch der Justizminister von NRW, dass teilweise bei Aufnahme der Ermittlungen schon die Verjährung eingetreten war (Ministerium der Justiz des Landes NRW, 57. Sitzung des Rechtsausschusses des Landtags NRW am 10.6.2020, S. 5). Es drängt sich daher der Verdacht auf, dass eingangs genannte Presseberichte den Gesetzgeber zu einem (Schein-)Handeln bewegt haben. Denn die bis zur Einführung des § 376 Abs. 3 und Abs. 4 AO bereits verjährten Taten bleiben verjährt.
Der Gesetzgeber begründet diese Verlängerung der (absoluten) Verjährung damit, dass die „strafrechtliche Aufarbeitung rechtlich komplexer und grenzüberschreitender Steuergestaltungen, die darauf ausgerichtet sind, Steuern in großem Ausmaß zu hinterziehen, und bei denen erst im Laufe von Ermittlungen das gesamte Ausmaß an Tatkomplexen und Beteiligten deutlich wird, … sehr aufwendig und langwierig“ ist. Daher sollten die Ermittler nun „genügend Zeit zur Ermittlung … haben“ (BT-Drucksache 19/20058, 29). Der Gesetzgeber betont, dass die Beschuldigten in Cum/Ex-Verfahren von ihrem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch machen und daher die Aufklärung schwierig sei (Entwurf des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes, Formulierungshilfe, S. 25). Diese Schwierigkeit ist aber der Aufklärung aller Straftaten immanent. Sie folgt aus dem Grundsatz der Selbstbelastungsfreiheit und führt gleichwohl nicht dazu, dass der Gesetzgeber sämtliche Verjährungsregelungen ändert. Außerdem bleibt den Ermittlungsbehörden, z. B. in den frühesten möglichen Fällen aus 2007, bei erfolgter Unterbrechung der Verjährung mindestens bis in 2027 ‒ also noch sieben Jahre ‒ Zeit, um den Sachverhalt aufzuklären und einen Eröffnungsbeschluss des LG zu erhalten (§ 203 StPO, § 78b Abs. 4 StGB).
Dies stellt derzeit einen angemessenen Zeitraum dar, der der vorgeschlagenen Verlängerung nicht bedarf.
Wenn es dem Staat nicht möglich ist, in diesem langen Zeitraum den Sachverhalt aufzuklären und die Täter zu belangen, ist dies hinzunehmen (so auch die Stellungnahme Nr. 28 der BRAK zu dem Gesetzentwurf). Dies muss insbesondere gelten, wenn die Behörden Beweismittel zehn Jahre lang „verschlampen“, wie es laut Presseberichten (vgl. SZ v. 30.6.20, S. 17) mit einer Liste geschehen ist, die dem BZSt vorlag. Daher waren die Staatsanwaltschaften nicht in der Lage, gegen die auf der Liste Genannten zu ermitteln.
Zudem hat der Gesetzgeber die Kritik nicht aufgenommen, um z. B. Verjährungsregelungen, die offensichtlich unangemessen lang sind ‒ wie (noch) bei § 266a StGB ‒ zugunsten des Täters zu ändern. Nun hat der 1. Strafsenat selbst seine Rechtsprechung diesbezüglich aufgeben. Dabei wurde u. a. der Gleichlauf mit den Regelungen der Steuerhinterziehung als Argument angeführt (BGH 13.11.19, 1 StR 58/19 = PStR 20, 75). Dies verstärkt den Verdacht, dass der Gesetzgeber handelt, um den Vorwurf zu vermeiden, dass die an Cum/Ex-Strukturen Mitwirkenden aufgrund des Eintritts der Verjährung „ungeschoren“ davon kommen. Da er aber keine Sonderregelung für mögliche Steuerhinterziehungen im Zusammenhang mit Cum/Ex-Geschäften treffen wollte, wurden die Verjährungsregelungen für sämtliche Steuerhinterziehungstaten ‒ systemwidrig und „versteckt“ in einem Gesetzespaket mit Entlastungen für Steuerpflichtige aufgrund der Corona-Pandemie ‒ verschärft. Es mutet fragwürdig an, dass die Beschlussempfehlung des Finanzausschusses (BT-Drucksache 19/20332, S. 3 f.) die Maßnahmen als solche „[z]ur Bekämpfung der Corona-Folgen und Stärkung der Binnennachfrage“ darstellt: Wie die Corona-Pandemie und Cum/Ex zusammenhängen, bleibt unklar. So verwundert es nicht, dass das Wort „Cum-Ex“ in der Beschlussempfehlung nur einmal erwähnt wird.
Für die Praxis dürften diese Neuerungen keine wesentlichen Änderungen mit sich bringen, da die Sachverhalte, die verjährt sind, verjährt bleiben. Die Sachverhalte, in denen Unterbrechungen der Verjährungsfristen herbeigeführt wurden, werden auch in zehn oder nun in 15 Jahren von den Behörden abgearbeitet werden (können). Dennoch gilt es diese neue Frist im Auge zu behalten.
4. Anpassung des Verhältnisses zur Einziehung
Darüber hinaus hat der Gesetzgeber eine Klarstellung in dem neu geschaffenen § 375a AO betreffend das Einziehungsrecht eingeführt, die teilweise in der Literatur erwartet wurde (Lange/Borgel, ZWH 20, 76, 80). Denn in der Diskussion um die 2017 eingeführte Änderung des Einziehungsrechts hat der BGH jüngst entschieden, dass steuerrechtlich verjährte Ansprüche (§ 47 AO) nicht der Einziehung unterliegen, da diese i. S. des § 73e StGB erloschen sind (BGH 24.10.19, 1 StR 173/19, PStR 20, 53; Lange/Borgel, ZWH 20, 76 ff.).
4.1 Einziehung von Taterträgen nach §§ 73 ff. StGB
Sinn und Zweck der Einziehung ist, dass sämtliche wirtschaftlich messbaren Vorteile, die ein Tatbeteiligter oder Dritter durch oder für rechtswidrige Taten erlangt, eingezogen werden (BT-Drucksache 18/9525, 2 f.). Vor der Gesetzesreform zum 1.7.17 standen dem Ansprüche des Verletzten entgegen (Madauß, NZWiSt 18, 28 ff.). In diesem Zusammenhang regelt § 76a Abs. 2 S. 1 StGB, dass eine Einziehung auch bei rechtswidrigen Taten möglich ist, die verjährt sind. Dabei ging der Gesetzgeber davon aus, dass für die Abschöpfung die strafrechtliche Verjährung nicht ausreicht (BT-Drucksache 18/11640, S. 82).
4.2 Ausschluss der Einziehung nach § 73e StGB
Zudem wurde in § 73e Abs. 1 StGB auch ein Ausschluss der Einziehung geregelt, um eine drohende Doppelbelastung des Einziehungsadressaten ‒ einerseits durch die Inanspruchnahme seitens des Verletzten und andererseits durch den Justizfiskus ‒ zu vermeiden. Diese Norm soll einer Einziehung immer entgegenstehen, wenn der durch die Tat Verletzte das von ihm Erlangte (oder entsprechenden Wertersatz) bereits zurückerhalten oder sich anderweitig mit dem Verletzten über einen Ausgleich geeinigt hat (vgl. BT-Drucksache 18/9525, 46; Köhler/Burkhard, NStZ 17, 665, 673).
4.3 Steuerstrafrechtliche Konstellationen
Streitig (siehe zum Streitstand Madauß, NZWiSt 19, 49, 52) war dabei, wann der Anspruch, der dem Verletzten aus der Tat auf Rückgewähr des Erlangten erwachsen ist, im steuerstrafrechtlichen Kontext nach § 73e Abs. 1 StGB erloschen ist. Denn bei Einführung der als „wenig durchdacht“ (Knauer/Schomburg, NStZ 19, 305, 316) bezeichneten Regelung wurde (wohl) übersehen, dass das Steuerrecht in § 47 AO vorgibt, dass Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis u. a. durch Verjährung erlöschen. Die in der Literatur vorhergesehene (Knauer/Schomburg, NStZ 19, 305, 317) gerichtliche Auseinandersetzung wurde kürzlich mittels des vorgenannten BGH-Beschlusses zugunsten der Täter bzw. Personen, die durch die Tat etwas erlangt haben, entschieden.
4.4 Einführung des § 375a AO
Dass diese aus der jüngsten Rechtsprechung des BGH folgende einschränkende Anwendung ‒ gerade bei Cum/Ex-Sachverhalten ‒ nicht Idee des Gesetzgebers war, schien klar. Unklar war hingegen, wie und wann der Gesetzgeber auf diese Entwicklung reagiert. Diese Reaktion erfolgt nun überraschend schnell mittels der Einführung des § 375a AO, der das Verhältnis zur strafrechtlichen Einziehung regeln soll:
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Das Erlöschen eines Anspruchs aus dem Steuerschuldverhältnis durch Verjährung nach § 47 steht einer Einziehung dieses Steueranspruchs oder der darauf entfallenden Zinsen nach den §§ 73 bis 73c des Strafgesetzbuches nicht entgegen. |
Durch diese Einführung möchte der Gesetzgeber erreichen, dass das Erlöschen des Anspruchs aus dem Steuerverhältnis nicht (mehr) der Einziehung der Taterträge entgegensteht. Die Norm führt dazu, dass die Rechtsprechung des BGH auf Neufälle nicht mehr anwendbar ist (vgl. BT-Drucksache 19/20058, 25). Folge: Es wird die Einziehung der Taterträge aus verjährten Taten möglich werden.
5. Inkrafttreten der Neuregelungen
Wie eingangs angeführt, sind die § 375a, § 376 Abs. 3 und Abs. 4 AO am 1.7.20, einen Tag nach der Verkündung des Gesetzes, in Kraft getreten.
5.1 Geltung des § 375a AO
Der geänderte § 34 EGAO regelt, dass § 375a AO „für alle am 1.7.20 noch nicht verjährten Steueransprüche [gilt]“.
5.2 Geltung des § 376 AO
Für § 376 AO wurde eine ähnliche, zuvor angedachte Klarstellung nicht aufgenommen. Insoweit verwies der Gesetzgeber darauf, dass „[b]eide Neuregelungen (Absatz 1 und Absatz 3) … auf alle Fälle anwendbar [sind], in denen zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes eine Verjährung noch nicht eingetreten ist“. Zusätzlich wurde folgende Begründung angefügt: „Die Erwartung, während eines lange andauernden Ermittlungs- und Strafverfahrens werde die Verfolgungsverjährung eintreten, verdient keinen Vertrauensschutz (vgl. BVerfG NJW 95, 1145). Einer ‒ ohnedies allenfalls klarstellenden (vgl. BT-Drucksache 16/10189, 82) ‒ Übergangsregelung bedarf es hierzu nicht (vgl. zur Einführung des § 78b Abs. 4 StGB BT-Drucksache 12/3832, 44; ebenso zur Verlängerung der Ruhensregelung nach § 78b Abs. 1 StGB BT-Drucksache 18/2601, 23; BT-Drucksache 16/13671, 24; BGH 4 StR 281/13 = StV 14, 268, bei juris Rn. 3; BGH 4 StR 165/04 = NStZ 05, 89, bei juris Rn. 2 f.; BT-Drucksache 19/20058, 29).
Diese Vorgehensweise überrascht nicht, da der Gesetzgeber bei der Einführung des § 376 AO am 25.12.08 bereits bestimmt hat, dass diese Regelung auf alle damaligen Sachverhalte Anwendung findet, die nicht verjährt waren. Somit galten Altfälle nur als verjährt, wenn sie vor dem 25.12.03 bzw. bei Unterbrechung der Verjährungsfrist maximal am 25.12.98 beendet worden waren (ausführlich Ebner, Verfolgungsverjährung im Steuerstrafrecht, S. 127 f.). Verfassungsrechtlich wurde dies nicht beanstandet, da Art. 103 Abs. 2 GG nicht auf Verjährungsfristen anwendbar sein soll. Folglich gilt diese Neuregelung für alle Sachverhalte, die am 1.7.20 nicht verjährt sind. Somit müssten diese entweder weniger als zehn Jahre zurückliegen oder die Verjährungsfrist müsste innerhalb von zehn Jahren unterbrochen worden sein. In der Folge kann diese Änderung maximal auf Taten zurückgehen, die am 30.6.00 beendet wurden. Auf Sachverhalte, in denen mangels Unterbrechung Verjährung bereits eingetreten ist, hat die Neuregelung hingegen, wie oben ausgeführt, keine Auswirkung.
6. Zusammenfassung und Ausblick
Die strafrechtlichen Aspekte des Zweiten Corona-Steuerhilfegesetzes stehen in keinem logischen Verhältnis zu dem Regelungsinhalt seiner übrigen Bestandteile und dem Zweck dieses Vorhabens. Es handelt sich insbesondere bei der Verlängerung der absoluten Verjährungsfrist um eine Eilaktion, die durch das medial gezeichnete Bild eines (angeblich) baldigen Verjährungseintritts in Cum/Ex-Verfahren bewirkt wurde. Tatsächlich ist die Verlängerung der Verjährungsfrist die rechtsstaatlich fragwürdige Lösung eines aufgebauschten Problems: Die Verlängerung der Frist wie auch die (deklaratorische) Anordnung der Geltung des § 78b Abs. 4 StGB auf den Steuerhinterziehungstatbestand werden nur in wenigen Fällen relevant werden. Grundsätzlich ist die „verjährungsfeindliche“ Grundhaltung des Vorhabens sowohl aus rechtsstaatlichen Gründen als auch aus praktischen Gründen kritisch zu bewerten. Die Annahme, dass diejenigen Ermittlungsbehörden, die bislang nicht in der Lage waren, Verfahren in angemessener Zeit abzuschließen, nun sämtliche „Altfälle“ bis zur Anklagereife verfolgen sollen, bedeutet angesichts der begrenzten Ressourcen zwangsläufig, dass neue Verfahren und (mögliche) Steuerhinterziehungsstrukturen ab 2012 zunächst unbearbeitet bleiben. Dies könnte dazu führen, dass neue Geschäfte und Strukturen mit strafrechtlicher Relevanz wiederum erst viele Jahre nach deren Auftreten verfolgt werden.