· Fachbeitrag · Handels- und Steuerrecht
Sofortabschreibung von digitalen Wirtschaftsgütern
von WP StB Lukas Graf, Meißen
| Das BMF (26.2.21, IV C 3 - S 2190/21/10002 :013, Abruf-Nr. 220811 ) hat die für die Abschreibung relevante Nutzungsdauer für Hard- und Software neu geregelt. Nunmehr kann eine betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer von einem Jahr zugrunde gelegt werden. Im Ergebnis handelt es sich dabei um eine Änderung der amtlichen AfA-Tabellen. Die folgende Darstellung befasst sich mit der handels- und steuerrechtlichen Behandlung dieser Wirtschaftsgüter. |
1. Handelsbilanz: Nutzungsdauern und die Bedeutung von AfA-Tabellen
In § 253 Abs. 3 S. 1 und S. 2 HGB ist für abnutzbare Vermögensgegenstände bestimmt, dass deren Anschaffungs- oder Herstellungskosten um planmäßige Abschreibungen zu vermindern sind. Dabei muss der Abschreibungsplan die Anschaffungs- oder Herstellungskosten über den Zeitraum der voraussichtlichen Nutzung verteilen. Das Handelsrecht geht also davon aus, dass die voraussichtliche tatsächliche Nutzungsdauer für die Bemessung der Abschreibungen maßgeblich ist.
1.1 Bilanzierungsgrundsätze
Bei der Bilanzierung (und damit auch bei der Schätzung der Nutzungsdauern) sind die allgemeinen Bilanzierungsgrundsätze zu beachten ‒ das sind
- der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Wesentlichkeit,
- gemäß § 252 Abs. 1 Nr. 4 HGB das Vorsichtsprinzip und
- das Stetigkeitsprinzip (nach § 246 Abs. 3 HGB beim Ansatz und nach § 252 Abs. 1 Nr. 6 HGB bei der Bewertung).
Der Grundsatz der Wirtschaftlichkeit und Wesentlichkeit ist für den Jahresabschluss nicht ausdrücklich im HGB geregelt, aber allgemein anerkannt. Damit darf dieser Grundsatz auch bei der Schätzung der Nutzungsdauern angewandt werden. Diese Regelung erlaubt aber auch die Anwendung der steuerlichen Regelung zu den Kleinstwirtschaftsgütern (bis 250 EUR: Sofortabzug ohne besondere Aufzeichnungspflichten) und den geringwertigen Wirtschaftsgütern bereits in der Handelsbilanz. Es ist nicht erforderlich, Kleinstbestände zu erfassen; der Kaufmann hat in seiner Bilanz aber alle wesentlichen Vermögensgegenstände zu zeigen.
Das Vorsichtsprinzip regelt, dass der Kaufmann bei Schätzungen vorsichtig schätzen muss. Damit sind Schätzungen unzulässig, wenn sie über die voraussichtliche Nutzungsdauer hinausgehen. Allerdings hat der Kaufmann bei der Schätzung zu berücksichtigen, dass nicht alle gleichartigen Vermögensgegenstände auch gleich lange halten und manche vorzeitig unbrauchbar werden. Diesem Umstand darf bei der Bemessung der voraussichtlichen Nutzungsdauer Rechnung getragen werden. Da aber Vermögensgegenstände in unterschiedlichen Unternehmen und Branchen unterschiedlich genutzt werden, ist die Bemessung der Nutzungsdauer im Einzelfall zu bestimmen.
In der Steuerbilanz sind abnutzbare Wirtschaftsgüter nach § 7 Abs. 1 S. 1 und S. 2 EStG über die betriebsgewöhnliche Nutzungsdauer abzuschreiben. Also wird auch im Steuerrecht ein Vermögensgegenstand über einen Zeitraum abgeschrieben, der sich ‒ wie im Handelsrecht ‒ an einer voraussichtlich tatsächlichen Nutzung orientiert.
1.2 Berücksichtigung von AfA-Tabellen
Die Finanzverwaltung hat zur Vereinfachung allgemeine und branchenbezogene AfA-Tabellen herausgegeben, die auf Erfahrungswerten beruhen. Da eine Bemessung der voraussichtlichen Nutzungsdauer in jedem Einzelfall sehr aufwendig, stark ermessensbehaftet und manipulationsanfällig wäre, haben sich die steuerlichen AfA-Tabellen auch in der handelsrechtlichen Praxis durchgesetzt und sind mit den Grundsätzen ordnungsmäßiger Bilanzierung vereinbar.
MERKE | Im Übrigen galt und gilt, dass eine handelsrechtlich kürzer bemessene Nutzungsdauer auch steuerlich anerkannt wird, wenn der Kaufmann/Steuerpflichtige dies betriebsindividuell nachweisen kann. Auch eine längere Nutzungsdauer ist zulässig, wenn er diese begründen kann (z. B. Vermögensgegenstand wird nur selten genutzt, unterliegt keinem modischen Verbrauch etc.). |
Mit dem BMF-Schreiben greift die Finanzverwaltung in dieses sinnvolle Gleichgewicht ein und formuliert für digitale Wirtschaftsgüter ein Wahlrecht („kann“, im Gegensatz zum Entwurfsschreiben also keine „Muss-Vorschrift“), diese unabhängig von der tatsächlichen Nutzungsdauer sofort abschreiben zu dürfen. Dem Kaufmann/Steuerpflichtigen steht es also auch weiterhin frei, die bisherigen Nutzungsdauern der bestehenden AfA-Tabellen zu nutzen.
1.3 Auffassung des IDW zur Sofortabschreibung in der Handelsbilanz
Das Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) hat sich in einem Schreiben vom 22.3.21 mit der Frage befasst, ob das zu Zwecken der Wirtschaftsförderung eingeführte Wahlrecht zur Sofortabschreibung auch handelsrechtlich zulässig ist ‒ und dies (richtigerweise) verneint. Die Schätzung der Nutzungsdauer muss sich an den betrieblichen Realitäten ausrichten. Damit ist die Zugrundelegung einer Nutzungsdauer von nur einem Jahr für die begünstigten digitalen Investitionen für handelsbilanzielle Zwecke regelmäßig unzulässig.
Beachten Sie | Eine Sofortabschreibung ist indes zulässig, wenn es sich um ein geringwertiges Wirtschaftsgut nach § 6 Abs. 2 EStG (Anschaffungs- oder Herstellungskosten bis zu 800 EUR) handelt oder eine handelsrechtlich bereits bisher anzuerkennende Nutzungsdauer von bis zu einem Jahr vorliegt.
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Ein Cloud-Dienstleister betreibt eine Serverfarm. Für seine Kunden ist eine sehr schnelle Rechenleistung Grundlage der Kundenbeziehung. Die Server sind zwar technisch drei Jahre nutzbar, werden aber turnusmäßig nach zehn Monaten ersetzt. Hier waren und sind die Server handels- und steuerrechtlich unabhängig von den Anschaffungskosten als kurzlebige Wirtschaftsgüter sofort als Aufwand zu verbuchen (Handelsrecht: Moxter, Bilanzrechtsprechung, 5. Aufl., S. 245; Steuerrecht: BFH 26.8.93, IV R 127/91). |
Beachten Sie | Im Übrigen gebietet auch das Stetigkeitsprinzip, dass Vermögensgegenstände stetig angesetzt und bewertet werden müssen. Ist dies nicht der Fall, liegt regelmäßig ein Verstoß gegen die Grundsätze ordnungsmäßiger Bilanzierung vor.
2. Steuerbilanz: Kritische Würdigung des BMF-Schreibens
In der Steuerbilanz dürfen die Grundsätze des BMF-Schreibens uneingeschränkt angewandt werden. Vor dem Hintergrund der Coronapandemie und dem Erfordernis einer Digitalisierung ist die staatliche Förderung grundsätzlich zu begrüßen.
Das BMF-Schreiben begünstigt bestimmte materielle Wirtschaftsgüter „Computerhardware“ (z. B. Computer, Work- und Dockingstations, externe Speicher- und Datenverarbeitungsgeräte (Small-Scale-Server), externe Netzteile sowie Peripheriegeräte) sowie bestimmte immaterielle Wirtschaftsgüter „Betriebs- und Anwendersoftware“. Um hier „Platz zu sparen“, wird auf eine detaillierte Auflistung verzichtet und auf die umfangreiche Definition im BMF-Schreiben verwiesen.
2.1 Materielle Wirtschaftsgüter
Das BMF begünstigt typische Rechner-Arbeitsplatz-Ausstattungen. Allerdings konnten bereits bisher viele Rechner-Arbeitsplätze ‒ ggf. unter Nutzung des § 7g EStG ‒ als geringwertige Wirtschaftsgüter eingestuft werden. Nun sind aber auch höherwertige Wirtschaftsgüter durch die Sofortabschreibungsmöglichkeit begünstigt.
Überraschend ist, dass das BMF auch kleinere Server einbezieht. Zwar sind Großserver oder Serverfarmen von der Regelung ausgenommen, jedoch kann sich die Investition in einen „kleinen“ Server leicht im Bereich von 100 TEUR und mehr bewegen, ohne dass es sich um ein Großgerät handelt. Die Finanzverwaltung hat hier keine betragsmäßige Grenze bestimmt. Es findet sich lediglich der Hinweis „... für Heimserver oder Serveranwendungen im unteren Leistungsbereich ...“. Hier sind Auslegungsdifferenzen mit der Finanzverwaltung vorprogrammiert.
2.2 Betriebs- und Anwendersoftware
Nicht minder konfliktbehaftet könnte sich die Regelung zur Software gestalten. Zugelassen sind zunächst „Betriebs- und Anwendersoftware zur Dateneingabe und -verarbeitung“. Das sind die üblichen Office-Programme oder auch Branchenanwendersoftware. Zur begünstigten Software gehören aber auch „die nicht technisch physikalischen Anwendungsprogramme eines Systems zur Datenverarbeitung, sowie neben Standardanwendungen auch auf den individuellen Nutzer abgestimmte Anwendungen wie ERP-Software, Software für Warenwirtschaftssysteme oder sonstige Anwendungssoftware zur Unternehmensverwaltung oder Prozesssteuerung“.
Der Umfang der zugelassenen Software ist völlig überraschend, da z. B. ERP-Systeme oder Warenwirtschaftssysteme Anschaffungskosten von leicht über 100 TEUR haben können. Es ist nicht nachzuvollziehen, wie die Finanzverwaltung bei solchen Softwarelösungen zu der Überzeugung gelangen konnte, dass digitale Wirtschaftsgüter oft nur eine Nutzungsdauer von weniger als zwölf Monaten haben und dann Softwarelösungen zulässt, die erkennbar nur für einen langjährigen Einsatz implementiert werden. Zurecht wendet sich das IDW deshalb dagegen, hier Nutzungsdauern von weniger als zwölf Monaten auch in der Handelsbilanz zu akzeptieren.
PRAXISTIPP | Im Rechnungswesen zeichnet sich eine Digitalisierungswelle ab, die eine Automatisierung des Rechnungswesens mit sich bringen wird. Wesentlicher Auslöser sind die Einführung und weitgehende Verfügbarkeit elektronischer Rechnungen (z. B. XRechnung und ZUGFeRD-Rechnung). Deren effizienter Einsatz erfordert digitale und automatisierte Prozesse betreffend Rechnungseingang und -ausgang. Dies lässt sich nur umsetzen, wenn beide Prozesse über den gesamten Betrieb vollständig digitalisiert werden. Die dafür erforderlichen Branchenlösungen sind in der Regel auch ERP-Systeme (z. B. Bestell- oder Liefermanagement), die oft erhebliche Investitionen darstellen. Der Wortlaut des BMF-Schreibens spricht dafür, dass hier vielfach eine Sofortabschreibung möglich ist. Im Einzelfall muss aber stets eine detaillierte Prüfung zur Vermeidung nachteiliger Steuerfolgen vorgenommen werden. |
2.3 Steuerliche Verlustvorträge
Viele Unternehmen werden nicht gut durch die Coronapandemie kommen. Steuerliche Verlustvorträge durch umfangreiche Sofortabschreibungen sollten nur geschaffen werden, wenn deren künftige Nutzung so gut wie sicher ist. Anderenfalls sollte die als Wahlrecht ausgestaltete Sofortabschreibung nicht genutzt werden und planmäßig über die voraussichtliche Nutzungsdauer abgeschrieben werden.
3. Passive latente Steuern in der Handelsbilanz
Die Sofortabschreibung führt zu einer zwingenden Abweichung zwischen Handels- und Steuerbilanz. Kaufleute sind nach § 274 HGB verpflichtet, auf Ansatzunterschiede zwischen Handels- und Steuerbilanz latente Steuern anzusetzen. Bei der Nutzung der steuerlichen Sofortabschreibung liegen die steuerlichen Wertansätze unter denen in der Handelsbilanz. Die Folge ist, dass auf die Differenz passive latente Steuern anzusetzen sind. Für den Ansatz passiver latenter Steuern gibt es ‒ anders als für aktive latente Steuern ‒ kein Ansatzwahlrecht. Passive latente Steuern sind also verpflichtend zu bilanzieren.
Wegen Ansatzunterschieden bei Pensionsrückstellungen sind oft erhebliche aktive Latenzen vorhanden. Viele Unternehmen machen aber von dem Wahlrecht Gebrauch, aktive latente Steuern nicht anzusetzen. Soweit nun durch die Sofortabschreibung passive Latenzen erstmals entstehen, sind diese beim „Nettoansatz latenter Steuern“ erst anzusetzen, wenn sie die aktiven Latenzen übersteigen. Dies kann dazu führen, dass passive Latenzen nicht oder nicht in voller Höhe anzusetzen sind, was bilanziell attraktiv sein kann.
Dabei sollte aber die zeitliche Umkehrwirkung der Latenzen bedacht werden. Wenn sich die aktiven Latenzen z. B. in einer Pensionsrückstellung erst nach Jahrzehnten umkehren, sich die passiven Latenzen aus den digitalen Wirtschaftsgütern aber über einen Zeitraum von drei bis fünf Jahren umkehren, kann die passive Latenz dauerhaft ohne oder mit geringer Auswirkung bleiben. Besteht die aktive Latenz aber z. B. aufgrund einer handelsrechtlichen Restrukturierungsrückstellung, die steuerlich nicht gebildet werden durfte, dann kann es in Folgejahren zu „schockartig“ anwachsenden passiven Latenzen mit einer entsprechenden negativen Ergebniswirkung kommen.
Nach § 274a HGB können kleine Kapitalgesellschaften auf die Anwendung des § 274 HGB verzichten. Kaufleute, die keine Kapitalgesellschaften oder gleichgestellte Personenhandelsgesellschaften sind, fallen nicht in den Anwendungsbereich des § 274 HGB. Nach dem Gesetzeswortlaut sind sie von der Bildung latenter Steuern befreit.
MERKE | Nach Auffassung des IDW ist ein solches Vorgehen bei aktiven latenten Steuern uneingeschränkt zulässig. Jedoch sind passive latente Steuern zu bilden, wenn das handelsrechtliche Ergebnis das steuerrechtliche Ergebnis übersteigt und in Zukunft mit steuerlichen Umkehreffekten aufgrund einer zu niedrigen Steuerbelastung zu rechnen ist. Bei der digitalen Sofortabschreibung tritt genau dieser Fall ein: Die Sofortabschreibung führt zur Minderung des steuerlichen Ergebnisses. Wegen der handelsrechtlichen planmäßigen Abschreibung kommt es künftig zur Minderung des handelsrechtlichen Ergebnisses, das mangels künftiger steuerlicher Abschreibungsmöglichkeit mit überproportionaler hoher Steuerlast belegt werden wird. Für diese Steuerlast ist es laut IDW verpflichtend eine passive latente Steuerrückstellung unter den Steuerrückstellungen (und keine gesonderte Position „passive latente Steuern“) zu bilden. |
4. Anwendungszeitraum
Das BMF-Schreiben ist erstmals auf Jahresabschlüsse anzuwenden, deren Wirtschaftsjahre nach dem 31.12.20 enden. In diesen Gewinnermittlungen können dann Restbuchwerte von entsprechenden Wirtschaftsgütern, die in früheren Wirtschaftsjahren angeschafft oder hergestellt wurden und bei denen eine andere als die einjährige Nutzungsdauer zugrunde gelegt wurde, vollständig abgeschrieben werden. Im Ergebnis gilt die Regelung de facto rückwirkend.
Dieses Vorgehen ist konsistent mit den steuerlichen Vorschriften zur Neubemessung einer betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer. Danach ist die Abschreibung nicht vom Anschaffungszeitpunkt ausgehend neu zu berechnen, vielmehr ist der Restbuchwert über die verbleibende Restnutzungsdauer gleichmäßig zu verteilen. Bei einer Restnutzungsdauer von weniger als zwölf Monaten bedeutet dies, dass der Restbuchwert aus dem Vorjahr in voller Höhe als Abschreibung zu berücksichtigen ist.
FAZIT | Im Ergebnis ist festzuhalten, dass das BMF-Schreiben insbesondere für Krisengewinner oder Unternehmen von Vorteil ist, die von der Coronapandemie nicht hart getroffen wurden. Wer von der Coronapandemie in der Existenz bedroht ist und hohe Verluste macht, kann mit der Sofortabschreibung digitaler Wirtschaftsgüter lediglich sein Polster an Verlustvorträgen ausweiten ‒ Nutzbarkeit in der Zukunft völlig ungewiss! Wozu sollte dies gut sein? |