05.05.2009 | Prozessführung
Umfang der Bindung des Berufungsgerichts an erstinstanzliche Tatsachenfeststellungen
1. Die Anforderung, die an eine erneute Tatsachenfeststellung und damit die Überprüfung einer erstinstanzlichen Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht zu stellen sind, dürfen nicht überspannt werden. |
2. Allein die Verfahrensfehlerfreiheit der betroffenen Tatsachenfeststellungen macht diese nicht bindent, wenn konkrete Anhaltspunkte für eine unvollständige Feststellung oder eine sachlich falsche Beweiswürdigung vorliegen. |
3. Eine Beweiswürdigung ist hingegen nicht zu beanstanden, wenn der Vortrag der Partei zu den Kündigungsgründen voll berücksichtigt ist und die Beweisaufnahme unter vollständiger Heranziehung der angebotenen Zeugen erfolgt. Einer erneuten Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht bedarf es daher nicht, wenn keine vernünftigen Zweifel an der Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen gegeben sind. |
(LAG Rheinland-Pfalz 5.12.08, 9 Sa 454/08, Abruf-Nr. 091275) |
Sachverhalt
Dem ArbN war fristlos gekündigt worden, da ihm der ArbG den Vorwurf machte, er habe eine Wand und eine Wandfertigungsanlage absichtlich beschädigt und einem Vorgesetzten gedroht. Diese wesentlichen Kündigungsvorwürfe hat das Arbeitsgericht in erster Instanz nach Vernehmung von vier Zeugen nicht bestätigt gesehen.
Das ArbG hat der Kündigungsschutzklage daher stattgegeben.
Im Rahmen der vom ArbG eingelegten Berufung machte dieser geltend, die Zeugen hätten den Sachverhalt und ein nachfolgendes Geständnis des ArbN bestätigt. Die Wertungen der Zeugenaussagen durch das Arbeitsgericht seien nicht nachvollziehbar.
Das LAG Rheinland-Pfalz hat in der oben genannten Entscheidung die Berufung des ArbG zurückgewiesen.
Entscheidungsgründe
Sowohl das Arbeitsgericht als auch das LAG sind davon ausgegangen, dass eine vorsätzliche Beschädigung der Wand bzw. der Wandfertigungsanlage als auch die behauptete Bedrohung des Vorgesetzten durch den ArbN geeignet gewesen wäre, eine fristlose Kündigung zu rechtfertigen.
Das LAG hat hingegen aufgeführt, nach § 64 Abs. 6 ArbGG in Verbindung mit § 529 Abs. 1 Nr. 1 ZPO seien die erstinstanzlich festgestellten Tatsachen zugrunde zu legen gewesen, da konkrete Anhaltspunkte und Zweifel an Richtigkeit und Vollständigkeit der entscheidungserheblichen Feststellungen nicht gegeben seien. Eine erneute Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht sei vielmehr die Ausnahme von der Regel.
Für den Parteivertreter sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen des LAG Rheinland-Pfalz interessant, die dahingehen, dass die Voraussetzungen einer erneuten Tatsachenfeststellung durch das Berufungsgericht im Interesse einer solchen und einer materiell gerechten Entscheidung nicht überspannt werden dürften. Insofern seien „vernünftige“ Zweifel ausreichend.
Diese hat das LAG hingegen im entschiedenen Fall nicht gesehen. Zunächst führen die Richter auf, dass das Arbeitsgericht den Tatsachenvortrag der Parteien voll berücksichtigt und unter Heranziehung aller angebotenen Zeugen festgestellt und gewürdigt habe.
Es wird aber darauf hingewiesen, dass allein eine inhaltliche Bestätigung von einem einseitigen Vortrag einer der Parteien durch Zeugen nicht ausreicht, um entsprechende Behauptungen der Partei stets als erwiesen anzusehen. Dies sei im Rahmen der Beweiswürdigung nach § 586 Abs. 1 ZPO nur der Fall, wenn eine Gewissheit bestehe, die Zweifeln Schweigen gebiete. Die Beweiswürdigung müsse daher vollständig, widerspruchsfrei und verfahrensfehlerfrei unter vollständiger Abwägung der Ergebnisse der Beweisaufnahme erfolgen.
Anhaltspunkte, die Zweifel an Zeugenaussagen aufkommen lassen - wie zum Beispiel, dass der entsprechende ArbN bei angekündigter „Tat“ nicht umgehend zur Rede gestellt werde - und Ungereimtheiten im Zusammenhang mit dem unstreitigen oder erwiesenen Randgeschehen führten hingegen dazu, dass trotz entsprechender Zeugenaussagen eine Behauptung des ArbG als nicht erwiesen angesehen werden könne.
Ohne erneute Beweisaufnahme hat das LAG Rheinland-Pfalz daher die Berufung zurückgewiesen.
Praxishinweis
Die Bedeutung der Entscheidung des LAG Rheinland-Pfalz vom 5.12.08 liegt vor allem darin, dass klargestellt wird, dass die Voraussetzungen einer erneuten Tatsachenfeststellung und damit einer erneuten Beweisaufnahme durch das Berufungsgericht nicht überspannt werden dürfen. Vernünftige Zweifel am Umfang der Beweisaufnahme oder der Beweiswürdigung der ersten Instanz sind ausreichend, um eine neue - ggf. zu einem anderen Ergebnis führende - Beweisaufnahme in der Berufungsinstanz zu „erzwingen“.
Diese vernünftigen Zweifel sind hingegen von der beweisbelasteten Partei darzulegen. Insofern ist nicht die bloße Unzufriedenheit mit der in der ersten Instanz erfolgten Beweisaufnahme, bzw. der von der erkennenden Kammer vorgenommenen Beweiswürdigung ausreichend. Vielmehr müssen Mängel in der Vollständigkeit, der Logik bzw. Widerspruchsfreiheit oder der Vollständigkeit der Abwägung im Rahmen der Beweiswürdigung klar aufgezeigt werden. Allein die Tatsache, dass der Beweisaufnahme auch ein anderes Ergebnis hätte zugrunde gelegt werden können, sind nicht ausreichend.
Anders sieht es hingegen aus, wenn die Aussagen angebotene Zeugen - die vernommen wurden - oder die Beweisaufnahme gegen Denkgesetze oder objektiv feststehende Tatsachen verstößt.
Bei einer Berufung, die auf solche Mängel der Beweisaufnahme gestützt werden soll, ist hingegen eine gründliche Recherche und eine Darlegung dieser „vernünftigen Zweifel“ geboten, um dem Berufungsgericht die - im Grunde unbeliebte - neue Beweisaufnahme nahezulegen.