· Fachbeitrag · Sozialplan
Betriebsveräußerung und Sozialplan: Vorsicht beim Anknüpfen an den Kinderfreibetrag
von Dr. Guido Mareck, stellvertr. Direktor des Arbeitsgerichts Dortmund
| Schließt ein ArbG einen Sozialplan ab, bevor er den Betrieb veräußert, dann meist, um den Betrieb überhaupt erst veräußerbar und damit übergangsfähig zu machen. Dabei kommt es vor allem auch auf die Attraktivität der im Sozialplan enthaltenen Abfindungsregelungen an ‒ unabhängig davon, ob der Sozialplan nach § 112a Abs. 1 BetrVG erzwingbar ist oder man auf Aufhebungsverträge und „Freiwilligenprogramme“ setzt. Ein Urteil des LAG Hessen lässt nun aufhorchen. Denn die Richter kippten eine 24 Jahre alte BAG-Rechtsprechung bei der Frage nach dem Kinderfreibetrag. |
1. Keine Anknüpfung an die Kinderfreibeträge mehr?
Nach dem BAG (12.3.97, 10 AZR 648/96) kann in einem Sozialplan hinsichtlich der Erhöhung und Berechnung der zugesagten Abfindungsbeträge in Form von Zuschlägen für unterhaltsberechtigte Kinder der betroffenen ArbN an die Eintragung von Kinderfreibeträgen auf der Lohnsteuerkarte in zulässiger Weise angeknüpft werden.
Dies sieht das Hessische LAG (18.10.20, 18 Sa 22/20, Abruf-Nr. 221269) anders. Zumindest, wenn nicht wie im 1997 vom BAG entschiedenen Fall eine vollständige Betriebsschließung, sondern ein Abbau von Arbeitsplätzen über ein sogenanntes „Freiwilligenprogramm“ im Raum steht. Dann sollen Praktikabilitätserwägungen oder berechtigte Arbeitgeberinteressen durch das begrenzte Volumen des Sozialplans nicht ausreichen, um eine pauschalierte Erhöhung der Abfindung allein auf Grundlage der auf der Lohnsteuerkarte eingetragenen Kinderfreibeträge als zur Zielerreichung angemessen und erforderlich erscheinen zu lassen.
Das LAG Hessen begründet dies damit, dass die Anknüpfung an einen Kinderfreibetrag als Lohnsteuerabzugsmerkmal eine nicht gerechtfertigte mittelbare Benachteiligung von Frauen darstelle. Bei der Lohnsteuerklasse V seien Kinderfreibeträge als Abzugsmerkmal nicht vorgesehen und diese Steuerklasse werde immer noch vor allem von Frauen gewählt. Es sei insoweit nach den Ausführungen des LAG Hessen eine offenkundige Tatsache im Sinne des § 291 ZPO, dass überwiegend Frauen die Lohnsteuerklasse V hätten. Dies lasse sich auch aus den Berechnungen der Hans-Böckler-Stiftung (Stand November 2019) klar ersehen. Danach betrage der Anteil der verheirateten Frauen in der Lohnsteuerklasse V 89 Prozent, der der verheirateten Männer hingegen nur 11 Prozent.
Zwar sei das mit der Sozialplanregelung verbundene Ziel, Abfindungen durch pauschalisierte Regelungen in ihrer Berechnung zu vereinfachen und der Höhe nach zu beschränken, um vorgegebene Sozialplanvolumina nicht zu überschreiten, ebenso rechtmäßig, wie die Regelungsabsicht, aufbauend auf einer tatsächlichen Unterhaltspflicht für unterhaltsberechtigte Kinder den ArbN eine pauschale Erhöhung der Abfindung im Rahmen des Freiwilligenprogramms zukommen zu lassen. Das Abstellen auf den Kinderfreibetrag sei aber nicht angemessen und erforderlich, um das Ziel zu erreichen.
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Die ArbN hat zwei minderjährige Kinder. Sie arbeitete seit dem 1.5.15 für den ArbG, ein Unternehmen der Automobilindustrie. Sie hatte die Lohnsteuerklasse V gewählt und schied auf Grundlage eines Aufhebungsvertrags vom 24./25.4.19, der auf den Sozialplan B vom 21.3.18 und eine Betriebsvereinbarung zum Freiwilligenprogramm B Bezug nimmt, zum 31.5.19 aus. In dem in Bezug genommenen Sozialplan B ist hinsichtlich der Abfindung u. a. geregelt, dass sich diese „um 5.000 EUR pro Kind erhöht, das am Stichtag auf der Lohnsteuerkarte eingetragen“ ist, und dass dieser Betrag auch gezahlt wird, wenn das Kind nur zu 0,5 auf der Lohnsteuerkarte eingetragen ist.
Die ArbN erhielt nach den zwischen den Parteien unstreitigen sonstigen Berechnungsprämissen des Sozialplans B eine Abfindung in Höhe von 24.081,50 EUR. Sie fordert eine Erhöhung um 2 x 5.000 EUR, mithin weitere 10.000 EUR wegen mittelbarer Diskriminierung wegen ihres Geschlechts.
Auf Grundlage des Urteils des BAG vom 12.3.97 wies das Arbeitsgericht Darmstadt die Klage ab. Die hiergegen gerichtete Berufung der ArbN vor dem LAG Hessen war erfolgreich. Dieses ließ die Revision zu. (Abruf-Nr. 221269) |
2. Der Lösungsansatz des Hessischen LAG
Es liege eine mittelbare Benachteiligung nach § 3 Abs. 2 AGG durch das unterscheidende Kriterium des Lohnsteuerabzugsmerkmals „Kinderfreibetrag“ im Sozialplan vor. Es sei nicht angemessen und erforderlich gewesen, dieses scheinbar neutrale Merkmal als Ausschlussgrund zu verwenden. Diese mittelbare Benachteiligung der ArbN durch die entsprechende Sozialplanbestimmung verstoße gegen § 75 Abs. 1 BetrVG. Das habe zur Folge, dass der benachteiligten ArbN im Rahmen einer „Anpassung nach oben“ die vorenthaltene Leistung zuzuerkennen sei.
Der ArbG teilte mit, die Kalkulierbarkeit des Sozialplanvolumens müsse für ihn gewährleistet sein. Hierzu führte das LAG aus, anders als in dem BAG-Fall handele es sich hier nicht um eine vollständige Betriebsschließung, sondern um einen Personalabbau im Rahmen eines Freiwilligenprogramms auf Grundlage einvernehmlicher Aufhebungsverträge. Bei einer solchen Konstellation könne die finanzielle Belastung des ArbG durch den Sozialplan und die auf seiner Grundlage auszukehrenden Zahlungen ohnehin vorab nicht endgültig berechnet werden. Überdies sei dem ArbG möglich und zumutbar, hinsichtlich der voraussichtlichen Kosten zu schätzen, wie viele ArbN der Lohnsteuerklasse V unterhaltsberechtigte Kinder haben. Auch ein eingetragener Kinderfreibetrag von 1,0 sei wegen der Möglichkeit der Eintragung halber Freibeträge auf der Steuerkarte kein sicheres Differenzierungskriterium.
Dem Argument der Praktikabilität könne ebenfalls kein entscheidendes Gewicht zukommen. Bei einem freiwilligen Personalabbau müsse der ArbG ohnehin für jede/n am Ausscheiden interessierten ArbN prüfen, ob und welche persönlichen Voraussetzungen ‒ auch für die Berechnung der Abfindung ‒ vorliegen würden. Das Kriterium des Kinderfreibetrags hätte insofern leicht durch weitere Möglichkeiten, die Unterhaltspflicht gegenüber einem oder mehreren Kindern zum Stichtag im Sozialplan nachzuweisen, ergänzt werden können. Die entsprechende ausschließliche Regelung über den Kinderfreibetrag im Sozialplan sei daher auch unter dem Aspekt der Praktikabilität nicht angemessen und erforderlich.
3. Fazit
Die Entscheidung des LAG Hessen ist nicht rechtskräftig und die Revision zum BAG zugelassen worden. Daher bleibt es abzuwarten, ob sich das BAG der Argumentation anschließt. Dies ist aber angesichts der sorgsamen Argumentation des Hessischen LAG und der Tatsache, dass die Entscheidung des 10. Senats immerhin 24 Jahre zurückliegt, durchaus möglich.
ArbG, die den Betrieb veräußern und den Übergang vorbereiten wollen, indem sie einen freiwilligen Personalabbau auf Grundlage eines Sozialplans anstreben, ist zu empfehlen, den Zuschlag auf die Abfindung wegen unterhaltsberechtigter Kinder nicht allein von den auf der Lohnsteuerkarte eingetragenen Kinderfreibeträgen abhängig zu machen. Die diesbezüglichen Sozialdaten können in Gesprächen mit den betroffenen bzw. an einer freiwilligen Regelung interessierten ArbN ohne Weiteres im Vorfeld abgefragt und von diesen nachgewiesen werden.
Dies bringt neben der Sicherheit bei der Budgetplanung für den ArbG auch Vorteile in Bezug auf eine außerhalb freiwilliger Regelungen möglicherweise anstehende Kündigung. Bei fehlender Berücksichtigung vorhandener, aber nicht auf der Lohnsteuerkarte eingetragener Kinder, kann die Sozialauswahl leicht fehlerhaft und damit eine Kündigung aus betriebsbedingten Gründen unwirksam werden.
