06.01.2009 | Strafzumessung
Steuern, Strafen, Stufenleiter?
zur Pressemitteilung des BFH: Urteil vom 2.12.08 (1 StR 416/08) von RA Prof. Dr. Franz Salditt, Neuwied
Der BGH befürchtet, daß Urteilsabsprachen, geschützt durch Rechtskraft, „unter dem Deckmantel der Unkontrollierbarkeit“ stattfinden (BGHSt GSS 50, 40, 308). Bei einer Vielzahl von großen Wirtschaftsstrafverfahren könne eine dem Unrechtsgehalt schwerwiegender Steuerdelikte adäquate Bestrafung nicht erfolgen (BGHSt 50, 299, 308 f.). Deshalb versucht der - seit kurzem für Steuerstrafsachen zuständige - 1. Strafsenat auf eine Justizpraxis einzuwirken, die sich revisionsgerichtlicher Kontrolle entzieht. Dem dienen Ausführungen in den Urteilsgründen, die durch Pressemitteilung verbreitet werden. Bis Redaktionsschluß war der Urteilstext selbst noch nicht verfügbar.
1. „Grundsätzliche Ausführungen“ zum Strafmaß
1.1 Das besondere Gewicht des Betrages der verkürzten Steuern
Die Höhe des Hinterziehungsbetrages ist ein Strafmessungsumstand von besonderem Gewicht. „Der Steuerschaden bestimmt daher auch maßgeblich die Strafe.“ Damit wird der Erfolgsunwert von Steuerdelikten in den Vordergrund gerückt. Der oft geringe Handlungsunwert insbesondere schlichter Steuerhinterziehungen durch Verschweigen von Einnahmen und Vermögensteilen wird nicht in die Abwägung einbezogen.
1.2 Das große Ausmaß (50.000 EUR)
Der besonders schwere Regelfall der Steuerhinterziehung bei „großem Ausmaß“ (§ 370 Abs. 3 Nr. 1 AO) soll erfüllt sein, wenn der Steuerschaden „über 50.000 EUR“ liegt.
- Dazu wird auf das zum Betrug ergangene Urteil des 1. Strafsenat (BGH 7.10.03, BGHSt 48, 360 f, 364) verwiesen. Es hat die Grenze gemäß § 263 Abs. 3 Nr. 2 StGB bei 50.000 EUR gezogen, aber angemerkt, daß im Einzelfall „genügend Spielraum für eine gerechte Straffindung“ verbleibe. Die Pressemitteilung mußte darauf verzichten, dies zu zitieren.
- Aus diesem Grund wirkt die Pressemitteilung zu § 370 AO härter als das frühere Urteil, dessen Einschränkungen sie unerwähnt läßt. Danach nämlich hat der Tatrichter „ohnehin im Rahmen einer Gesamtbetrachtung auch bei Vorliegen der Voraussetzungen des Regelbeispiels zu bewerten, ob tat- oder täterbezogene Umstände vorliegen, die die Indizwirkung des Regelbeispiels aufheben und trotz seiner Verwirklichung zur Verneinung eines besonders schweren Falls führen können ...“
- Die damit verbundenen Fragen haben in der aktuellen Praxis große Bedeutung. § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO stellt mit Wirkung ab dem 1.1.08 nur noch auf das „große Ausmaß“ ab, ohne zugleich „groben Eigennutz“ vorauszusetzen (Gesetz zur Neuregelung der Telekommunikationsüberwachung 21.12.07, BGBl I, 3198).
- Der Pressemitteilung ist kein Wort darüber zu entnehmen, ob bei der Feststellung des „großen Ausmaßes“ mehrere Taten zusammenzurechnen sind. Nach Auffassung des 5. Strafsenats genügt der „Blick nur auf den Gesamtschaden einer Serie von Steuerhinterziehungen ... nicht, auch für jeden Fall das „große Ausmaß“ zu bejahen ungeachtet des im Einzelnen verursachten Schadens“ (BGH 5.2.04, wistra 04, 185). An dieser Betrachtung hat der 5. Strafsenat in einem weiteren Urteil (BGH 12.1.05, wistra 05, 144) festgehalten.
- Danach kann der Übergang zum besonders schweren Fall nicht durch Schadensaddition bei Bildung der Gesamtstrafe erfolgen. Dieses Prinzip erscheint heute wichtiger denn je: Durch das Jahressteuergesetz 2009 wird die Verjährungsfrist auf 10 Jahre verlängert, was kumulierte Schadensberechnungen nach oben springen lassen würde.
1.3 Die sechsstellige Schwelle (100.000 EUR)
Unmittelbar anschließend an den Schwellenwert des großen Ausmaßes fährt die Pressemitteilung fort: Dies bedeute, daß jedenfalls bei einem sechsstelligen Hinterziehungsbetrag die Verhängung einer Geldstrafe nur bei Vorliegen von gewichtigen Milderungsgründen noch schuldangemessen sei. Dem äußeren Anschein nach knüpft dieser Maßstab an die (niedrigere) Grenzschwelle des besonders schweren Falls (§ 370 Abs. 3 AO) an, obwohl es sich um das Verständnis des Grundtatbestands (§ 370 Abs. 1 AO) handelt, bei dem Freiheits- und Geldstrafen einander als Alternativen gegenüberstehen. Es bleibt offen, auf welcher Grundlage eine dem Gesetz nicht zu entnehmende rechnerische Konkretisierung des besonders schweren Falls genutzt werden kann, um für den Normaltatbestand einen auch dort nicht vorzufindenden Maßstab einzuführen.
1.4 Hinterziehungsbeträge in Millionenhöhe
Auf einer weiteren Stufe handelt die Pressemitteilung „Hinterziehungsbeträge in Millionenhöhe“ ab, ohne zu erklären, ob es um den Einzelfall geht oder ob auch die Summe einer Serie und damit die Bildung der Gesamtstrafe gemeint ist.
- Hier soll die Verhängung von Geldstrafen nur bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe noch in Betracht kommen.
- Zugleich wird für eine derartige Größenordnung (Millionenbetrag) ein prozessualer Hinweis erteilt. Bei dieser Fallgestaltung nämlich soll eine Erledigung im Strafbefehlsverfahren regelmäßig ungeeignet sein. Bekanntlich endet der Strafbefehlsweg bei einer Freiheitsstrafe von einem Jahr, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wird.
- Das Strafbefehlsverfahren ist nach h.M. rechtsstaatlich unbedenklich (KK Fischer, 2008, Rn. 3 vor § 407 StPO). Deshalb muß der Hinweis materiellrechtlich verstanden werden: Bei einem Millionenbetrag soll die Freiheitsstrafe höher als ein Jahr ausfallen, was die Erledigung nach § 407 StPO verhindert.
- Dabei handelt es sich um eine Leitlinie, die wie eine Mindeststrafe wirkt, obwohl § 370 Abs. 3 Nr. 1 AO eine solche von „nur“ einem halben Jahr androht und normative Anhaltspunkte dafür fehlen, ab wann die dritte Stufe der nicht aussetzungsfähigen Freiheitsstrafen erreicht wird. Nach dem Wortlaut der Presseerklärung soll dies für „Hinterziehungsbeträge in Millionenhöhe“ gelten. Hier sollen, so heißt es weiter, aussetzungsfähige Freiheitsstrafen, also solche bis zu zwei Jahren, nur noch bei Vorliegen besonders gewichtiger Milderungsgründe in Betracht kommen. Dieser Hinweis fällt auf den alten und von der Rechtsprechung überwundenen Wortlaut des § 56 Abs. 2 StGB zurück (BGHSt 29, 371). Er läuft Gefahr, im Sinne eines Sonderrechts für Steuerdelikte mißverstanden zu werden.
2. Mißverständnisse
2.1 Die Strafmaßdiskussion zum Fall Z.
Die Öffentlichkeit bildet ihre Meinung aufgrund von Medienberichten. Wenn der BGH sich der Pressemitteilung bedient, um „grundsätzliche Ausführungen“ zu verbreiten, liegen solche Wirkungen nahe. Folgerichtig befaßt sich die aktuelle Diskussion damit, ob im Falle Z. (LGT Liechtenstein), weil dort die Schwelle des Millionenbetrages als Folge eingetretener Teilverjährung unterschritten zu sein scheint, Freiheitsentzug vermieden werde. Dies macht die Problematik metajuristischer „Tarife“ besonders deutlich.
2.2 Millionenhöhe bei Tatmehrheit
Die Bildung der Gesamtstrafe richtet sich nicht nur nach dem Gesamterfolg.
- Die Millionenschwelle wird im Steuerstrafrecht zumeist nur durch Addition der Einzeltaten überschritten. Deshalb ist zu fragen, welche Bedeutung der Hinweis des BGH bei der Bildung einer Gesamtstrafe hat. Bei Serientaten, und um solche geht es im Steuerstrafrecht, wenn der wiederholte Lebenssachverhalt gleichbleibt, ist das Gesamtgewicht aber nur einer von vielen in Betracht zu ziehenden Umständen: Die einzelnen Taten „müssen deshalb nicht als bloße Summe, sondern in einer Gesamtschau als Inbegriff beurteilt werden“ (BGH 22.3.95, NJW 95, 2234). So mindert sich die Erhöhung der Einsatzstrafe, wenn zwischen den einzelnen Taten ein Zusammenhang besteht und die Hemmschwelle von Tat zu Tat niedriger geworden ist.
- Im Steuerstrafrecht, in dem alte Verstrickungen fortdauern, weil eine wahrheitsgemäße spätere Steuererklärung die früheren Taten preisgeben würde, hat diese Betrachtung zur Hemmschwelle noch größere Bedeutung als sonst. Das fordert eine differenzierte Strafzumessung, die gerade nicht in erster Linie und unter Vernachlässigung anderer Aspekte auf addierte Schadenssummen abheben darf.
- Es ist bislang auch nicht davon auszugehen, daß der 1. Strafsenat die Rechtsprechung in Frage stellen will, die bei der Gesamtstrafe eine Kombination von Freiheits- und Geldstrafen zuläßt (§ 53 Abs. 2 S. 2 StPO). Solche Lösungen bieten sich an, wenn es nur so möglich wird, im Rahmen einer schuldangemessenen Bewertung der Taten die Vollstreckung der Gesamtfreiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen (BGH 27.6.90, NStZ 90, 488).
3. Zur rechtlichen Bedeutung der Vorgaben
3.1 Der Spielraum
Die Strafzumessung kennt keine Punktstrafe, sondern den Spielraum des Tatrichters, der eine Bandbreite richtiger Entscheidungen eröffnet (G. Schäfer/Sander/van Gemmeren, Praxis der Strafzumessung, 2008, Rn. 461 ff. m.w.N.). Die Reichweite des Spielraums wird durch einen langen Katalog strafzumessungserheblicher Umstände beeinflußt (G. Schäfer, a.a.O., Rn. 310 bis 486).
3.2 Bindung oder Appell?
Die Hinweise des 1. Strafsenats könnten darauf abzielen, den revisionsrechtlich respektierten Spielraum einzuengen. Es fragt sich, welche Wirkung von den in der Pressemitteilung formulierten Maßstäben ausgeht.
- Tatrichter und Staatsanwalt haben immer die Möglichkeit, die Stufenleiter des BGH durch Teileinstellungen nach § 154 StPO zu unterlaufen. Der Einsatz dieses Steuerungsmittels wird durch die soeben verdoppelte Verjährungsfrist eher gefördert werden.
- Im übrigen binden selbst rechtliche Beurteilungen des Revisionsgerichts den Tatrichter nur, soweit sie die Aufhebung des angefochtenen Urteils tragen (§ 358 Abs. 1 StPO). Für Mitteilungen aus Anlaß des Urteils („obiter dicta“) gilt das nicht. Ob die Staatsanwaltschaft an gerichtliche Präjudizien gebunden ist, wird kontrovers beurteilt (Meyer-Goßner, StPO, 2008, Rn. 11 vor § 141 GVG). Rechtsmeinungen als „obiter dicta“ entfalten keinerlei Bindungswirkung.
- Die dem Richter garantierte sachliche Unabhängigkeit (Art. 97 Abs. 1 GG) gilt auch rechtsprechungsintern (BVerfG NJW 96, 2149, 2150). Rechtsauffassungen des BGH außerhalb der Regelung des § 358 Abs. 1 StPO binden daher nicht. Sie sind als der Versuch zu werten, durch „geistige Überzeugungskraft“ (dazu Hillgruber in Maunz-Dürig, GG, 2008, Rn. 95 zu Art. 97) Einfluß auf die Praxis zu nehmen. Legen die Tatrichter die Norm aber anders aus, müssen sie deshalb auch anders judizieren. Das schirmt die Strafzumessung gegen Leitlinien des Revisionsgerichts ab. Die Vorgaben der Pressemitteilung sind Appell und entfalten keine indirekte Bindungswirkung.
4. Der notwendige Diskurs
Das Anliegen des 1. Strafsenats ist nachvollziehbar, die damit verbundenen Probleme und Gefahren erscheinen aber keineswegs geringfügig. Wenn die Praxis sich an den Vorgaben orientiert, leidet das hochdifferenzierte Strafzumessungsrecht. Außerdem wird die subtile Abgrenzung zwischen den „Domänen“ des Revisionsgerichts und des Tatgerichts gestört.
Was die publizierten Vorgaben bedeuten, läßt sich ermessen, wenn man einen umgekehrten Ansatz aus der Perspektive des Verteidigers wählt: Jedenfalls keine Freiheitsstrafe unterhalb eines sechsstelligen Hinterziehungsbetrages! Im übrigen Freiheitsstrafen mit Aussetzung zur Bewährung bis zur Grenze eines Millionenbetrages! Hier würde noch auffälliger als bei den Hinweisen der Pressemitteilung, daß weder die Schadenswiedergutmachung noch die Umstände der steuerlichen Angaben (Konstrukt oder schlichtes Verschweigen?) in die Systematik der Abstufung einbezogen worden sind.
Aus Respekt vor dem BGH geht es nicht an, die Pressemitteilung zu ignorieren. Wir müssen den Diskurs zur Strafzumessung im Steuerstrafrecht aufnehmen. Dazu gehört auch die Signalwirkung, die von § 371 AO und von Spezialamnestien ausgeht. Und insbesondere, hier verdient das Anliegen des BGH volle Unterstützung, müssen unerträgliche lokale Ungleichheiten der Strafzumessungspraxis zu § 370 AO überwunden werden.