· Fachbeitrag · Urlaub
Der Urlaubsanspruch schwerbehinderter Arbeitnehmer und die Besonderheiten in der Praxis
von Rechtsanwältin Dr. Viktoria Winstel, Osborne Clarke, Köln
| Arbeitnehmer mit Schwerbehinderung haben gemäß § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX Anspruch auf zusätzlichen Urlaub. LGP beleuchtet die Voraussetzungen und die Besonderheiten bei der Berechnung des Urlaubsanspruchs und geht auf besondere Konstellationen des Urlaubsanspruchs ein, etwa bei Vorliegen einer Teilzeitbeschäftigung. |
Voraussetzungen des Anspruchs auf zusätzlichen Urlaub
Schwerbehinderte Menschen haben Anspruch auf bezahlten zusätzlichen Urlaub von fünf Arbeitstagen pro Urlaubsjahr ‒ dies gilt bei einer fünftägigen Arbeitswoche (§ 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX). Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass ein schwerbehinderter Arbeitnehmer seine Arbeitskraft schneller als ein „gesunder“ verbraucht. Um die Arbeitskraft zu sichern und zu erhalten, wird dem schwerbehinderten Arbeitnehmer ein zusätzlicher Urlaubsanspruch eingeräumt.
Schwerbehinderteneigenschaft
Wer schwerbehindert ist, ergibt sich aus § 2 Abs. 2 SGB IX: Danach sind solche Menschen schwerbehindert, die einen Grad der Behinderung von mindestens 50 haben.
Menschen mit einem Grad der Behinderung von 30 bis 50 sind zwar grundsätzlich schwerbehinderten Menschen gleichgestellt (§ 151 Abs. 3 SGB IX). Dies gilt allerdings nicht für den erhöhten Urlaubsanspruch.
Grundsatz: Zusatzurlaub teilt Schicksal des Urlaubsanspruchs
Der zusätzliche Urlaub nach § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX teilt grundsätzlich das rechtliche Schicksal des Urlaubsanspruchs nach dem Bundesurlaubsgesetz (BUrlG): Erteilung, Anrechnung und Verfall erfolgen wie beim "„normalen“ Urlaub eines Arbeitnehmers.
Besonderheit: Feststellung im Laufe des Kalenderjahrs
Besonderheiten ergeben sich aber, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft erst im Laufe des Kalenderjahrs festgestellt wird. Dann entsteht der Urlaubsanspruch anteilig (§ 208 Abs. 2 S. 1 SGB IX). Dabei sind Bruchteile ab einem halben Urlaubstag aufzurunden (§ 208 Abs. 2 S. 2 SGB IX).
Die Schwerbehinderteneigenschaft wird von der zuständigen Behörde meist rückwirkend zum Zeitpunkt der Antragstellung festgestellt. Die Regelung des § 208 Abs. 3 SGB IX soll gewährleisten, dass in diesem Falle keine umfangreichen zusätzlichen Urlaubstage mehr gewährt werden müssen. Denn nach dieser Vorschrift sollen die für das Beschäftigungsverhältnis geltenden Übertragungsregelungen nach wie vor zum Tragen kommen.
Dies können zwar auch individual- oder tarifvertragliche Regelungen sein, zumeist wird es sich jedoch um die Vorschriften des BUrlG handeln. Dann steht einer Übertragung des Alt-Urlaubs in das bereits begonnene Kalenderjahr grundsätzlich die Vorschrift des § 7 Abs. 3 BUrlG entgegen. Danach verfällt der nicht genommene Urlaub zum Ende eines Kalenderjahrs. Nur ausnahmsweise ist eine Übertragung zum 31.03. des Folgejahres möglich.
Wichtig | Nach der Rechtsprechung des BAG stellt die Unsicherheit über das Ergebnis des Feststellungsverfahrens über die Schwerbehinderteneigenschaft keinen in der Person des Arbeitnehmers liegenden Übertragungsgrund nach § 7 Abs. 3 S. 1 BUrlG dar (BAG, Urteil vom 21.02.1995, Az. 9 AZR 746/93). Sprich: Eine Übertragung zum 31.03. des Folgejahres nur aus Gründen der Unsicherheit über das Feststellungsergebnis findet daher nicht statt.
Wegfall der Voraussetzungen ‒ Grad der Behinderung unter 50
Wird der Grad der Behinderung unter 50 herabgesetzt, gilt die Berechnungsgrundlage für den Zusatzurlaub noch volle drei Monate, nachdem der Herabsetzungsbescheid unanfechtbar geworden ist (§ 199 Abs. 1 SGB IX).
Tod des Arbeitnehmers
Bei Tod des Arbeitnehmers muss wohl auch der zusätzliche Urlaub abgegolten werden.
Berechnung des Urlaubsanspruchs Schwerbehinderter
Wie der Zusatzurlaub berechnet wird, erläutert das folgende Beispiel:
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Eine schwerbehinderte Arbeitnehmerin (Grad der Behinderung 60) hat 2019 den gesetzlichen Urlaubsanspruch in Höhe von 20 Arbeitstagen (§ 3 Abs. 1 BUrlG). Ihr steht darüber hinaus auch der zusätzliche Urlaub aus § 208 Abs. 1 S. 1 SGB IX in Höhe von fünf Tagen zu.
Ergebnis: Der Gesamturlaubsanspruch für das Jahr 2019 beträgt 25 Tage. |
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Die Schwerbehinderteneigenschaft wird zum 01.07.2019 festgestellt. Die Arbeitnehmerin hat ihren gesetzlichen Urlaubsanspruch in Höhe von 20 Tagen. Für sechs von zwölf Monaten des Jahres 2019 wurde ihr zudem die Schwerbehinderteneigenschaft zugesprochen, sodass sie anteilig einen Anspruch auf zusätzlichen Urlaub hat:
(6/12) x 5 Tage = 2,5 Tage
Ergebnis: Bruchteile ab einem halben Urlaubstag sind aufzurunden (§ 208 Abs. 2 S. 2 SGB IX). Damit ergibt sich ein zusätzlicher Urlaub von drei Tagen ‒ und insgesamt ein Urlaubsanspruch von 23 Tagen für das Jahr 2019. |
Besondere Konstellationen in der Praxis
In der Praxis gibt es besondere Konstellationen für den Urlaubsanspruch, etwa wenn schwerbehinderte Arbeitnehmer einer Teilzeitbeschäftigung nachgehen, in Elternzeit oder erkrankt sind.
Teilzeitbeschäftigung schwerbehinderter Arbeitnehmer
Ist ein schwerbehinderter Arbeitnehmer in Teilzeit beschäftigt, wird der Urlaubsanspruch proportional zur Anzahl der Wochenarbeitstage verringert. Der zusätzliche Urlaub für Schwerbehinderte wird genauso behandelt wie der gesetzliche oder auch ein individualvertraglicher Urlaubsanspruch.
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Eine schwerbehinderte Arbeitnehmerin hatte 2018 einen Gesamturlaubsanspruch in Höhe von 25 Tagen (20 Urlaubstage + fünf Tage zusätzlicher Urlaub). 2019 arbeitet sie in Teilzeit an drei von fünf Tagen. Der zunächst errechnete Urlaubsanspruch ist nach folgender Maßgabe zu kürzen:
(3/5) x 25 Urlaubstage = 15 Urlaubstage
Ergebnis: Die schwerbehinderte Arbeitnehmerin in Teilzeit hat 15 Urlaubstage. |
Elternzeit schwerbehinderter Arbeitnehmer
Hinsichtlich Elternzeit gilt der Grundsatz, dass der zusätzliche Urlaub für schwerbehinderte Arbeitnehmer das rechtliche Schicksal des „normalen“ Urlaubs teilt. Nach § 17 Abs. 1 S. 1 BEEG kann der Arbeitgeber den Erholungsurlaub für jeden vollen Kalendermonat der Elternzeit um ein Zwölftel kürzen.
Arbeitsunfähigkeit schwerbehinderter Arbeitnehmer
Auch bei der Arbeitsunfähigkeit wird der zusätzliche Urlaub so behandelt wie „normaler“ Urlaub. Hier ist demnach § 9 BUrlG zu beachten. Danach werden nachgewiesene Tage der Arbeitsunfähigkeit nicht auf den Jahresurlaub angerechnet. Falls ein schwerbehinderter Arbeitnehmer wegen Arbeitsunfähigkeit seinen Jahresurlaub nicht gänzlich nehmen kann, kommt eine Übertragung nach § 7 Abs. 3 BUrlG in Betracht.
Informations- und Hinweispflichten des Arbeitgebers
Der Arbeitgeber ist verpflichtet, den schwerbehinderten Arbeitnehmer auf dessen (Zusatz-)Urlaub hinzuweisen. Kommt er seinen Informations- und Hinweispflichten nicht nach, hat der Arbeitnehmer einen Schadensersatzanspruch in Form des Ersatzurlaubs. Dieser wandelt sich mit Beendigung des Arbeitsverhältnisses in einen Abgeltungsanspruch um (LAG Niedersachsen, Urteil vom 16.01.2019, Az. 2 Sa 567/18, Abruf-Nr. 207904).
Weiterführender Hinweis
- Beitrag „Der Verfall von Urlaubsansprüchen ‒ ein Überblick über die Regelungen“, LGP 3/2019, Seite 50 → Abruf-Nr. 45378766