· Fachbeitrag · Verwirkung
An die Feststellung einer vorsätzlichen schweren Verfehlung sind hohe Anforderungen zu stellen
Eine Verwirkung von Elternunterhaltsansprüchen, die auf Vorgänge außerhalb des Anwendungsbereichs deutschen Rechts gestützt werden soll (hier: Übergabe eines Säuglings nach dem Tod der Mutter an die Großeltern in der Zeit ab 1956 in der damaligen Sowjetunion) darf nicht nach den aktuellen Maßstäben des deutschen Rechts bewertet werden (OLG Celle 19.8.14, 10 UF 186/14, Abruf-Nr. 142930). |
Sachverhalt
Der Sozialhilfeträger nimmt den Sohn im Wege des Stufenantrags aus übergegangenem Recht auf Elternunterhalt in Anspruch. Der Sohn ist den Aufforderungen zur Auskunftserteilung über seine unterhaltsmaßgeblichen Einkünfte nicht nachgekommen. Er beruft sich bereits gegen die Verpflichtung zur Auskunftserteilung auf grobe Unbilligkeit und macht einen Wegfall seiner Unterhaltsverpflichtung gemäß § 1611 Abs. 1 S. 2 BGB geltend.
Dazu hat er angegeben, 1955 in der damaligen Sowjetunion geboren zu sein. Nach dem Tod seiner Mutter am 28.2.56 habe sein Vater veranlasst, dass er von seinen in Weißrussland lebenden Großeltern väterlicherseits aufgenommen wurde und dort bis zu seinem sechsten Lebensjahr geblieben ist. In der Folgezeit habe er sich zeitweilig „auch ein paar Monate“ bei seinem Vater aufgehalten, sei dann aber zu seinen ebenfalls in St. Petersburg wohnenden Großeltern mütterlicherseits gezogen. 1993 ist er nach Deutschland gekommen. Erst 2006 habe er erfahren, dass sein Vater ebenfalls in Deutschland lebt, als er wegen etwaiger Unterhaltsansprüche angeschrieben wurde.
Das AG hat den Auskunftsantrag des Sozialhilfeträgers abgewiesen, die Kostenentscheidung der Schlussentscheidung vorbehalten, den Verfahrenswert für die Auskunftsstufe auf 500 EUR festgesetzt und die Beschwerde zugelassen. Zur Begründung der Antragsabweisung auf der Auskunftsstufe hat es ausgeführt, dass dem Sozialhilfeträger aus übergegangenem Recht weder ein Auskunfts- noch ein Zahlungsanspruch zusteht, da ein solcher gemäß § 1611 Abs. 1 S. 1 Alt. 3, S. 2 BGB verwirkt ist. Der Unterhaltsberechtigte habe sich einer vorsätzlichen schweren Verfehlung gegen den Antragsgegner schuldig gemacht, indem er diesen im Alter von vier Monaten in den Haushalt seiner Schwiegereltern bzw. seiner Eltern gegeben habe, ohne eine Vater-Kind-Beziehung aufrechtzuerhalten. Die Beschwerdezulassung erfolge, da es bislang an einer einheitlichen Beurteilung der Frage fehle, ob der vorliegend angenommene Verwirkungseinwand bereits die Zurückweisung auf der Auskunftsstufe und damit vor Klärung der wirtschaftlichen Verhältnisse rechtfertigen könne.
Entscheidungsgründe
Das OLG hat vorab gemäß § 117 Abs. 3 FamFG darauf hingewiesen, dass es beabsichtigt gemäß § 68 Abs. 3 S. 2 FamFG ohne Wiederholung der erstinstanzlich erfolgten Verfahrenshandlungen, insbesondere ohne erneute mündliche Verhandlung, von der kein entscheidungserheblicher weiterer Erkenntnisgewinn zu erwarten ist, in der Sache zu entscheiden.
Das OLG stellt klar, dass ohnehin auch in der Sache der Sohn jedenfalls zu einer Auskunftserteilung verpflichtet ist. Vor einer solchen Auskunftserteilung und damit einer Klärung der wirtschaftlichen Verhältnisse kommt eine Abweisung des Anspruches des Sozialhilfeträgers insgesamt regelmäßig nicht in Betracht. Es entspricht vielmehr herrschender Auffassung, dass vor einer Prüfung des Einwands aus § 1611 BGB die Höhe des in Rede stehenden Unterhaltsanspruchs festzustellen ist (OLG Hamm MDR 02, 521, Palandt/Brudermüller, BGB, 73. Aufl., § 1611 Rn. 1).
Im Gegensatz zum AG kann das OLG derzeit auch nicht sicher feststellen, dass es keinen Unterhaltsanspruch des Vaters gibt, der auf den Sozialhilfeträger übergegangen ist.
- Im Rahmen einer Entscheidung nach § 1611 BGB ist eine umfassende Abwägung vorzunehmen, in deren Rahmen regelmäßig gerade auch die wirtschaftlichen Verhältnisse des auf Unterhalt in Anspruch Genommenen besondere Bedeutung haben. Dies gilt schon deswegen, weil die Rechtsfolge selbst einer vom AG hier angenommenen vorsätzlichen schweren Verfehlung gegen den Unterhaltspflichtigen nicht etwa der automatische Wegfall der Unterhaltspflicht, sondern vielmehr eine solche in Höhe eines Betrags zur Folge hat, die der Billigkeit entspricht.
- Zudem hat der Sozialhilfeträger auf den Vortrag des Sohns stichhaltig erwidert. Aus ihrem - bislang völlig unstreitigen - Vortrag ergeben sich bereits erhebliche Anhaltspunkte dafür, dass der Sohn etwaige Verfehlungen seines Vaters verziehen hat. Er hält seit Kenntnis von dessen Aufenthalt in Deutschland (im Rahmen seiner insbesondere berufsbedingt eingeschränkten Möglichkeiten) mit diesem regelmäßigen Kontakt und unterstützt ihn in verschiedener Weise. Zudem hat er im Rahmen seiner früheren Inanspruchnahme auf Auskunft selbst sogar ausdrücklich auf den Verwirkungseinwand verzichtet.
- Schließlich hat das AG die von ihm für den Verwirkungsvorwurf herangezogenen Umstände in der Jugend des Antragsgegners, zu denen von beiden Seiten bislang lediglich rudimentär vorgetragen worden ist, jedenfalls nicht in dem offenkundig gebotenen zeitlichen und rechtlichen Kontext (vgl. insofern bereits OLG Celle FamRZ 11 987) gewürdigt. Das AG hat die unstreitig 1956 in der damaligen Sowjetunion spielende Situation ersichtlich nach den aktuellen Maßstäben des deutschen Rechts bewertet. Dies stellt aber weder in historischer noch in rechtlicher Hinsicht den zutreffenden Bezugsrahmen dar. Ob gegenüber dem Unterhaltsberechtigten in Ansehung der rechtlichen Vorgaben wie der tatsächlichen Möglichkeiten in der Sowjetunion des Jahres 1956 aus den wenigen vorgetragenen Umständen ein unterhaltsrelevanter Vorwurf im Sinne einer vorsätzlichen schweren Verfehlung gemacht werden kann, bedürfe zumindest einer sorgfältigen Prüfung unter Berücksichtigung des bislang in keiner Weise festgestellten seinerzeitigen rechtlichen wie sozialen Kontext. Dabei trifft im Übrigen die volle Darlegungs- und ggf. Beweislast für die tatsächlichen Grundlagen des Verwirkungseinwandes den Unterhaltsschuldner (Wendl/Klinkhammer, 8. Aufl., § 2 Rn. 608; Palandt/Brudermüller, BGB, 73 Aufl., § 1611 Rn. 11).
- Es erscheint schon zweifelhaft, ob die Tatsache, dass der Unterhaltsberechtigte den Antragsgegner nach dem Tod der Kindesmutter im unmittelbaren Säuglingsalter in die - ihm im weiteren nicht ersichtlich in irgendeiner Weise abträgliche - Obhut der Großeltern gegeben hat, überhaupt als eine Verfehlung angesehen werden kann. Jedenfalls aber wäre eine solche auch danach zu beurteilen, welche rechtlichen Pflichten das damalige Recht der Sowjetunion dem Vater eines Halbwaisen überhaupt auferlegte und ob der Vater seinerzeit und im für die fragliche Familie maßgeblichen sozialen Kontext überhaupt andere Handlungsoptionen hatte. Vergleichbar hat etwa der Senat in einem Fall, in dem die Mutter eines 1943 nichtehelich in Oberschlesien geborenen Kindes dieses Anfang 1945 im Haushalt der Großmutter ließ und nach Westdeutschland umzog, das Vorliegen einer schweren Verfehlung verneint (OLG Celle, a.a.O.).
- Soweit das AG im Übrigen davon ausgeht, der Vater habe „zu keiner Zeit im Leben des Sohns für diesen Verantwortung getragen und keine eigenen Leistungen bei dessen Erziehung und Versorgung erbracht“ ist dies nicht einmal vom Sohn selbst geltend gemacht worden. Nach dessen Vortrag ist es in der Folgezeit vielmehr durchaus zu einer nicht unerheblichen Beteiligung des Vaters an seinem Leben gekommen.
- Insofern ist es im Streitfall für das OLG jedenfalls ausgeschlossen, vor der Feststellung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Antragsgegners die Verwirkung eines ihm gegenüber bestehenden Unterhaltsanspruchs seines Vaters festzustellen.
Praxishinweis
Ob ein Tatbestand des § 1611 Abs. 1 BGB erfüllt ist, muss stets unter Berücksichtigung aller maßgeblichen Umstände des Verhaltens des Pflichtigen bestimmt werden (OLG Hamm FamRZ 07, 165). Folge: Es ist eine zweifache Billigkeitsabwägungvorzunehmen (OLG Hamm FamRZ 07, 165):
Checkliste / Zweifache Billigkeitsabwägung in § 1611 Abs. 1 BGB |
Bei der Billigkeitsabwägung sind vor allem zu berücksichtigen:
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