· Fachbeitrag · Bestellung eines Betreuers
Betreuung nur bei Handlungsbedarf für die jeweiligen Angelegenheiten
von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FA FamR, Prof. Dr. Jesgarzewski & Kollegen Rechtsanwälte, Osterholz-Scharmbeck, FOM Hochschule Bremen
| Die Bestellung eines Betreuers für alle Angelegenheiten setzt voraus, dass der Betroffene aufgrund seiner Erkrankung oder Behinderung keine seiner Angelegenheiten selbst besorgen kann. Zudem muss in all diesen Angelegenheiten, die die gegenwärtige Lebenssituation des Betroffenen bestimmen, ein Handlungsbedarf bestehen. Beides muss durch konkret festgestellte Tatsachen näher belegt werden (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 13.5.20, XII ZB 61/20). |
Sachverhalt
Die 1943 geborene Betroffene wendet sich gegen die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten. Das AG hat eine umfassende Betreuung mit dem Aufgabenkreis „alle Angelegenheiten inkl. Entgegennahme, Öffnen und Anhalten der Post“ eingerichtet und eine Betreuerin bestellt.
Die Betroffene leidet nach den sachverständig erhobenen tatrichterlichen Feststellungen an einer wahnhaften psychischen Störung. Dabei halluziniert sie insbesondere, dass sich in ihrer Wohnung fremde Menschen aufhalten. Die Gedanken der Betroffenen führen bereits zu einem weit ausgebauten Wahngebäude, das vermutlich bereits chronifiziert sei. Aus diesem Grund hat sie in der Vergangenheit für verschiedene von ihr bewohnte Wohnungen Mietminderungen vorgenommen. Im Ergebnis führte dies immer wieder zu Mietschulden und Kündigungen seitens der Vermieter.
Das LG hat die Beschwerde der Betroffenen zurückgewiesen. Mit der vorliegenden Rechtsbeschwerde verfolgt sie die Aufhebung der Betreuung weiter.
Entscheidungsgründe
Der BGH hat der Rechtsbeschwerde stattgegeben (10.6.20, XII ZB 25/20, Abruf-Nr. 217073). Da das LG noch nicht alle entscheidungserheblichen Tatsachen aufgeklärt hat, wurde die angefochtene Entscheidung aufgehoben und an das LG zurückverwiesen.
Das LG habe seine Entscheidung im Wesentlichen auf die wahnhafte Störung der Betroffenen und deren Auswirkungen auf den Umgang mit der jeweils unterhaltenen Mietwohnung gestützt. In der Realität der Betroffenen seien ständig Personen in der Wohnung, etwa der frühere Vermieter oder der Hausmeister, obwohl sie ein zusätzliches Innenschloss angebracht habe. Die Erkrankung gehöre zu den psychischen Störungen (ICD-10: F 22.0). Nach der Wertung des LG führe diese dazu, dass die Betroffene nicht in der Lage sei, sich selbst um ihre Angelegenheiten zu kümmern. Dies gelte auch gegen den erklärten Willen der Betroffenen, die sich nicht adäquat einzuschätzen vermöge und völlig in ihrem Wahn gefangen sei.
Diese Einschätzung sei indes rechtsfehlerhaft, da aus den vorgenannten Feststellungen zwar das Erfordernis einer Betreuung folge. Die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten sei auf dieser Tatsachenbasis jedoch nicht zu rechtfertigen. Es fehle an einer hinreichenden Begründung zum Umfang des Aufgabenkreises.
MERKE | Nach § 1896 Abs. 2 S. 1 BGB dürfe ein Betreuer nur bestellt werden, soweit die Betreuung erforderlich ist. Ob und für welche Aufgabenbereiche ein objektiver Betreuungsbedarf besteht, sei aufgrund der konkreten, gegenwärtigen Lebenssituation des Betroffenen zu beurteilen. Für die Anordnung einer Betreuung für alle Angelegenheiten müsse konkret dargelegt werden, dass Handlungsbedarf in allen Angelegenheiten besteht. |
Vorliegend seien nur Feststellungen zur Erforderlichkeit der Betreuung in Wohnungsangelegenheiten und der damit zusammenhängenden Vermögenssorge getroffen worden. Da zu einer möglichen Betreuungsbedürftigkeit in allen Angelegenheiten keine Feststellungen getroffenen worden seien, müsse das LG noch Gelegenheit hierzu erhalten, sodass die Entscheidung der Aufhebung und Zurückweisung unterliege.
Relevanz für die Praxis
Dem zugrunde liegenden Sachverhalt ist keinesfalls zu entnehmen, dass nicht tatsächlich eine Betreuungsbedürftigkeit in allen Angelegenheiten vorliegen könnte. Vielmehr zeigt die Betreuungspraxis, dass im Falle einer so stark verfestigten Wahnvorstellung wie vorliegend oftmals eine völlige Unfähigkeit besteht, überhaupt irgendwelche eigenen Angelegenheiten zu regeln. Das bedarf jedoch umfassender tatrichterlicher Feststellungen.
In der Praxis sind sachverständige Feststellungen nötig, die sich nicht in allgemeinen Aussagen zu (geistigen) Einschränkungen oder (psychischen) Erkrankungen erschöpfen dürfen. Entscheidend ist, wie sich die Erkrankung auf die Fähigkeit zur Wahrnehmung der einzelnen Angelegenheiten auswirkt.