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· Fachbeitrag · Betreuungsverfahren

Auch die Vorführung zur Anhörung ist geboten, wenn sie nicht unverhältnismäßig ist

von RA Prof. Dr. Tim Jesgarzewski, FOM Hochschule Bremen

| Im Beschwerdeverfahren erscheint die betroffene Person nicht zum Termin, sodass die persönliche Anhörung scheitert. Was muss das Gericht nun unternehmen, um dem Betroffenen rechtliches Gehör zu gewähren und den Sachverhalt aufzuklären? Wann ist eine Vorführung des Betroffenen erforderlich und wann kann das Gericht von einer persönlichen Anhörung absehen? Diese Fragen waren Gegenstand einer aktuellen Entscheidung des BGH. |

 

  • Leitsatz des Bearbeiters zu BGH, Beschluss 3.11.21, XII ZB 215/21

Bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen im Verfahren zur Einrichtung einer Betreuung darf das Betreuungsgericht grundsätzlich nur dann von einer persönlichen Anhörung des Betroffenen wegen dessen vorherigen unentschuldigten Ausbleibens absehen, wenn alle zwanglosen Möglichkeiten, den Betroffenen anzuhören und sich von ihm einen persönlichen Eindruck zu verschaffen, vergeblich ausgeschöpft sind. Zudem muss die zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig sein. Bei der Frage, ob die Vorführung des Betroffenen und deren zwangsweise Vollziehung ausnahmsweise unverhältnismäßig sind, ist vor allem die Bedeutung des Verfahrensgegenstands in den Blick zu nehmen. (Abruf-Nr. 226896)

 

 

Sachverhalt

Für die Betroffene hat das Amtsgericht ein Betreuungsverfahren eingeleitet, nachdem bekannt wurde, dass sie einem Asylbewerber ihr gesamtes Vermögen von 180.000 EUR geschenkt habe. Die Betroffene bat sodann selbst schriftlich um die Einrichtung einer Betreuung. Sie sei wegen einer bipolaren affektiven Störung mit gemischter Symptomatik sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung geschäftsunfähig und hat ein entsprechendes Attest eingereicht. Dem Amtsgericht und auch der gerichtlich beauftragten Sachverständigen war keine Kontaktaufnahme mit der Betroffenen möglich. Das Amtsgericht hat das Verfahren daraufhin eingestellt.

 

Auf die Beschwerde der Betroffenen hat das Amtsgericht im Abhilfeverfahren die Sachverständige um einen erneuten Begutachtungsversuch gebeten, der jedoch genauso wie ein weiterer Termin durch die Betroffene nicht wahrgenommen wurde. Das Landgericht hat dann einen neuen Gutachter bestellt.

 

Zum vereinbarten Termin ist die Betroffene wiederum nicht erschienen, wurde aber bei einem anschließend angekündigten Hausbesuch angetroffen. Hierbei sind keine psychiatrischen Symptome erkennbar gewesen. Zudem hat die Betroffene auf den Gutachter psychisch gesund gewirkt. Da sich die Betroffene zeitgleich um Handwerkerarbeiten im Hause kümmern wollte, konnte über ihre Wünsche bezüglich einer Betreuung nicht weitergesprochen werden. Sodann hat das Landgericht die Betroffene zur persönlichen Anhörung geladen und darauf hingewiesen, dass das Beschwerdeverfahren im Falle eines unentschuldigten Fernbleibens auch ohne die persönliche Anhörung beendet werden könne. Nachdem die Betroffene dann unentschuldigt zum Termin nicht erschienen ist, hat das Landgericht ihre Beschwerde zurückgewiesen.

Entscheidungsgründe

Die dagegen erhobene Rechtsbeschwerde hat vor dem BGH Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses sowie zur Zurückverweisung der Sache an das Landgericht.

 

Das Landgericht habe unter Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz ohne persönliche Anhörung der Betroffenen entschieden.

 

MERKE | Zwar ordne § 278 Abs. 1 S. 1 FamFG eine persönliche Anhörung nur vor der Bestellung eines Betreuers für den Betroffenen an. Damit sei aber nicht die Aussage verbunden, dass der Betroffene im Falle einer ausbleibenden Betreuerbestellung generell nicht angehört werden muss. Der gesetzliche Schutzzweck gelte auch bei einem Einverständnis des Betroffenen mit der Betreuungserrichtung. Wird diese ohne die erforderliche persönliche Anhörung abgelehnt, werde dem Betroffenen der ihm durch das Betreuungsrecht gewährleistete Erwachsenenschutz ohne ausreichende Grundlage entzogen.

 

Zwar hat das Landgericht vorliegend einen Termin zur Anhörung bestimmt. Es habe jedoch nach dem unentschuldigten Ausbleiben der Betroffenen bereits keinen Versuch unternommen, sie nach § 278 Abs. 1 S. 3 FamFG in ihrer üblichen Umgebung anzuhören. Damit habe es nicht alle zwanglosen Möglichkeiten ausgeschöpft, die Betroffene anzuhören.

 

PRAXISTIPP | Da die Anhörung in Betreuungssachen nicht nur der Gewährung rechtlichen Gehörs, sondern auch der Sachverhaltsaufklärung diene, dürfe das Betreuungsgericht in einem solchen Fall grundsätzlich nur dann von der Anhörung im Falle eines unentschuldigten Ausbleibens von der Anhörung absehen, wenn die zu Gebote stehende Vorführung des Betroffenen unverhältnismäßig ist und zudem alle zwanglosen Möglichkeiten für eine Anhörung ausgeschöpft sind. Die Nichtdurchsetzung einer notwendigen Anhörung mit den Mitteln der Vorführung würde einen Verstoß gegen den Amtsermittlungsgrundsatz bedeuten.

 

Da sich nicht ausschließen lasse, dass das Landgericht nach der auch von ihm selbst für erforderlich gehaltenen Anhörung der Betroffenen zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, könne der angefochtene Beschluss keinen Bestand haben.

 

MERKE | Der Senat konnte daher in der Sache nicht abschließend entscheiden, sodass das Verfahren zur weiteren Sachaufklärung zurückverwiesen werden musste.

 

Relevanz für die Praxis

Das erheblich widersprüchliche Verhalten der Betroffenen hat das Landgericht dazu veranlasst, das Verfahren weiter zu betreiben und insbesondere weitere Versuche zur Durchführung einer Anhörung zu unternehmen.

 

Anhörung zentrales Element der Sachverhaltsaufklärung

Zutreffend wurde erkannt, dass ein Betreuungsbedarf bestehen könnte, sodass Ermittlungen von Amts wegen durchzuführen waren. Ganz zentrales Element der Sachverhaltsaufklärung ist dabei die Anhörung der Betroffenen, die zugleich der Wahrung des rechtlichen Gehörs dient. Die Durchführung der Anhörung ist zwar mehrfach gescheitert. Das Landgericht hat jedoch nicht die dafür zur Verfügung stehenden gesetzlichen Mittel ausgeschöpft.

 

Beachten Sie | Grundsätzlich hat auch eine Vorführung der Betroffenen zu erfolgen (siehe bereits BGH, Beschluss 24.2.21, XII ZB 503/20, Abruf-Nr. 221465 = SR 21, 111).

 

Gericht hat kein freies Ermessen

Der Tatrichter hat gerade kein vollständig freies Ermessen bei der Beurteilung der Frage, ob er im Falle eines unentschuldigten Ausbleibens der Betroffenen von einer Anhörung absehen kann. Dem Schutzgedanken des Gesetzes Rechnung tragend muss er zumindest alle zwanglosen Möglichkeiten einer Anhörung ausschöpfen und die Unverhältnismäßigkeit einer Vorführung feststellen.

 

PRAXISTIPP | Das Landgericht hätte folglich ohne Weiteres die Betroffene zu Hause oder anderweitig aufsuchen können. Aus den Entscheidungsgründen ist auch nicht ersichtlich, dass mit schweren negativen Folgen oder gesundheitlichen Nachteilen für die Betroffene zu rechnen gewesen wäre. Das Landgericht hat dazu schlicht keine Feststellungen getroffen. Es ist also auch nicht erkennbar, dass eine Vorführung unverhältnismäßig gewesen wäre.

 

Der Betreuungssenat verdeutlicht zutreffend, dass die persönliche Anhörung des Betroffenen als Ausprägung des Grundrechts auf rechtliches Gehör einen umfassenden Schutzcharakter hat. Die Tatgerichte müssen diesem Rechnung tragen.

 

Weiterführender Hinweis

  • Persönliche Anhörung auf Basis aller Tatsachen erforderlich ‒ Corona ändert daran nichts: BGH SR 21, 57
Quelle: Ausgabe 03 / 2022 | Seite 41 | ID 47998891