· Fachbeitrag · Erwerbsminderung
Gutachten einer Pflegefachkraft gilt im Verfahren als „zusätzliche Erkenntnisquelled“
| Auch ein nicht durch einen Arzt, sondern durch eine Pflegefachkraft erstelltes Gutachten kann einen Rentenanspruch stützen. Es leistet zwar keinen Vollbeweis für eine Erwerbsminderung, unterstützt aber sowohl den Gutachter als auch das Gericht bei seiner Entscheidung, so aktuell das SG Nordhausen. Das SG hat ferner die Voraussetzungen für eine unbefristete Rente anhand der BSG-Rechtsprechung betont. |
Sachverhalt
Die 68-jährige Klägerin klagte auf Erwerbsminderungsrente, nachdem ihr Rentenantrag mit Widerspruchsbescheid der beklagten Rentenversicherung zurückgewiesen wurde.
Nach Meinung der Rentenversicherung läge bei der Klägerin noch ein Leistungsvermögen für leichte Tätigkeiten mit Einschränkungen für mindestens sechs Stunden vor. Die Klägerin trug vor, dass sie aufgrund aller diagnostizierten Erkrankungen nicht mehr arbeitsfähig sei, und beantragte Rente wegen voller, hilfsweise teilweiser Erwerbsminderung. Die Beklagte wies darauf hin, dass das eingeholte fachpsychiatrische Gutachten u. a. eine soziale Phobie, leichte Intelligenzminderung und einen essenziellen Tremor sowie auf anderen Gebieten eine rezidivierende Lumboischalgie sowie einen Zustand nach Hysterektomie feststellte.
Der Gutachter sah nur noch eine regelmäßig täglich weniger als drei Stunden körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten als möglich an. Dies ohne Anforderungen an feinmotorische Geschicklichkeit, einfache Arbeiten mit hohem Routinegrad ohne besondere psychische Belastungen, ohne Zeitdruck und ohne notwendige Fähigkeiten, sich hierfür anzupassen oder umzustellen. Eine begründete Aussicht, dass sich ihr Gesundheitszustand und damit ihr Leistungsvermögen bessert, bestehe nicht. Ihre Klage hatte Erfolg (SG Nordhausen 29.11.18, S 20 R 1954/17, Abruf-Nr. 206896).
Entscheidungsgründe
Die Klage war überwiegend begründet, die Klägerin ist erwerbsgemindert, da sie nur noch regelmäßig täglich weniger als drei Stunden körperlich leichte bis mittelschwere Arbeiten mit den weiter genannten Funktionseinschränkungen verrichten kann. Das Gericht zweifelte auch nicht an den zutreffenden gutachterlichen Einschätzungen und seinen Begutachtungsmaßstäben.
Diese standen auch in Übereinstimmung mit dem Pflegegutachten des MDK, aufgrund dessen die Klägerin den Pflegegrad II erhielt. Dieses Gutachten stammt zwar von einer Pflegefachkraft und war damit auch mit einer anderen Zielrichtung erhoben (festzustellende Pflegestufe). Ein solches Gutachten allein kann nicht den Vollbeweis einer Erwerbsminderung erbringen (vgl. u. a. LSG Sachsen-Anhalt, 10.3.11, L 3 R 42/07; „eingeschränkte Beweiskraft“, LSG Hamburg 12.7.17, L 2 R 19/16). Es stellt aber eine zusätzliche Erkenntnisquelle dar, die zur Einschätzung des Sachverständigen und zur Bildung der richterlichen Überzeugung beitragen kann und es im vorliegenden Fall auch getan hat.
Die Rente war auch nicht zu befristen, da das Gericht auch der gutachterlichen Einschätzung folgte, dass keine begründete Aussicht darauf besteht, dass sich das Leistungsvermögen der Klägerin bessern könnte.
Relevanz für die Praxis
Dass Renten gem. § 102 Abs. 2 S. 5 SGB VI unbefristet sind, wenn nicht wahrscheinlich ist, dass sich die geminderte Erwerbsfähigkeit bessert, wurde bereits erläutert (SR 18, 200).
Unterfüttern Sie ihren Sachvortrag ggf. mit der zitierten Studie (Lippke/Zschucke/Hessel: Befristete Erwerbsminderungsrente ‒ und dann ...?, publiziert in Sozialrecht aktuell, Sonderheft 2018). Verweisen Sie ggf. aktiv auf vorliegende Pflegegutachten und regen Sie an, dass Sachverständige diese einbeziehen bzw. berücksichtigen. Pflegekräfte können wichtige Details zu gesundheitlichen Einschränkungen im Alltagsleben des pflegebedürftigen Mandanten geben. Dies kann Ihren Klageanspruch stützen.
Weiterführende Hinweise
- (Wieder) viel Neues bei der Erwerbsminderungsrente, SR 19, 2
- Erwerbsminderungsrente befristet? Ärztliche Prognose entscheidet, SR 18, 200
- Fibromyalgie: Wie viele Stunden kann Anspruchsteller noch arbeiten? SR 18, 103