Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww

· Fachbeitrag · Pflegekosten

Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung: Entlastung bei vollstationärer Pflege

von Alexander Schrehardt (Betriebswirt bAV (FH) und Versicherungsberater § 34d (2) GewO), Erlangen

| Im Anschluss an den ersten Teil dieses Beitrags zur neuen Pflege-Gesetzgebung ( SR 22, 15 ) erfahren Sie in diesem zweiten Teil mehr über die Folgen des Leistungszuschusses sowie seine Finanzierung. |

1. Kannibalisierung der ambulanten Pflege?

Auch wenn die Gewährung von prozentualen Leistungszuschüssen an Versicherte in vollstationären Pflegeeinrichtungen zu begrüßen ist, müssen dennoch die mittel- bis langfristigen Folgen dieser sozialpolitischen Entscheidung kritisch hinterfragt werden. Stellt man einmal die von einem Versicherten zu tragenden Kosten bei einer Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst den von einem Versicherten in vollstationärer Pflege berechneten Kosten, d. h. der Summe aus dem einrichtungseinheitlichen Eigenanteil an den vollstationären Pflege- und den Hotelkosten (Investitionskostenpauschale, Unterkunft und Verpflegung) gegenüber, so wird schnell deutlich, dass die vollstationäre gegenüber der ambulanten Pflege bei den von dem Versicherten zu tragenden Restkosten punkten kann. Dies soll das nachfolgende Beispiel verdeutlichen:

 

So berechnet ein exemplarisch ausgewählter Pflegedienst für die ambulante pflegerische Versorgung eines Versicherten mit Pflegegrad 3 mit den Leistungen

  • Transfer aus dem Bett und Mobilisation am Morgen,
  • Hilfe beim Toilettengang am Morgen,
  • kleine Körperpflege von Dienstag bis Sonntag am Morgen und am Montag eine große Körperpflege (Duschen),
  • Ankleiden am Morgen,
  • Auskleiden am Abend,
  • Hilfe beim Toilettengang am Abend,
  • kleine Körperpflege am Abend und
  • Transfer ins Bett

 

monatlich 3.874,66 EUR. Nach Abzug der Pflegesachleistungen für einen Versicherten mit Pflegegrad 3 in Höhe von 1.363 EUR/Monat (§ 36 Abs. 3 Nr. 2 SGB XI n. F.) verbleibt somit ein Eigenanteil von 2.511,66 EUR/Monat (Hinweis: ermittelt mit dem Pflegekostenrechner des Pflegedienstes).

 

Für die vollstationäre Pflege in dem bereits benannten Pflegeheim in Nürnberg würden im ersten Jahr monatliche Gesamtkosten von 4.065,20 EUR anfallen, von denen der Versicherte 2.736,70 EUR/Monat übernehmen müsste.

 

Beachten Sie | Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass für den Versicherten in ambulanter Pflege zusätzlich zu dem Eigenanteil an den Pflegekosten die Miete bzw. die Unterhaltskosten für seine Wohnung oder sein Haus und auch die Verpflegungskosten anfallen.

 

Ab dem 13. Monat der vollstationären Pflege würde sich der auf den Versicherten in vollstationärer Pflege entfallende Kostenanteil auf 2.470,71 EUR/Mon., ab dem 25. Monat auf 2.204,72 EUR/Mon. und ab dem 37. Monat auf 1.872,23 EUR/Mon. vorbehaltlich einer Erhöhung der Kostensätze reduzieren.

 

PRAXISTIPP | Es ist somit nicht unwahrscheinlich, dass zunehmend mehr Versicherte sich unter monetären Gesichtspunkten für eine vollstationäre Pflege oder auch eine häusliche Laienpflege durch Familienangehörige entscheiden.

 

Ein Entwicklungstrend wird von den Statistiken der Jahre 2010 bis 2020 des Bundesministeriums für Gesundheit bereits vorgezeichnet. So ist seit dem Jahr 2010 eine Zunahme der Empfänger von Pflegegeld (häusliche Laienpflege) und ein Abschmelzen bei den Beziehern von Pflegesachleistungen (Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst) zu beobachten, während die Inanspruchnahme von Kombinationsleistungen (Versorgung durch Laien und einen ambulanten Pflegedienst) nahezu konstant geblieben ist. Zu dem Rückgang der Versicherten in vollstationärer Pflege im gleichen Zeitraum haben sicherlich die steigenden Kosten in den Pflegeheimen beigetragen. Hier bleibt die weitere Entwicklung unter Berücksichtigung der ab 1.1.22 gewährten Leistungszuschüsse abzuwarten.

 

  • Soziale Pflegeversicherung ‒ Leistungsempfänger nach Leistungsarten und Pflegegraden
Pflegegeld
Pflegesachleistungen
Kombinationsleistungen
Vollstationäre Pflege

2010

44,9 Prozent

7,7 Prozent

13,3 Prozent

29,9 Prozent

2020

51,3 Prozent

4,1 Prozent

13,4 Prozent

21,3 Prozent

 

2. Finanzierung der Leistungen aus dem Pflegefüllhorn des BMG

Die Entwicklung der Gesetzgebung bis zur aktuellen Neuerung kann wie folgt skizziert werden:

 

  • Bereits bei Einführung der sozialen Pflegeversicherung hatte der Gesetzgeber die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrats zu einer Anpassung der Leistungen der sozialen (und privaten) Pflegeversicherung in Abhängigkeit von der Einkommensentwicklung ermächtigt (§ 30 SGB XI i. d. bis 1.7.08 gültigen Fassung).

 

  • Mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz hatte der Gesetzgeber eine verpflichtende Prüfung einer notwendigen Anpassung der Leistungen der sozialen (und privaten) Pflegeversicherung in dreijährigen Intervallen beginnend ab dem Jahr 2014 normiert (Art. 1 Nr. 13 Gesetz zur strukturellen Weiterentwicklung der Pflegeversicherung, BGBl. I 2008, 874).

 

  • Die letzte Anpassung der Leistungen der sozialen (und privaten) Pflegeversicherung hatte der Gesetzgeber mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz mit Wirkung zum 1.1.17 umgesetzt (Art. 2 Nr. 17, Nr. 18, Nr. 20, Nr. 22 und Nr. 24 Zweites Gesetz zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften, BGBl. I 2015, 2424).

 

  • Mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung hat der Gesetzgeber nunmehr finanzielle Leistungsverbesserungen für die Pflegesach- und die Leistungen der Kurzzeitpflege normiert.

 

PRAXISTIPP | Die im Arbeitsentwurf des Bundesministeriums für Gesundheit für ein Pflegereformgesetz (Bundesministerium für Gesundheit, Entwurf eines Gesetzes zur Reform der Pflegeversicherung (Pflegereformgesetz) 11.20; aerzteblatt.de, BMG legt Eckpunkte zur Reform der Pflegeversicherung vor, 10.11.20) in Aussicht gestellten Erhöhungen von Pflegegeld und Leistungen der teil- und vollstationären Pflege wurden mit dem Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetz nicht umgesetzt. Der Sozialverband VdK kündigte aufgrund der unterbliebenen Erhöhung des Pflegegelds für Versicherte, die von Laienpflegern betreut werden, bereits eine verfassungsrechtliche Klage an (Sozialverband VdK Deutschland, VdK-Studie: Im Lockdown litten zwei Drittel der zu Hause Gepflegten unter Angst und Isolation, Pressemitteilung, 23.8.21).

 

 

a) Erhöhung für kinderlose Versicherte

Für die Finanzierung der verbesserten Leistungen der sozialen Pflegeversicherung hat der Gesetzgeber eine Erhöhung des Beitragszuschlags für kinderlose Versicherte ab dem vollendeten 23. Lebensjahr von bislang 0,25 Prozent auf 0,35 Prozent (§ 55 Abs. 3 S. 1 SGB XI n. F.) ab dem 1.1.22 normiert sowie einen jährlichen Zuschuss von 1 Mrd. EUR aus dem Bundeshaushalt vorgesehen (§ 61a SGB XI n. F.).

 

b) Ausblick zum Leistungszuschuss

Die Nachhaltigkeit einer Finanzierung der verbesserten Leistungen der sozialen Pflegeversicherung aus den vorgenannten Finanzquellen muss indes bezweifelt werden. Im Jahr 2020 wurden im Jahresdurchschnitt 720.853 Versicherte der sozialen Pflegeversicherung (Pflegegrade 2 bis 5) in Pflegeheimen und weitere 131.674 Versicherte (Pflegegrade 2 bis 5) in Behindertenheimen vollstationär pflegerisch versorgt. Diesen Zahlen sind weitere Leistungsempfänger (Pflegegrade 2 bis 5) der privaten Pflegepflichtversicherung hinzuzurechnen.

 

Unterstellt man fiktiv, dass 500.000 Versicherte in vollstationärer Pflege einen Anspruch auf einen Leistungszuschlag von 25 Prozent haben, so könnten mit dem Zuschuss aus dem Bundeshaushalt unter Berücksichtigung eines einrichtungseinheitlichen Eigenanteils von 693 EUR/Monat (Bundesdurchschnitt 2019; Kochskämper, Institut der Deutschen Wirtschaft, IW-Report 41/19, Pflegeheimkosten und Eigenanteile ‒ Wird Pflege immer teurer?, 25.11.19) nicht einmal die Zuschussleistungen an diesen Personenkreis finanziert werden (Schrehardt, Refom der sozialen Pflegeversicherung mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung, DStR 2021, 42, 2470).

Quelle: Ausgabe 02 / 2022 | Seite 34 | ID 47949922