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Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde gegen Einstellung von Ermittlungsverfahren zu einer rechtswidrigen Fixierung
| Das BVerfG (15.1.20, 2 BvR 1763/16) hat der Verfassungsbeschwerde einer Patientin gegen die Einstellung der Ermittlungsverfahren gegen insgesamt drei Beschuldigte, die an ihrer Zwangsfixierung, -behandlung sowie vorläufigen Unterbringung beteiligt waren, stattgegeben. Die Beschwerdeführerin war nach einem Unfall im Krankenhaus fixiert worden, nachdem sie einen weiteren Verbleib entgegen ärztlichem Rat zur weiteren Beobachtung sowie zum Ausschluss schwerwiegender gesundheitlicher Schädigungen abgelehnt hatte. In der Folge stellten die Fachgerichte die Rechtswidrigkeit der Fixierung fest. Zur Begründung hat die Kammer angeführt, dass in den angegriffenen Entscheidungen Bedeutung und Tragweite des Rechts auf effektive Strafverfolgung verkannt werden, weil der Sachverhalt ‒ insbesondere die Tatfolgen ‒ nicht hinreichend aufgeklärt worden ist. |
Sachverhalt
Die Beschwerdeführerin stürzte am Abend des 6. Juli 2012 vom Pferd und wurde wegen auftretender Gedächtnislücken und Schmerzen in das Universitätsklinikum Kiel verbracht. Dort wurden ein Schädel-Hirn-Trauma sowie diverse Prellungen diagnostiziert; zudem wurde die Beschwerdeführerin mehrfach auf Hirnverletzungen untersucht. Als ihr am Folgetag eine Entlassung verwehrt wurde, verließ sie entgegen ärztlichem Rat das Klinikgebäude. Vom Stationspersonal herbeigerufene Polizeibeamte konnten sie jedoch überreden, zur Klärung der Angelegenheit auf die Station zurückzukehren. Nachdem die Beschwerdeführerin eine Fesselung energisch abgelehnt hatte, wurde sie vom beschuldigten Stationsarzt, einem Pfleger und den Polizeibeamten unter Anwendung körperlicher Gewalt auf das Bett gelegt und an den Armen, den Beinen sowie im Hüftbereich fixiert.
Der ebenfalls beschuldigte Amtsarzt, ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, erstellte kurz darauf ein ärztliches Gutachten, in dem er aufgrund von Angaben des diensthabenden Arztes verschiedene Verletzungen, unter anderem eine Scherverletzung im Stammganglienbereich, sowie ein Durchgangssyndrom mit Erregungszuständen diagnostizierte. Er ordnete daraufhin die vorläufige Unterbringung, längstens bis zum 8. Juli 2012, 24:00 Uhr, auf der Intensivstation an. Mit Beschluss vom 7. Juli 2012 ordnete die ebenfalls beschuldigte Richterin am Amtsgericht die Unterbringung im geschlossenen Bereich eines Krankenhauses bis zum Ablauf des 8. Juli 2012 an. Es bestehe eine erhebliche Eigengefährdung gemäß § 7 PsychKG.
Das Landgericht Kiel entschied auf die Beschwerde der Beschwerdeführerin hin, dass sie durch den Beschluss vom 7. Juli 2012 in ihren Rechten verletzt worden sei. Das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht stellte darüber hinaus fest, dass die Anordnung der vorläufigen Unterbringung durch den Amtsarzt rechtswidrig gewesen sei. Der Anordnung habe kein Gutachten zugrunde gelegen, das die Notwendigkeit der Unterbringung in gerichtlich nachvollziehbarer Weise begründet habe.
Die Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Kiel stellte das Ermittlungsverfahren hinsichtlich des Amtsarztes sowie der Richterin gemäß § 170 Abs. 2 StPO und hinsichtlich des Stationsarztes sowie des Pflegers gemäß § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO ein. Die hiergegen erhobenen Rechtsmittel blieben jeweils erfolglos.
Wesentliche Erwägungen der Kammer
- I. Die Verfassungsbeschwerde ist hinsichtlich der Verfahrenseinstellung zugunsten des Amtsarztes, des Stationsarztes sowie des Pflegers begründet. Die angegriffenen Entscheidungen verletzen die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf effektive Strafverfolgung aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG.
- 1. Zwar ergibt sich aus dem Grundgesetz ein Recht auf effektive Strafverfolgung Dritter nur in besonders gelagerten Ausnahmefällen. Bei erheblichen Straftaten gegen das Leben, die körperliche Unversehrtheit und die Freiheit der Person kann ein solches aber in Betracht kommen, insbesondere, wenn der Vorwurf im Raum steht, dass Amtsträger bei Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben Straftaten begangen haben und in Konstellationen, in denen sich die Opfer möglicher Straftaten in einem „besonderen Gewaltverhältnis“ zum Staat befinden und diesem eine spezifische Fürsorge- und Obhutspflicht obliegt. Vor diesem Hintergrund ist jedenfalls die Fixierung der Beschwerdeführerin geeignet, einen Anspruch auf effektive Strafverfolgung zu begründen. Mit einer ‒ nicht lediglich kurzfristigen ‒ Fixierung wird in das Freiheitsgrundrecht (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG) eingegriffen. Ob ein Eingriff in die persönliche (körperliche) Freiheit vorliegt, hängt dabei allein vom tatsächlichen, natürlichen Willen des Betroffenen ab. Dessen fehlende Einsichtsfähigkeit lässt den Schutz des Art. 2 Abs. 2 GG nicht entfallen; die Freiheit ist auch dem psychisch Kranken und nicht voll Geschäftsfähigen garantiert. Jedenfalls eine 5-Punkt- oder 7-Punkt-Fixierung stellen eine Freiheitsentziehung im Sinne von Art. 104 Abs. 2 GG dar, soweit es sich nicht lediglich um eine kurzfristige Maßnahme handelt, die absehbar die Dauer von ungefähr einer halben Stunde unterschreitet. In einem solchen Fall kann der Verzicht auf eine effektive Strafverfolgung zu einer Erschütterung des Vertrauens in das Gewaltmonopol des Staates führen. Dies gilt insbesondere auch, wenn Straftaten von Amtsträgern bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben im Raum stehen.
- 2. Dem Anspruch auf effektive Strafverfolgung werden die Verfahrenseinstellungen nicht gerecht.
- a) Hinsichtlich des Stationsarztes und des Pflegers lagen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 153 Abs. 1 Satz 2 StPO, im Lichte von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG interpretiert, bei der Einstellungsentscheidung nicht vor.
- aa) Es hätte vielmehr einer weiteren Aufklärung des Sachverhalts bedurft. Dabei hat das Oberlandesgericht auch bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals des öffentlichen Verfolgungsinteresses die Konstellationen, in denen ein Recht auf effektive Strafverfolgung anerkannt werden muss, offenkundig nicht im Blick gehabt und insoweit Bedeutung und Tragweite von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit Art. 104 GG verkannt.
- Darüber hinaus wird dem Tatbestandsmerkmal der lediglich geringen Tatfolgen in keiner der angegriffenen Entscheidungen auch nur ansatzweise Bedeutung beigemessen. Trotz entsprechender Möglichkeiten sind keine weiteren Ermittlungen zu den bei der Beschwerdeführerin durch die Tat verursachten Folgen angestellt worden. Bei Personenschäden bedarf es insoweit aber gerade unter dem Blickwinkel von Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG der Bestimmung des Ausmaßes im konkreten Fall.
- bb) Der angegriffene Beschluss des Oberlandesgerichts verletzt die Beschwerdeführerin in ihrem Recht auf effektive Strafverfolgung ferner, soweit er den Klageerzwingungsantrag als unzulässig verwirft. Das Oberlandesgericht hat zwar zutreffend zugrunde gelegt, dass die Unzulässigkeit des Klageerzwingungsverfahrens (§ 172 Abs. 2 Satz 3 StPO) einer gerichtlichen Prüfung dann nicht entgegenstehe, wenn der Anwendungsbereich der angewandten Einstellungsnorm überhaupt nicht gegeben ist. Wenn ‒ wie vorliegend ‒ geltend gemacht wird, dass es an den allgemeinen gesetzlichen Voraussetzungen der betreffenden Befugnisnorm fehle, ist ein Klageerzwingungsverfahren jedoch durchaus statthaft.
- Der Beschluss des Oberlandesgerichts verkennt den ihm von Verfassungs wegen obliegenden Kontrollauftrag und den damit verbundenen Prüfungsumfang. Es hält sich allein zur Prüfung der prozessualen Voraussetzungen für eine Verfahrenseinstellung berechtigt, die (lediglich) dann nicht vorlägen, wenn das Verfahren ein Verbrechen oder ein Vergehen mit einer im Mindestmaß erhöhten Strafdrohung zum Gegenstand hätte. Ob ein öffentliches Verfolgungsinteresse fehlt oder ob die durch die Tat verursachten Folgen gering sind, sieht es seiner Entscheidungsgewalt dagegen - zu Unrecht - entzogen.
- b) Die Einstellung des Ermittlungsverfahrens gegen den Amtsarzt genügt den Anforderungen des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Satz 2 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG ebenfalls nicht. Sie erfolgte ohne zureichende Ermittlungen in Bezug auf etwaige fahrlässig begangene Straftaten und deren Folgen. Hier hätte es von Verfassungs wegen in Bezug auf die von der Beschwerdeführerin behauptete (Mit-)Verursachung der posttraumatischen Belastungsstörung der Hinzuziehung sachverständigen Rates bedurft.
- II. Soweit die Einstellung des Ermittlungsverfahrens die Richterin am Amtsgericht betrifft, ist die Verfassungsbeschwerde dagegen offensichtlich unbegründet. Die Einstellung ist aus verfassungsrechtlicher Sicht nicht zu beanstanden. Richter können wegen Straftaten, die in einem inneren Zusammenhang mit der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache stehen, nur belangt werden, wenn sie sich zugleich wegen Rechtsbeugung strafbar gemacht haben. Anhaltspunkte für eine begangene Rechtsbeugung sind nicht substanziiert vorgetragen worden.