22.06.2004 · IWW-Abrufnummer 041616
Bundesgerichtshof: Urteil vom 21.04.2004 – XII ZR 251/01
Der Übergang des Unterhaltsanspruchs eines Elternteils auf den Träger der Sozialhilfe kann wegen unbilliger Härte ausgeschlossen sein, wenn der Elternteil wegen einer auf seine Kriegserlebnisse zurückzuführenden psychischen Erkrankung nicht in der Lage war, für das auf Elternunterhalt in Anspruch genommene Kind zu sorgen (im Anschluß an Senatsurteil vom 23. Juli 2003 - XII ZR 339/00 - FamRZ 2003, 1468).
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
XII ZR 251/01
Verkündet am:
21. April 2004
in der Familiensache
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 21. April 2004 durch die Vorsitzende Richterin Dr. Hahne und die Richter Sprick, Weber-Monecke, Prof. Dr. Wagenitz und Dose
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Revision gegen das Urteil des 1. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main vom 30. August 2001 wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Der Kläger macht als Träger der Sozialhilfe aus übergegangenem Recht Ansprüche auf Elternunterhalt geltend.
Die am 13. Februar 1939 geborene Beklagte ist das einzige noch lebende Kind aus der seit dem 7. Dezember 1971 geschiedenen Ehe ihrer Eltern. Ihre Mutter ist verstorben. Die Beklagte ist verheiratet und lebt mit ihrem Ehemann im Güterstand der Gütergemeinschaft. Sie ist Rentnerin und verfügte in dem Zeitraum ab Mai 2000 über Einkünfte aus zwei Renten, die sich nach Abzug der Kosten für Kranken- und Pflegeversicherung auf monatlich insgesamt 2.482,09 DM beliefen. Außerdem erzielte sie Zinseinkünfte von monatlich 11,30 DM. Die Beklagte bewohnt zusammen mit ihrem Ehemann eine Wohnung in dem der gemeinsamen Tochter gehörenden Haus, an der den Ehegatten ein dingliches Wohnrecht zusteht. Mit Darlehensvertrag vom 8. Mai 2000 hat die Beklagte ein Darlehen über 30.000 DM aufgenommen, das sie in Raten von monatlich 530 DM zurückzahlt. Das Darlehen diente teilweise der Ablösung anderer Verbindlichkeiten. Der Ehemann der Beklagten hatte ab Mai 2000 Renteneinkünfte in Höhe von 2.158,96 DM sowie Zinseink ünfte von 11,30 DM - jeweils monatlich -.
Der Vater der Beklagten diente als Soldat der Deutschen Wehrmacht im zweiten Weltkrieg. Er kam nach mehreren Lazarettaufenthalten psychisch erkrankt aus dem Krieg zurück und befand sich seit August 1949 ununterbrochen in einer psychiatrischen Klinik. Seit 1998 lebt er in einem Alten- und Pflegeheim. Bis Mai 2000 war ein Sparguthaben des Vaters abgesehen von einem Betrag von 4.500 DM aufgebraucht. Seitdem erbringt der Kläger für den Vater Sozialhilfeleistungen in Höhe der nicht durch dessen eigene Einkünfte und die Leistungen der Pflegeversicherung gedeckten Heimkosten. In den Monaten Mai bis August 2000 hat er monatlich Beträge zwischen 1.368,22 DM und 1.838 DM gezahlt.
Mit Rechtswahrungsanzeige vom 10. Mai 2000, der Beklagten zugestellt am 12. Mai 2000, teilte der Kläger dieser die Gewährung von Sozialhilfeleistungen für ihren Vater mit und forderte sie zur Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse auf. Mit seiner Klage machte der Kläger übergegangene Unterhaltsansprüche des Vaters für die Zeit von Mai bis einschließlich August 2000 in Höhe von monatlich 1.031 DM, insgesamt von 4.124 DM zuzüglich Zinsen, geltend.
Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung des Klägers, mit der er sein Klagebegehren weiterverfolgt hat, blieb erfolglos. Dagegen richtet sich dessen - zugelassene - Revision.
Entscheidungsgründe:
Das Rechtsmittel ist nicht begründet.
1. Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung in OLGR-Frankfurt 2002, 25 ff. veröffentlicht ist, hat angenommen, daß ein nach § 1601 BGB bestehender Unterhaltsanspruch des Vaters gegen die Beklagte nach § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG nicht auf den Kläger übergegangen sei, weil dies eine unbillige Härte bedeuten würde. Zur Begründung hat es ausgeführt: Eine Härte im Sinne der vorgenannten Vorschrift liege vor, wenn durch die Heranziehung des Unterhaltspflichtigen soziale Belange vernachlässigt werden müßten. Auch wenn der vorliegende Fall sich nicht einer der hierzu in der Rechtsprechung erörterten Fallgruppe zuordnen lasse, sei er dadurch gekennzeichnet, daß bei einer Heranziehung der Beklagten soziale Belange in ähnlicher Weise beeinträchtigt würden. Das folge daraus, daß ihr bereits ein besonderes Opfer dadurch auferlegt worden sei, daß sie aufgrund der Kriegsfolgen, von denen ihr Vater betroffen gewesen sei, während eines erheblichen Zeitraums ihrer Kindheit emotionale und materielle Zuwendung seitens des Vaters habe entbehren müssen. Es sei zwar für die Generation der Beklagten nichts Ungewöhnliches, daß sie den Vater über Jahre hinweg wegen dessen Teilnahme am zweiten Weltkrieg habe entbehren müssen. Die Situation der Beklagten sei aber zusätzlich dadurch gekennzeichnet, daß ihr Vater psychisch gestört aus dem Krieg zurückgekommen sei, die Familie nicht habe versorgen und der Beklagten die Zuwendung habe zukommen lassen können, die ein Kind unter gewöhnlichen Umständen von seinem Vater erfahre. Mit Rücksicht hierauf sei es sozial ungerechtfertigt, wenn die Beklagte heute von der öffentlichen Hand für den Unterhalt ihres Vaters in Anspruch genommen werde, nachdem der damalige Unrechtsstaat ihr die Zuwendung und Versorgung durch den Vater in wesentlichen Teilen genommen habe. Daran, daß die Kriegserlebnisse des Vaters für dessen psychische Erkrankung ursächlich gewesen seien, bestehe aufgrund des zeitlichen Ablaufs nach der Lebenserfahrung kein Zweifel.
Diese Beurteilung begegnet keinen rechtlichen Bedenken.
2. a) Nach § 91 Abs. 2 Satz 2 Halbs. 1 BSHG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung des Föderalen Konsolidierungsprogramms vom 23. Juni 1993 (FKBG, BGBl. I S. 944) bzw. nach § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG in der seit dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung ist der Übergang des Unterhaltsanspruchs gegen einen nach bürgerlichem Recht Unterhaltspflichtigen ausgeschlossen, wenn dies eine unbillige Härte bedeuten würde. Das genannte Beurteilungskriterium stellt einen unbestimmten Rechtsbegriff dar, dessen Anwendung der vollen Nachprüfung durch das Revisionsgericht unterliegt (Senatsurteil vom 23. Juli 2003 - XII ZR 339/00 - FamRZ 2003, 1468, 1470 m.w.N.).
Was unter dem Begriff der unbilligen Härte zu verstehen ist, unterliegt den sich wandelnden Anschauungen in der Gesellschaft. Was in früheren Zeiten im Rahmen eines Familienverbandes als selbstverständlicher Einsatz der Mitglieder der Familie ohne weiteres verlangt wurde, wird heute vielfach als Härte empfunden. Dabei kann diese Härte in materieller oder immaterieller Hinsicht bestehen und entweder in der Person des Unterhaltspflichtigen oder in derjenigen des Hilfeempfängers vorliegen. Bei der Auslegung der Härteklausel ist in erster Linie die Zielsetzung der Hilfe zu berücksichtigen, daneben sind auch die allgemeinen Grundsätze der Sozialhilfe zu beachten. Darüber hinaus ist auf die Belange und die Beziehungen in der Familie Rücksicht zu nehmen. Neben den wirtschaftlichen und persönlichen Verh ältnissen der Beteiligten zueinander kommt es auf die soziale Lage an. Eine Härte liegt deshalb vor, wenn mit dem Anspruchsübergang soziale Belange vernachlässigt würden (Senatsurteil aaO S. 1470).
Nach der in Rechtsprechung und Schrifttum vertretenen Auffassung sowie den vom Deutschen Verein für öffentliche und private Fürsorge herausgegebenen Empfehlungen für die Heranziehung Unterhaltspflichtiger in der Sozialhilfe kann eine unbillige Härte, die sozialhilferechtlich zum Ausschluß des Anspruchsübergangs führt, insbesondere angenommen werden, wenn und soweit der Grundsatz der familiengerechten Hilfe (§ 7 BSHG) ein Absehen von der Heranziehung geboten erscheinen läßt, die laufende Heranziehung in Anbetracht der sozialen und wirtschaftlichen Lage des Unterhaltspflichtigen mit Rücksicht auf die Höhe und Dauer des Bedarfs zu einer nachhaltigen und unzumutbaren Beeinträchtigung des Unterhaltspflichtigen und der übrigen Familienmitglieder führen würde, die Zielsetzung der Hilfe im Frauenhaus in der Gewährung von Schutz und Zuflucht vor dem gewalttätigen Ehemann besteht und diese durch die Mitteilung der Hilfe an den Unterhaltspflichtigen gefährdet erscheint oder der Unterhaltspflichtige vor Eintreten der Sozialhilfe über das Maß seiner zumutbaren Unterhaltsverpflichtung hinaus den Hilfeempfänger betreut und gepflegt hat (vgl. BVerwGE 58, 209, 216; Schellhorn BSHG 16. Aufl. § 91 Rdn. 87 f.; derselbe in FuR 1993, 261, 266; Schaefer/Wolf in Fichtner BSHG 2. Aufl. § 91 Rdn. 41 f.; Mergler/Zink BSHG 4. Aufl. § 91 Rdn. 77; Münder in LPK-BSHG 16. Aufl. § 91 Rdn. 42). Der vorliegende Fall läßt sich, wie das Berufungsgericht zu Recht angenommen hat, in keine dieser Fallgruppen einordnen. Daraus folgt indessen nicht, daß keine unbillige Härte vorliegt. Denn eine solche ist auch in anderen Fallgestaltungen denkbar. Entscheidend ist insoweit, ob im Rahmen der umfassenden Prüfung der Gesamtsituation des Falles aus der Sicht des Sozialhilferechts durch den Anspruchsübergang soziale Belange berührt werden (BVerwG aaO S. 215 f.). Das ist hier der Fall.
b) Zwar sind die Unterhaltsansprüche des Vaters der Beklagten dieser gegenüber nicht nach § 1611 Abs. 1 BGB verwirkt. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, sind die Voraussetzungen, unter denen nach der vorgenannten Bestimmung ein Unterhaltsanspruch nur in eingeschränktem Umfang besteht oder eine Unterhaltsverpflichtung ganz entfällt, nicht erfüllt. Umstände, die bereits nach bürgerlichem Recht ganz oder teilweise der Geltendmachung eines Unterhaltsanspruchs entgegenstehen, kommen indessen ohnehin nicht als - den Anspruchsübergang auf den Träger der Sozialhilfe ausschließende - Härtegründe im Sinne des § 91 Abs. 2 Satz 2 1. Halbs. BSHG in der Fassung vom 23. Juni 1993 bzw. § 91 Abs. 2 Satz 2 BSHG in der seit dem 1. Januar 2002 geltenden Fassung in Betracht. Denn soweit ein Unterhaltsanspruch nicht besteht, kann er auch nicht auf den Träger der Sozialhilfe übergehen.
Der vorliegende Fall ist nach den von Berufungsgericht getroffenen Feststellungen dadurch gekennzeichnet, daß die Beklagte nicht nur während der Kriegsteilnahme ihres Vaters dessen emotionale und materielle Zuwendung entbehren mußte, sondern daß sie auch in der Folgezeit nicht die unter normalen Umständen zu erwartende väterliche Zuwendung erfahren hat, weil ihr Vater psychisch gestört aus dem Krieg zurückkehrte und der Familie keine Fürsorge zuteil werden lassen konnte. Er war von 1949 an fast 50 Jahre in einer psychiatrischen Klinik untergebracht und lebt seit 1998 in einem Alten- und Pflegeheim. Aufgrund dieser Umstände war die Beklagte bereits in den Jahren ihrer Kindheit in starkem Maße belastet. Im weiteren Verlauf, insbesondere nach der 1971 erfolgten Scheidung der Ehe der Eltern, haben zwischen der Beklagten und dem Vater offensichtlich keine Beziehungen mehr bestanden, so daß die Familienbande zumindest stark gelockert waren, falls insoweit nicht sogar eine völlige Entfremdung eingetreten ist. Wenn die Beklagte gleichwohl von dem Träger der Sozialhilfe auf Unterhalt für ihren Vater in Anspruch genommen werden könnte, würden dadurch soziale Belange vernachlässigt. Angesichts der Einbußen, die die Beklagte aufgrund der Kriegsfolgen, von denen ihr Vater betroffen war, zu tragen hatte und der weiteren Entwicklung der Beziehungen zu diesem kann von ihr nicht erwartet werden, im Hinblick auf dessen Unterhaltsanspruch von der öffentlichen Hand in die Pflicht genommen zu werden. Deshalb würde der Übergang des Unterhaltsanspruchs auf den Träger der Sozialhilfe eine unbillige Härte bedeuten (ebenso Schaefer/Wolf aaO § 91 Rdn. 42; vgl. auch Münder aaO § 91 Rdn. 41; BVerwG NDV 1973, 139, 140 für den Fall der Inanspruchnahme eines Großvaters f ür den Unterhalt eines Enkelkindes, zu dessen Mutter dieser jahrelang keine Verbindung mehr hatte).
c) Die Revision hält diesem Ergebnis entgegen, die Feststellung des Berufungsgerichts, die Kriegserlebnisse des Vaters seien für dessen psychische Erkrankung ursächlich gewesen, sei verfahrensfehlerhaft. Der Kläger habe nur zugestanden, daß der Vater der Beklagten krankheitsbedingt und damit unverschuldet nicht in der Lage gewesen sei, kontinuierlich zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Er habe nicht zugestanden, daß die psychische Erkrankung des Vaters durch den Krieg verursacht worden sei.
Damit vermag die Revision nicht durchzudringen. Der Kläger hat die von der Beklagten geltend gemachte Beeinträchtigung ihres Vaters durch die Kriegsgeschehnisse nicht in Abrede gestellt, sondern allein darauf abgehoben, daß der Vater unverschuldet in die Lage geraten sei, für seine Familie nicht sorgen zu können. Deshalb durfte das Berufungsgericht, auch unter Berücksichtigung der Lebenserfahrung, davon ausgehen, daß die psychische Erkrankung des Vaters auf dessen Kriegserlebnisse zurückzuführen war.
d) Bei der gegebenen Sachlage begegnet es auch keinen rechtlichen Bedenken, daß das Berufungsgericht eine unbillige Härte in vollem Umfang der Inanspruchnahme angenommen hat. Nach den getroffenen Feststellungen lebt die Beklagte nicht in wirtschaftlichen Verhältnissen, bei denen sie durch Unterhaltsleistungen für den Vater nicht in spürbarer Weise in ihrer Lebensführung beeinträchtigt würde.