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05.12.2013 · IWW-Abrufnummer 133815

Landessozialgericht Sachsen-Anhalt: Beschluss vom 16.10.2013 – L 4 KR 44/13 B ER

1. Bei der Versorgung mit einem Elektroantrieb für einen Rollstuhl kann wegen der großen Bedeutung der Mobilität im Nahbereich die Prüfung erforderlich sein, ob eine Versicherte generell fahruntüchtig für den Gebrauch eines Elektrorollstuhls ist, oder ob sie ggf noch im häuslichen Umfeld in der Lage ist, den Elektroantrieb selbstständig und ohne Gefährdung für sich oder andere zu bedienen.



2. Auch bei Fahruntüchtigkeit im Straßenverkehr kann es ausnahmsweise einen vorläufigen Anspruch auf Versorgung mit einem Elektrorollstuhl zum Gebrauch in der häuslichen Umgebung gegen, wenn durch ein abnehmbares Funkbedienteil die Nutzung im Außenbereich ausgeschlossen werden kann.


Tenor:

Der Beschluss des Sozialgericht Dessau-Roßlau vom 21. Juni 2013 wird aufgehoben und die Antragsgegnerin verpflichtet, die Antragstellerin für den von ihr genutzten Aktivrollstuhl mit einem funkbetriebenen E-Fix-Antrieb samt Zubehör entsprechend des Angebotes der Handelsvertretung R. vom 12. März 2013 zu versorgen.

Die Verpflichtung gilt vorläufig bis zum Abschluss des vor dem Sozialgericht Dessau-Roßlau anhängigen Verfahrens der Beteiligten mit dem Aktenzeichen S 20 KR 99/13.

Die Antragsgegnerin hat der Antragstellerin die notwendigen außergerichtlichen Kosten in beiden Rechtszügen zu gewähren.
Gründe

I.

Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (im Folgenden: Antragstellerin) verlangt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes einen elektrischen Zusatzantrieb maxe für ihren Faltrollstuhl von der Antragsgegnerin und Beschwerdegegnerin (im Folgenden: Antragsgegnerin).

Die am ... 1951 geborene Antragstellerin erhält nach einem Schlaganfall mit Multiinfarkt-Demenz Leistungen der Pflegekasse nach der Pflegestufe I und seit Oktober 2012 nach der Pflegestufe II. Das Landesverwaltungsamt Halle stellte bei ihr seit dem 2. November 2011 einen Grad der Behinderung (GdB) von 70 sowie das Merkzeichen G (Erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr) und ab dem 2. November 2012 einen GdB von 80 und die Merkzeichen "H" (Hilflos) und "aG" (außergewöhnliche Gehbehinderung) fest. Als Hilfsmittel erhielt sie von der Antragsgegnerin einen Faltrollstuhl und einen Rollator. Am 16. Mai 2012 verordnete die Fachärztin für Allgemeinmedizin Dipl.-Med. B. der Antragstellerin einen sog. Elektro-Antrieb für den Rollstuhl. Der Gutachter des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (MDK) Dr. M. äußerte wegen der Diagnose Bedenken, ob die Antragstellerin die für einen solchen Antrieb erforderliche Fahrtauglichkeit habe. Daraufhin holte die Antragsgegnerin einen Befundbericht von Dipl.-Med. W. vom 13. Juni 2012 ein. Hiernach bestehe bei der Antragstellerin eine Multiinfarkt-Demenz, eine schlaganfallbedingte Kraftminderung, ein Diabetes mellitus, eine Hypertonie sowie eine chronische Niereninsuffizienz. Neben einer Kraftminderung der rechten Hand sowie einer gestörten Feinmotorik sei auch der Gang unsicher. In der Wohnung laufe die Antragstellerin mit Rollator und außerhalb müsse sie mit dem Rollstuhl gefahren werden. Sie könne nur unsicher und wenige Meter laufen. Der Elektroantrieb für den Rollstuhl sei nach den Angaben des Ehemanns der Antragstellerin erforderlich. Unter dem 20. Juni 2012 hielt der MDK-Gutachter R. einen Elektro-Antrieb für nicht erforderlich, da es hierfür an der notwendigen Fahrtauglichkeit der Antragstellerin fehle.

Mit Bescheid vom 21. Juni 2012 lehnte die Antragsgegnerin die Versorgung mit einem Elektroantrieb ab. Hiergegen richtete sich der Widerspruch der Antragstellerin vom 4. Juli 2012, mit dem sie geltend machte: Der Ermittlungen der Antragsgegnerin seien unzureichend. Die angebliche Fahruntauglichkeit sei nicht geprüft worden. Sie habe nicht die Kraft, den Faltrollstuhl selbstständig zu bewegen. Vielmehr sei sie ohne ihren Ehemann völlig bewegungsunfähig. Sie könne den Faltrollstuhl nicht einmal im Zimmer drehen. Der zusätzliche Elektroantrieb würde sie daher in ihrer Lebensführung unabhängiger machen. Auf die Nutzung des Rollators dürfte sie nicht verwiesen werden, da sie durch die unvorhersehbaren Kraftminderungen erheblich sturzgefährdet sei. Ein Verlassen des Grundstücks ohne Hilfe sei der Antragstellerin unmöglich, da an der Haustür Treppen zu überwinden seien. Von daher bestehe außerhalb der Räumlichkeiten durch das beantragte Hilfsmittel auch keine Selbstgefährdung. Auf Nachfrage der Antragsgegnerin erklärte Dipl.-Med. W. am 31. August 2012, der Elektroantrieb solle vom Ehemann bedient werden, da es ihm zunehmend schwerer falle, den Rollstuhl über längere Strecken zu schieben. Aufgrund der Erkrankungen der Antragstellerin sei deren Fahrtauglichkeit aufgehoben.

In einer von der Antragsgegnerin eingeholten Stellungnahme gab die MDK-Gutachterin Dr. R. an, die Versicherte sei 163 cm groß und wiege 65 kg. Von daher sei nicht nachvollziehbar, warum dem Ehemann das Schieben im näheren Umfeld nicht möglich sein solle. Es sei zur weiteren Aufklärung des Sachverhalts eine weitere Stellungnahme der Hausärztin einzuholen. Dipl.-Med. B. gab am 15. Oktober 2012 an: Die Antragstellerin leide an einer deutlichen Kraftminderung in beiden Armen und beiden Beinen. Ein kurzzeitiges Aufstehen aus dem Rollstuhl sei nur mit Hilfe möglich. Der Elektroantrieb solle ihr im Innenbereich die Fortbewegung erleichtern helfen. Die Antragstellerin habe jedoch keine Fahrtauglichkeit im Sinne der Anforderungen der Teilnahme am Straßenverkehr.

Nach einer erneut von der Antragsgegnerin eingeholten MDK-Stellungnahme wies die MDK-Gutachterin D. am 9. Juli 2012 auf die von der Hausärztin bestätigte Fahruntauglichkeit hin. Die Antragsgegnerin beauftragte daraufhin den MDK mit einer sozialmedizinischen Fallberatung. MDK-Gutachterin Dr. R. führte unter dem 13. Juli 2012 aus, es seien weitere Ermittlungen vorzunehmen. Insbesondere sei zu klären, wer den E-Antrieb bedienen solle und warum die Antragstellerin nicht geschoben werden könne.

Den Wunsch der Antragsgegnerin die Fahrtüchtigkeit, durch den TÜV Nord überprüfen lassen zu wollen, lehnte die Antragstellerin ab und führte zur Begründung aus: Für die TÜV-Begutachtung bestehe keine Rechtsgrundlage. Für sie sei allein das Führen eines Elektrorollstuhls im häuslichen Innenbereich bedeutsam, so dass es auf die Besonderheiten des Straßenverkehrs und der Straßenverkehrsordnung überhaupt nicht ankomme. Im Bereich außerhalb der Wohnung sei sie ohnehin auf eine Hilfsperson angewiesen, welche über die notwendige Fahrtauglichkeit verfüge.

Daraufhin nahm die Antragsgegnerin von der geplanten Begutachtung durch den TÜV Abstand und erklärte sich mit einem Test mit einem Elektro-Antrieb im Haus der Antragstellerin einverstanden. Diese Vorführung fand am 12. März 2013 unter Beteiligung der Zeugen D. (Ehemann der Antragstellerin) sowie O. (Sanitätshaus M. GmbH & Co. KG) und R. (Handelsvertreter des Herstellers) statt. Der Zeuge O. berichtete anschließend, die Antragstellerin habe nach kurzer Einweisung problemlos den Rollstuhl mit Elektro-Betrieb innerhalb der Wohnung fahren können. Selbst ein Fahren auf dem Bürgersteig unter Aufsicht sei in der sehr ruhig gelegenen Wohngegend möglich. Da es sich um eine Funksteuerung handele, könne das Bedienteil problemlos abgenommen werden. Auch der Vertreter des Herstellers habe dieser Bewertung zugestimmt. Nach einer Telefonnotiz vom 22. April 2013 erklärte der Zeuge O. gegenüber der Antragsgegnerin, dass die Antragsstellerin alle Räume habe durchfahren können. Selbst eine besonders schmale Tür im Wohnzimmer sei von ihr problemlos gemeistert worden.

Im Schreiben vom 23. April 2013 hielt die Antragsgegnerin die bereits erfolgte Versorgung mittels Rollator für ausreichend. Lediglich im Außenbereich benötige die Antragstellerin eine Begleitung. Dem widersprach die Antragstellerin und verwies darauf, dass sie den Rollator nur im Notfall benutzen könne. Dabei bestehe eine permanente Sturzgefahr, die die Anwesenheit einer Begleitperson erfordere. Dass die Antragstellerin in einem Fall mit dem Rollator im Außenbereich gewesen sei, bedeute nicht, dass sie sich ständig mit Rollator bewegen könne.

Am 29. Mai 2013 hat der Antragsteller im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beim Sozialgericht Halle (SG) die Versorgung mit einem elektrischen Zusatzantrieb max e beantragt und ergänzend ausgeführt: Sie könne den manuellen Rollstuhl ohne ihren Ehemann wegen der Kraftminderung nicht bewegen. Beispielsweise könne sie mit dem Rollstuhl nicht ihre Blickrichtung verändern, ohne dass ihr dabei der Ehemann behilflich sei. Der gegenwärtige Zustand sei unhaltbar. Es sei widersprüchlich, wenn die Antragsgegnerin eine Vorführung im Wohnhaus der Antragstellerin veranlasse, die eine hinreichende Selbstständigkeit von ihr zum Fahren im Haus bestätigt habe, um sie dann - trotz einer bestehenden Sturzgefahr - auf den Rollator zu verweisen. Sie sei zwar schwer krank, jedoch nicht geistig behindert. Zur Sicherung ihres Grundbedürfnisses an selbstständiger Mobilität sei das Hilfsmittel unverzichtbar.

Die Antragsgegnerin hat demgegenüber geltend gemacht: Die medizinischen Voraussetzungen für die Gewährung eines Elektroantriebes seien nicht gegeben, da der Antragstellerin die notwendige Fahrtüchtigkeit fehle. Sofern der Elektroantrieb lediglich der Erleichterung der Pflegeperson diene, die Antragstellerin für weitere Strecken fortzubewegen, bestehe keine Leistungspflicht nach der Gesetzlichen Krankenversicherung.

Das SG hat mit Beschluss vom 21. Juni 2013 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt und im Wesentlichen ausgeführt: Ein Anordnungsanspruch sei nicht glaubhaft gemacht. Der Antragstellerin fehle die Fähigkeit, einen Elektrorollstuhl sicher zu führen. Die bestehenden Zweifel an der Fahrtauglichkeit der Antragstellerin hätte eine Begutachtung durch den TÜV klären können. Dies habe sie jedoch ohne hinreichenden Grund abgelehnt. Die Probefahrt vom 12. März 2013 sei dagegen nicht geeignet, den Nachweis für die Fahrtauglichkeit zu führen. Auch im Haus bestehe die Gefahr, sich durch unsachgemäße Handhabung des Elektroantriebes zu verletzen.

Die Antragstellerin hat gegen den ihr am 27. Juni 2013 zugestellten Beschluss am 3. Juli 2013 Beschwerde beim SG Halle erhoben und zur Begründung geltend gemacht: Das SG habe versäumt, die an der Probefahrt beteiligten Personen als Zeugen zu vernehmen. Nach den Feststellungen des Sanitätshauses sei die Antragstellerin auf Anhieb in der Lage gewesen, den Rollstuhl mit Elektroantrieb im Wohnbereich selbstständig zu bedienen. Damit seien eventuelle Zweifel an ihrer Fahrtauglichkeit ausgeräumt worden. Die Antragstellerin sei auch nicht dement. Die gegenteiligen Annahmen der MDK-Gutachter, die auf bloßen Mutmaßungen beruhten, seien unzutreffend. Insbesondere die Ergotherapie habe aktuell die Folgen des Schlaganfalls deutlich verbessert.

Die Antragstellerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

den Beschluss des Sozialgericht Dessau-Roßlau vom 21. Juni 2013 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, sie mit einem funkbetriebenen E-Fix-Antrieb samt Zubehör entsprechend des Angebotes der Handelsvertretung R. vom 12. März 2013 zu versorgen.

Die Antragsgegnerin beantragt nach ihrem schriftlichen Vorbringen,

die Beschwerde zurückzuweisen.

Die Antragsgegnerin hält die Fahrtauglichkeit der Antragstellerin nach wie vor für nicht hinreichend belegt.

Der Senat hat Befundberichte von der Fachärztin für Neurologie Dr. K. vom 16. August 2013 und vom Facharzt für Innere Medizin Dr. E. vom 11. September 2013 eingeholt. Dr. K. hat mitgeteilt: Bei der Antragstellerin sei allenfalls noch von einer leichtgradigen dementiellen Erkrankung auszugehen. Nach der letzten Testdiagnostik im Juli 2013 habe sie die Grenze zu einem normalen altersentsprechenden Befund erreicht. Demgegenüber bestünden Persönlichkeitsänderungen sowie eine Affektlabilität und auch Konzentrationseinschränkungen. Das gefahrlose Betreiben eines Rollstuhls mit Elektroantrieb sei ihr nicht möglich. Dies ergebe sich insbesondere aus der Kombination von Schwindel, Gleichgewichtstörung, Fallneigung und Persönlichkeitsveränderung. Dr. E. hat mitgeteilt, er habe die Antragstellerin am 10. September 2013 zu Hause besucht. Nach seiner Einschätzung könne sie einen Rollstuhl mit Elektroantrieb bedienen. Sie sei geistig ausreichend in der Lage, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen. Eine Rollstuhlversorgung mit E-Antrieb würde ihr eine bessere Teilhabemöglichkeit eröffnen.

Der Senat hat in einer nichtöffentlichen Sitzung vom 28. August 2013 die Zeugen D., T. O. und R. vernommen. Auf den Inhalt des Protokolls vom 28. August 2013 wird ausdrücklich Bezug genommen. Nach einem vom Zeugen D. vorgelegten Schwerbehindertenausweis steht ihm wegen eines Hör- und Wirbelsäulenschadens ein GdB von 50 seit dem 2. März 2004 zu.

Das Hauptsacheverfahren der Beteiligten ist mittlerweile beim SG unter dem Aktenzeichen S 20 KR 99/13 anhängig.

Die Gerichtsakte aus dem einstweiligen Rechtschutzverfahren sowie die Verwaltungsakte der Antragsgegnerin haben vorgelegen und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Sachvortrags der Beteiligten wird auf den Inhalt dieser Akten ergänzend Bezug genommen.

II.

Die statthafte Beschwerde der Antragsstellerin ist form- und fristgerecht gemäß §§ 172, 173 Sozialgerichtsgesetz (SGG) eingelegt worden und auch im Übrigen zulässig.

Die Beschwerde ist auch begründet, denn die Antragstellerin kann von der Antragsgegnerin bis zur rechtskräftigen Entscheidung im Hauptsacheverfahren eine vorläufige Versorgung mit dem Elektro-Antrieb für einen Rollstuhl verlangen.

Der Antragstellerin ist unter Berücksichtigung der eingeschränkten Erkenntnismöglichkeiten im Verfahren auf einstweiligen Rechtsschutz nach § 86b Abs. 2 SGG (dazu 1.) und der danach im vorliegenden Fall gebotenen Folgenabwägung (dazu 2.) nach Auffassung des Senats nicht zuzumuten, bis zur abschließenden Entscheidung in der Hauptsache auf die Verwendung der begehrten Mittel zu verzichten.

1. Gemäß § 86b Abs. 2 Satz 1 SGG kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechts der Antragstellerin vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind nach Abs. 2 Satz 2 der Norm auch zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn dies zur Abwendung wesentlicher Nachteile nötig erscheint. Da die Antragstellerin in Bezug auf den Elektro-Antrieb noch keine Rechtsposition innehat, reicht eine Sicherungsanordnung im Sinne von § 86 Abs. 2 Satz 1 SGG nicht aus. Die Antragstellerin begehrt vielmehr die Regelung eines vorläufigen Zustandes und macht geltend, dass ihr ohne die einstweilige Anordnung wesentliche Nachteile drohen. Dies ist nur im Wege einer Regelungsanordnung im Sinne von § 86 Abs. 2 Satz 2 SGG zu erreichen.

Die Regelungsanordnung kann vom Gericht erlassen werden, wenn die Antragstellerin glaubhaft macht (§ 86b Abs. 2 Satz 4 SGG i. V. m. § 920 Zivilprozessordnung [ZPO]), dass ein geltend gemachtes Recht gegenüber der Antragsgegnerin besteht - Anordnungsanspruch - (dazu unter a) und dass sie ohne den Erlass der begehrten Anordnung, insbesondere bei Abwarten einer Entscheidung in der Hauptsache, wesentliche Nachteile im Sinne von § 86b Abs. 2 Satz 2 SGG erleiden würde - Anordnungsgrund - (dazu unter b).

Anordnungsanspruch und Anordnungsgrund stehen nicht beziehungslos nebeneinander, sondern bilden aufgrund ihres funktionalen Zusammenhangs ein bewegliches System: je größer die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind, umso geringer sind die Anforderungen an den Anordnungsgrund und umgekehrt. Bei offenem Ausgang des Hauptsacheverfahrens ist eine umfassende Interessenabwägung erforderlich. Die in tatsächlicher (Glaubhaftmachung) wie in rechtlicher Hinsicht (summarische Prüfung) herabgesetzten Anforderungen für die Annahme eines Anordnungsanspruchs korrespondieren dabei mit dem Gewicht der glaubhaft zu machenden Gefahr für die Rechtsverwirklichung. Drohen im Einzelfall ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären, dürfen sich die Gerichte nur an den Erfolgsaussichten orientieren, wenn die Sach- und Rechtslage abschließend geklärt ist. Ist dem Gericht dagegen eine vollständige Aufklärung der Sach- und Rechtslage im Eilverfahren nicht möglich, so ist anhand einer Folgenabwägung zu entscheiden (dazu unter 2.). Dabei sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend in die Abwägung einzustellen (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, juris). Die Folgen, die entstehen würden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung nicht erließe, sich jedoch im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch besteht, sind abzuwägen mit den Folgen, die entstünden, wenn das Gericht die einstweilige Anordnung erließe, sich aber im Hauptsacheverfahren herausstellt, dass der Anspruch nicht besteht.

Die Erfolgsaussichten der Klage in der Hauptsache sind nach vorläufiger Prognose Einschätzung höher einzuschätzen als die Wahrscheinlichkeit einer Klageabweisung. Die Versorgung mit einem Elektro-Antrieb für einen Rollstuhl findet ihre Rechtsgrundlage in § 33 Abs. 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch Fünftes Buch - Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V). Danach haben Versicherte Anspruch auf Versorgung mit Hörhilfen, Körperersatzstücken, orthopädischen und anderen Hilfsmitteln, wenn sie nicht als allgemeine Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens oder nach § 34 Abs. 4 SGB V aus der GKV-Versorgung ausgeschlossen und im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern, einer drohenden Behinderung vorzubeugen oder eine Behinderung auszugleichen. Dabei besteht ein Anspruch auf Versorgung mit Blick auf die "Erforderlichkeit im Einzelfall" nur, soweit das begehrte Hilfsmittel geeignet, ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich ist und das Maß des Notwendigen nicht überschreitet; darüber hinausgehende Leistungen darf die Krankenkasse gemäß § 12 Abs. 1 SGB V nicht bewilligen (vgl. BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, B 3 KR 13/09, zitiert nach juris).

Diese Anspruchsvoraussetzungen sind im vorliegenden Fall mit überwiegender Wahrscheinlichkeit gegeben.

Der Versorgungsanspruch nach § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB V besteht nicht allein deshalb, weil der begehrte Elektro-Antrieb vertragsärztlich verordnet (§ 73 Abs. 2 Satz 1 Nr. 7 SGb V) worden ist und im Hilfsmittelverzeichnis (§ 139 SGB V) gelistet ist. Die Krankenkassen enscheiden, ob ein Hilfsmittel nach Maßgabe des § 33 SGB V im Einzelfall zur medizinischen Rehabilitation, also zur Sicherung des Erfolges der Krankenbehandlung, zur Vorbeugung gegen eine drohende Behinderung oder zum Ausgleich einer bestehenden Behinderung erforderlich ist.

Neben dem Ausgleich der ausgefallenen oder beeinträchtigten Körperfunktion selbst, wie es z.B. insbesondere bei Prothesen der Fall ist (sog. unmittelbarer Behinderungsausgleich) dient im vorliegenden Fall das beantragte Hilfsmittel dazu, die direkten und indirekten Folgen der Behinderung auszugleichen (sog. mittelbarer Behinderungsausgleich). In diesem Rahmen ist die GKV allerdings nur für den Basisausgleich der Folgen der Behinderung eintrittspflichtig. Es geht hier nicht um einen Ausgleich im Sinne des vollständigen Gleichziehens mit den letztlich unbegrenzten Möglichkeiten eines gesunden Menschen. Ein Hilfsmittel zum mittelbaren Behinderungsausgleich ist von der GKV daher nur zu gewähren, wenn es die Auswirkungen der Behinderung im gesamten täglichen Leben beseitigt oder mildert und damit ein allgemeines Grundbedürfnis des täglichen Lebens betrifft. Nach ständiger Rechtsprechung gehören zu diesen allgemeinen Grundbedürfnissen des täglichen Lebens das Gehen, Stehen, Sitzen, Liegen, Greifen, Sehen, Hören, Nahrungsaufnehmen, Ausscheiden, die elementare Körperpflege, das selbstständige Wohnen sowie das Erschließen eines gewissen körperlichen und geistigen Freiraums. Zum körperlichen Freiraum gehört - im Sinne eines Basisausgleichs der eingeschränkten Bewegungsfreiheit - die Fähigkeit, sich in der eigenen Wohnung zu bewegen und die Wohnung zu verlassen, um bei einem kurzen Spaziergang "an die frische Luft zu kommen" oder um die - üblicherweise im Nahbereich der Wohnung liegenden - Stellen zu erreichen, an denen Alltagsgeschäfte zu erledigen sind (z.B. Supermarkt, Arzt, Apotheke, Geldinstitut, Post), nicht aber die Bewegung außerhalb dieses Nahbereichs (ständige Rechtsprechung, vgl. BSG, Urteil vom 7. Oktober 2010, B 3 KR 13/09 R, juris mit weiteren Nachweisen).

Zwar haben die Versicherten keinen Anspruch auf eine optimale Hilfsmittelversorgung. Kernziel der Hilfsmittelversorgung ist es jedoch, den behinderten Menschen nach Möglichkeit von der Hilfe anderer Menschen unabhängig oder zumindest deutlich weniger abhängig zu machen (LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 2. Februar 2009, L 1 KR 192/08 ER, juris unter Hinweis auf die ständige BSG-Rechtsprechung). Betrachtet man die grundrechtsrelevante Bedeutung einer durch das Hilfsmittel zu erzielenden selbstständigen Lebensführung, ermöglicht allein der beantragte Elektro-Antrieb es der Antragstellerin, selbstständige Richtungsänderungen vorzunehmen. Nach den ärztlich bestätigten Befunden ist die Antragstellerin wegen einer gravierenden Kraftminderung nicht in der Lage, ihren Rollstuhl selbstständig zu bedienen. Sie ist daher ohne die begehrte Leistung fortwährend auf fremde Hilfe angewiesen.

Hierbei kann die Antragstellerin - entgegen der Auffassung der Antragsgegnerin - nicht auf den Rollator verwiesen werden. Nach den vorliegenden medizinischen Befunden und aufgrund des bereits festgestellten Merkzeichens "aG" ist die Antragstellerin hochgradig gehbehindert und zudem erheblich sturzgefährdet. Ohne Hilfsperson wäre die Antragstellerin daher nicht in der Lage den Rollator gefahrlos zu nutzen. Allein die Nutzung des Elektro-Antriebes ermöglicht es ihr, zumindest im Haus selbst ohne Aufsicht Richtungsänderungen mit dem Rollstuhl vorzunehmen.

Das hohe Anforderungsprofil der Fahrtauglichkeit für den Außenbereich darf nicht, wie die Antragsgegnerin unter Hinweis auf den MDK meint ohne Differenzierung, auf den innerhäuslichen Bereich übertragen werden. Dass die Antragstellerin behinderungsbedingt nicht selbstständig am Straßenverkehr teilnehmen kann, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Darum geht es der Antragstellerin aber auch nicht. Vielmehr soll ihr im unmittelbaren Hausbereich mit Hilfe des Elektro-Antriebes ein Rest an Selbstständigkeit in der eigenen Mobilität wieder gegeben werden. Entgegen der kritischen ärztlichen Stimmen zur Fahrtauglichkeit der Antragstellerin darf nicht übersehen werden, dass etwaige Gefährdungsmomente im Haus vorhersehbarer und beherrschbarer sind als im Straßenverkehr. Konkrete Gefährdungsmomente im unmittelbaren Hausbereich hat die Antragsgegnerin und auch der MDK nicht vortragen oder festgestellt. Sie sind nach der vorläufigen Einschätzung des Senats auch nicht erkennbar.

In diesem Zusammenhang kommt dem Fahrtest vom 12. März 2013 unter Beteiligung der Zeugen D., T. O. und R. erhebliche Bedeutung zu. Die Antragstellerin, die nachweislich nicht geistig behindert ist (vgl. Befundbericht Dr. K.) und seit Juli 2013 ihre geistige Leistungsfähigkeit sogar noch einmal verbessern konnte, ist nach dem Testergebnis uneingeschränkt im Haus in der Lage, den Rollstuhl mittels Elektro-Antrieb und Joy-Stick zu bedienen. Die Antragstellerin, die vor dem Schlaganfall immerhin 30 Jahre lang Auto gefahren ist (vgl. Angabe des Zeugen D.), konnte bereits nach kurzer Einweisung selbst die schmale Türöffnung im Wohnzimmer mit nur wenigen Zentimetern Abstand zwischen Rollstuhl und Türrahmen sicher und zügig durchfahren. Wer ein solch überzeugendes Fahrergebnis während einer "Probefahrt" im Haus zeigt, dem ist auch zuzutrauen, diese bereits hinreichend belegte Fahrleistung eigenständig und ohne Aufsicht für die Zukunft im Haus zu wiederholen.

Selbst wenn dennoch Zweifel an der Fahrtauglichkeit der Antragstellerin im Hausbereich bestehen sollten, wofür aus Sicht des Senats derzeit aber keine konkreten Anhaltspunkte bestehen, sprechen für den vorläufigen Leistungsanspruch auch die nachgewiesenen Schwierigkeiten der Hilfsperson, den Rollstuhl der Antragstellerin im Nahbereich zu bedienen. So hat die Antragstellerin nach den glaubhaften Angaben des Zeugen D. erheblich zugenommen und wiegt nunmehr deutlich über 80 kg, was eine erhebliche Belastung für den Schiebevorgang des Rollstuhls bedeutet. Nach dem Schwerbehindertenausweis des Zeugen D., ist es ihm wegen seines Wirbelsäulenschadens und seines Alters kaum zumutbar, die schwere Antragstellerin selbst für Kurzstrecken noch zu fahren.

Nach Ansicht des BSG muss die Rollstuhlversorgung das Grundbedürfnis im Nahbereich befriedigen können. Hierbei muss es dem Versicherten möglich sein, ohne übermäßige Anstrengung und schmerzfrei und aus eigener Kraft sich mit dem Rollstuhl fortzubewegen (BSG, Urteil vom 12. August 2009, B 3 KR 8/08 R, juris). Dieser Maßstab gilt auch für die Hilfsperson, wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen nicht in der Lage ist, den Rollstuhl im Außenbereich des Nahbereichs gefahrlos zu bedienen (vgl. überzeugend, Sozialgericht Frankfurt, Urteil vom 12. März 2013, S 25 KR 525/12, juris).

Aus diesen Gründen sprechen daher die überwiegenden Gründe für einen Versorgungsanspruch der Antragstellerin.

2. Auch die Prüfung der Folgenabwägung führt zu einer vorläufigen Verpflichtung der Antragsgegnerin zur Leistungsgewährung, denn ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes drohen der Antragstellerin schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Beeinträchtigungen, die durch das Hauptsacheverfahren nicht mehr zu beseitigen wären. In der Folgenabwägung sind die grundrechtlichen Belange des Antragstellers umfassend zu berücksichtigen (st. Rspr., vgl. BVerfG, Beschluss vom 12. Mai 2005, 1 BvR 569/05, juris).

Wegen der hohen grundrechtlichen Bedeutung der selbstständigen Mobilität kann es der Antragstellerin nicht zugemutet werden, bis zu einer bestandskräftigen Entscheidung in der Hauptsache auf den Elektro-Antrieb für ihren Faltrollstuhl zu warten. Ohne die Nutzung des begehrten Hilfsmittels kann sie ihren Rollstuhl in der häuslichen Umgebung nicht einmal drehen, geschweige denn ein Zimmer verlassen, ohne auf die jeweilige Hilfsperson angewiesen zu sein. Zur Milderung dieser Abhängigkeit von der Hilfsperson sichert nur der Elektro-Antrieb ihr den "Rest" einer noch verbliebenen eigenständigen Bewegungsfreiheit. Die dagegen von der Antragsgegnerin vorgebrachten Bedenken sind zumindest für den unmittelbaren Hausbereich allenfalls als abstrakte Gefahrenlage anzusehen und wegen des unübersehbaren Grundrechtsbezugs zu vernachlässigen. So konnte die Antragstellerin den Elektro-Antrieb im Haus problemlos bedienen. Konkrete Lebens- oder Leibesgefahren durch die Nutzung des Hilfsmittels im Haus sind weder bekannt noch vorgetragen worden. Der Test vom 12. März 2013 unter Praxisbedingungen hat die Leistungsfähigkeit der Antragstellerin, den Elektro-Antrieb des Rollstuhls im häuslichen Umfeld sicher und gefahrlos zu nutzen, bestätigt. Mögliche Kollisionen mit Möbeln oder Inventar können vernachlässigt bleiben. Es obliegt allein der grundrechtlich geschützten Eigenverantwortung der Antragsstellerin, diese möglichen und vielleicht für sie auch körperlich schmerzlichen Restrisiken beim Fahren des Elektro-Rollstuhls im Haus selbst einzuschätzen und ggf. einzugehen. Für den Außenbereich lassen sich durch das abnehmbare Bedienteil der funkgesteuerten Lenkung praktisch alle Risiken kontrollieren, die von der Hilfsperson zu tragen wären.

Die von der Antragsgegnerin vorläufig zu tragenden Kosten sind dagegen der Höhe nach überschaubar. Angesichts der erheblichen Erfolgsaussichten einer Klage in der Hauptsache und der der Antragstellerin drohenden Nachteile bei einer Ablehnung der vorläufigen Versorgung ist dieses Kostenrisiko von der Antragsgegnerin hinzunehmen.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Der Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

VorschriftenSGB V § 33 SGG § 86b Abs. 2