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21.03.2018 · IWW-Abrufnummer 200255

Landessozialgericht Bayern: Urteil vom 31.01.2018 – L 6 R 490/17

1. Die zeitliche Beschränkung des § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X für nachzuzahlende Sozialleistungen (hier: Erwerbsminderungsrente) greift unabhängig von der Frage, ob dem zuständigen Sozialversicherungsträger eine Mitverursachung zuzurechnen ist. (Rn. 12)

2. Die Vorschrift des § 44 Abs. 4 S. 1 SGB X begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. (Rn. 13)


LSG München

Urteil v. 31.01.2018

L 6 R 490/17

Tenor
I. Die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 5. Juli 2017 wird zurückgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III. Die Revision wird nicht zugelassen.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt von der Beklagten die Nachzahlung einer höheren Rente aufgrund einer Korrektur ihres Rentenbescheides nach § 44 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) bereits ab Rentenbeginn.

2

Der 1958 in E. geborenen Klägerin war von der Beklagten mit Bescheid vom 14.06.2005 Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit ab dem 01.10.2004 bewilligt worden. Dabei wurden Zeiten der Berufsausbildung als Textilfachverkäuferin vom 01.09.1974 bis 30.09.1976 zu Grunde gelegt. Im Rentenantrag hatte die Klägerin angegeben, dass die so im Versicherungsverlauf gespeicherten Zeiten vollständig und richtig seien.

3

Mit Schreiben vom 27.12.2016 beantragte die Klägerin die Berücksichtigung von Zeiten der Berufsausbildung nunmehr für den Zeitraum von September 1973 bis Februar 1976. Sie übersandte dazu einen Lehrvertrag vom 01.02.1973 mit entsprechend ausgewiesener Lehrzeit. Die Beklagte nahm mit Neufeststellungsbescheid vom 12.01.2017 unter Berücksichtigung dieser Lehrzeit ab dem 01.09.1973 eine Neuberechnung der Erwerbsminderungsrente vor. Als Änderung wurde die Zeit vom 01.09.1973 bis 29.02.1976 als Pflichtbeitragszeit/berufliche Ausbildung und die Zeit vom 01.03.1976 bis 31.12.1976 als Pflichtbeitragszeit festgestellt. Die Zeit vom 01.03.1976 bis 30.09.1976 wurde dabei der Qualifikationsgruppe 4 zugeordnet. Für die Zeit vom 01.01.2012 bis 31.12.2016 wurde der Klägerin eine Nachzahlung in Höhe von 1.109,64 EUR gewährt. Die Beklagte führte aus, eine höhere Leistung werde gem. § 44 Abs. 4 SGB X längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor der Rücknahme des Bescheides erbracht. Dabei werde der Zeitpunkt der Rücknahme vom Beginn des Jahres an berechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen werde oder der Antrag auf Rücknahme des Bescheides gestellt worden sei.

4

Dagegen legte die Klägerin am 20.01.2017 Widerspruch ein. Sie sei 1989 aus der damaligen DDR ohne Papiere geflohen und habe keinerlei Nachweise über ihren beruflichen Werdegang gehabt. Erst jetzt habe sie ihren Lehrvertrag in einem alten Buch gefunden. Aufgrund der besonderen Umstände sei eine Ausnahme anzuerkennen. Mit Widerspruchsbescheid vom 08.03.2017 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Die Voraussetzungen der Nachzahlung seien abschließend in § 44 Abs. 4 SGB X geregelt und rückwirkend auf vier Kalenderjahre begrenzt.

5

Dagegen hat die Klägerin am 07.04.2017 Klage zum Sozialgericht Augsburg (SG) erhoben und sinngemäß beantragt, die Neuberechnung der Rente ab Rentenbeginn zum 01.10.2004 vorzunehmen. Das SG hat die Klage nach vorheriger Anhörung mit Gerichtsbescheid vom 05.07.2017 abgewiesen. Ausgehend von einer im Jahr 2016 erfolgten Antragstellung auf Neuberechnung sei eine rückwirkende Nachzahlung für die Zeit ab Januar 2012 bis zum Beginn der laufenden Zahlung im Januar 2017 möglich, nicht bereits ab Rentenbeginn. Durch die Regelung des § 44 Abs. 4 SGB X werde eine materielle Anspruchsbeschränkung ausgesprochen, die von Amts wegen zu beachten sei. Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit dieser Vorschrift sei bereits höchstrichterlich bestätigt worden. Das Gesetz räume auch keine Spielräume für Einzelfallentscheidungen aus Ermessenserwägungen oder für etwaige Härten ein. Sonstige Anspruchsgrundlagen für eine weitergehende Rückzahlung seien nicht gegeben, insbesondere fehle es an einem Verschulden der Beklagten, welches möglicherweise einen weitergehenden sozialrechtlichen Herstellungsanspruch oder einen Folgenbeseitigungsanspruch begründen könnte.

6

Dagegen hat die Klägerin am 07.08.2017 Berufung eingelegt. Bei ihrer Flucht aus der damaligen DDR habe es sich um einen Ausnahmezustand gehandelt. Die Rentenversicherung A-Stadt hätte bei der Rentenversicherung B-Stadt ohne Weiteres ihre Beitragsjahre erfragen können.

7

Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 05.07.2017 aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 12.01.2017 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 07.02.2017 zu verurteilen, die Neufeststellung der Erwerbsminderungsrente sowie die daraus resultierende Nachzahlung bereits ab 01.10.2004 vorzunehmen.

8

Die Beklagte beantragt,
die Berufung der Klägerin gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 05.07.2017 als unbegründet zurückzuweisen.

9

Wegen des Vorbringens der Beteiligten im Einzelnen und zur Ergänzung des Sachverhalts wird im Übrigen auf den Inhalt der beigezogenen Akten der Beklagten, der Gerichtsakten sowie der vorbereitenden Schriftsätze Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

10

Die zulässige Berufung der Klägerin ist nicht begründet. Der Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Augsburg vom 05.07.2017 ist nicht zu beanstanden. Die Beklagte hat mit den angegriffenen Bescheiden zu Recht Rentennachzahlungen erst ab dem 01.01.2012 erbracht.

11

Diese Vorgehensweise entspricht der Vorschrift des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X. Danach werden Sozialleistungen, falls ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen wird, längstens für einen Zeitraum von 4 Jahren vor der Rücknahme erbracht. Der Zeitraum der Rücknahme wird vom Beginn des Jahres an gerechnet, in dem der Verwaltungsakt zurückgenommen wird, § 44 Abs. 1 Satz 2 SGB X, und wurde vorliegend mit dem 01.01.2012 zutreffend berechnet. Das Regelungsgefüge des § 44 SGB X bringt insoweit zwei widerstreitende Prinzipien zum Ausgleich: Auf der einen Seite verhilft es der materiellen Gerechtigkeit zur Geltung. Adressaten rechtswidriger Verwaltungsakte sollen so gestellt werden, als hätte die zuständige Behörde von vornherein richtig gehandelt. Auf der anderen Seite berücksichtigt es die Bestandskraft behördlicher und gerichtlicher Entscheidungen, indem hohe tatbestandliche Anforderungen normiert und in Abs. 4 die leistungsrechtlichen Folgen einer Durchbrechung begrenzt werden. Damit sind zwei wesentliche Aspekte des in Art. 20 Abs. 3 GG verankerten Rechtsstaatsprinzips berührt: Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit (vgl. Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 3 zu § 44 SGB X m.w.N.). Im Interesse einer möglichst weitgehenden Verwirklichung sozialer Rechte setzt sich dabei - im Gegensatz zu anderen Verfahrensordnungen des deutschen Rechts - prinzipiell die Einzelfallgerechtigkeit respektive Gesetzmäßigkeit des Verwaltungshandelns (in Form eines gebundenen Aufhebungsanspruchs) durch. Das einfache Gesetzesrecht lässt dies ausdrücklich zu. Als die Bestandskraft von Verwaltungsakten einschränkende Norm ist § 44 SGB X eine andere gesetzliche Bestimmung im Sinne von § 77 SGG. Verfassungsrechtlich geboten ist dieser Vorrang aber nicht (vgl. BVerfG vom 27.02.2007, Az.: 1 BvR 1982/01; BSG vom 25.03.2003, Az.: B 1 KR 36/01 R).

12

Die Vierjahresfrist des § 44 Abs. 4 Satz 1 SGB X stellt in diesem Interessengefüge eine materielle Ausschlussfrist dar, die zwingend von Amts wegen zu beachten ist und nicht der Dispositionsbefugnis oder dem Ermessen der Verwaltung wie auch der Gerichte unterliegt. Gegen die Anwendung der Vorschrift kann weder der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung noch ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden (BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85; BSG vom 26.05.1987, Az.: 4a RJ 49/86; Merten in: Hauck/Noftz, Rn. 91 zu § 44 SGB X m.w.N.). Rückwirkende Leistungen sind selbst dann auf einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor der Rücknahme beschränkt, wenn den Leistungsträger ein erhebliches Verschulden trifft (vgl. Hauck/Noftz, Rn. 98 zu § 44 SGB X; BSG vom 11.04.1985, Az.: 4b/9a RV 5/84). Entgegen der Auffassung der Klägerin ist daher für den vorliegenden Fall nicht entscheidungserheblich, ob und wenn ja welcher Verschuldensvorwurf den Handelnden zu machen und ob dieser Verschuldensvorwurf der Beklagten zuzurechnen ist. Insbesondere ist auch die Unterlassung einer an sich gebotenen Fehlerkorrektur genauso wie der ursprüngliche Fehler sanktionslos und verlängert die Rückwirkung nicht über Abs. 4 hinaus (Kasseler Kommentar, Rn. 24 zu § 45 SGB X). Schon deswegen ist der Vorwurf der Klägerin, die Beklagte hätte sich bei der Rentenversicherung der ehemaligen DDR erkundigen müssen, unerheblich. Er ist zudem nicht zutreffend. Die Beklagte hat entsprechend den ursprünglichen Angaben der Klägerin, denen sie im Rahmen der Rentengewährung nicht widersprochen hat, die Rente angewiesen. Es bestanden zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheides vom 14.06.2005 keine Anhaltspunkte für die Beklagte, dass die zu Grunde gelegten Angaben hinsichtlich der Ausbildung der Klägerin nicht zutreffend sein könnten. Ein fehlerhaftes Verwaltungshandeln ist danach nicht ersichtlich. Darüber hinaus wäre nach herrschender Meinung auch für einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch § 44 Abs. 4 SGB X entsprechend anzuwenden (vgl. BSG, Urteil vom 27.03.2007, B 13 R 58/06 R, Steinwedel in Kasseler Kommentar, SGB X, § 44 Rdnr. 47, Schütze in von Wulffen, SGB X, § 44 Rdnr. 33 m.w.N.).

13

Zur Überzeugung des Senats begegnet die Vorschrift des § 44 Abs. 4 SGB X auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken. Sie verstößt weder gegen die Eigentumsgarantie des Art. 14 Abs. 1 GG noch gegen den aus dem Rechtsstaatsprinzip abzuleitenden Grundsatz des Vertrauensschutzes oder gegen das Gleichheitsgebot des Art. 3 GG. Der Senat nimmt insoweit ausdrücklich auf die erschöpfende Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes Bezug (vgl. BSG vom 15.12.1982, Az.: GS 2/80; BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85; BSG vom 21.01.1987, Az. 1 RA 27/86; BSG vom 23.07.1986, Az.: 1 RA 31/85 m. w. N.; s.a. LSG Hessen vom 23.08.2013, Az.: L 5 R 359/12).

14

Die Berufung war daher zurückzuweisen.

15

Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.

16

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 1, Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

RechtsgebieteGG, SGBVorschriftenGG Art. 14; GG Art. 3; SGB X § 44 Abs. 1; SGB X § 44 Abs. 4