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15.10.2020 · IWW-Abrufnummer 218333

Oberlandesgericht Dresden: Beschluss vom 06.08.2020 – 4 U 2751/19

Tagebuchaufzeichnungen einer Partei, die in einem medizinischen Sachverständigengutachten ausgewertet werden, müssen der anderen Partei regelmäßig nicht zugänglich gemacht werden. Gelangen sie zur Gerichtsakte, besteht kein Anspruch auf Einsicht.


Oberlandesgericht Dresden

Beschluss vom 06.08.2020


In dem Rechtsstreit

I...... H......, ...
- Klägerin und Berufungsbeklagte -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte M...... + B......, ...
gegen
XXX Krankenversicherung AG, ...
vertreten durch den Vorstand
- Beklagte und Berufungsklägerin -
Prozessbevollmächtigte:
Rechtsanwälte B...... & Partner, ...

wegen Forderung

hat der 4. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Dresden durch
Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht S......,
Richterin am Oberlandesgericht P...... und
Richterin am Oberlandesgericht R......

ohne mündliche Verhandlung am 06.05.2020

beschlossen:

Tenor:

  1. Der Senat beabsichtigt, die Berufungen der Beklagten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zurückzuweisen.
  2. Die Beklagte hat Gelegenheit, innerhalb von drei Wochen Stellung zu nehmen. Sie sollte allerdings auch die Rücknahme der Berufungen in Erwägung ziehen.
  3. Der auf Dienstag, 12.05.2020, 15.00 Uhr bestimmte Termin zur Hauptverhandlung wird aufgehoben.
  4. Der Senat beabsichtigt, den Streitwert für die Berufungsinstanz auf 33.150,00 € festzusetzen.
  5. Der Klägerin wird Prozesskostenhilfe zur Verteidigung gegen die Berufung der Beklagten unter von Beiordnung von Rechtsanwältin B...... M...... bewilligt.

Gründe

Der Senat beabsichtigt, die zulässigen Berufungen nach § 522 Abs. 2 ZPO ohne mündliche Verhandlung durch - einstimmig gefassten - Beschluss zurückzuweisen. Die Berufungen der Beklagten bieten in der Sache offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg. Die Rechtssache hat auch weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Berufungsgerichts durch Urteil. Auch andere Gründe gebieten eine mündliche Verhandlung nicht.

Zu Recht hat das Landgericht der Klägerin das begehrte Krankentagegeld für den streitgegenständlichen Zeitraum auf der Grundlage des zwischen den Parteien geschlossenen Versicherungsvertrages zugesprochen. Die hiergegen gerichteten Berufungsangriffe zeigen keine durchgreifenden Zweifel an der landgerichtlichen Entscheidung auf, die den Senat in den durch § 529 ZPO gezogenen Grenzen berechtigen oder gar verpflichten würden, hiervon abzuweichen.

Weder in verfahrensrechtlicher Hinsicht, noch im Rahmen der Beweiswürdigung ergeben sich Anhaltspunkte für durchgreifende Zweifel.

1.

Das Gericht war nicht verpflichtet, die Vorlage des Tagebuches nach § 142 Abs. 1 ZPO anzuordnen, wie von der Beklagten mit Schriftsatz vom 15.10.2019 (Bl. 236 d. A.) beantragt. Die Anordnung der Urkundenvorlage nach § 142 ZPO dient der Stärkung der richterlichen Aufklärungsmacht und liegt im Ermessen des Tatrichters (Zöller, a.a.O., § 142 Rz. 2 und 8). Dabei hat das Gericht sowohl den zu erwartenden Erkenntniswert als auch berechtigte Belange des Geheimnis- und Persönlichkeitsschutzes zu würdigen (OLG München, Urteil vom 09.11.2006 - 1 U 2742/06, Rz. 22 - nach juris m.w.N.; jurisPK, § 630 g BGB, Rz. 166 m.w.N.). Vorliegend verhält es sich so, dass die Vorlage des Tagebuches keinen zusätzlichen Erkenntniswert hätte erwarten lassen, denn weder hat die Beklagte aufgezeigt, noch ergibt sich sonst aus dem Akteninhalt ein Anhaltspunkt dafür, dass der Sachverständige Dr. Dr. A...... die Tagebuchaufzeichnungen unzutreffend gewürdigt, oder deren Inhalt verfälscht zugrunde gelegt hätte. Die Beklagte hat auch keine anderen Gesichtspunkte aufgezeigt, die geeignet wären, insoweit ein Misstrauen gegen entweder die Fachkunde oder die Redlichkeit oder Unparteilichkeit des Sachverständigen zu wecken. Insgesamt ergeben sich vorliegend weder aufgrund der Akten noch aufgrund des Vorbringens der Beklagten Anhaltspunkte dafür, dass das fragliche Dokument das bisherige Beweisergebnis in Frage stellen könnte. Ohnehin besteht ein unbedingter, keinen Beschränkungen unterliegender Anspruch der Verfahrensbeteiligten auf Vorlage und Zugänglichmachung sämtlicher zur Vorbereitung des Gutachtens dienender Arbeitsunterlagen eines Sachverständigen noch nicht einmal im Strafprozess (BGH, 3 StR 355/94, Beschluss vom 14.07.1995 - juris Orientierungssatz). Es besteht kein Grund, dies im Zivilverfahren anders zu sehen. Dort wie hier gilt vielmehr die Pflicht des Tatrichters, dass Sachverständigen in seinen Grundlagen und in seinen Schlussfolgerungen auf seine Richtigkeit in einer für die Verfahrensbeteiligten nachvollziehbaren Weise zu begründen. Ob und inwieweit das Gericht und die Verfahrensbeteiligten Kenntnis vom Inhalt vorbereitender Arbeitsunterlagen des Sachverständigen haben müssen, um das Gutachten kritisch würdigen zu können, hängt von den Umständen des Einzelfalles ab. Maßstab ist letztlich die tatrichterliche Aufklärungspflicht (BGH, a.a.O.; vgl. BVerfG, Beschluss vom 11.10.1994, 1 BvR 1398/93). Wie bereits ausgeführt, lagen und liegen keinerlei Anhaltspunkte dafür vor, der Sachverständige habe etwa unredlich seine Arbeitsunterlagen verwertet oder diese aufgrund fehlender Sachkunde falsch gewürdigt.

Zusätzlich weist die Beklagte zutreffend darauf hin, dass ein Tagebuch zum Kernbereich privater, ja geradezu intimer Lebensgestaltung gehört, bei dem nicht ohne Not dem Betroffenen abverlangt werden darf, dieses der Öffentlichkeit preiszugeben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 14.09.1989 - 2 BvR 1062/87, Orientierungssatz 1 nach juris). Mangels greifbarer Anhaltspunkte für einen Erkenntnismehrwert durch Vorlage der Tagebücher ist die Nichtanordnung der Vorlage nach § 142 ZPO nicht zu beanstanden. Durch Vorlage des Tagebuches offenbart die Klägerin ihre innersten Vorgänge, wie sie es ansonsten mündlich auch beim Untersuchungsgespräch tun würde, zumindest tun sollte. Hier aber ist anerkannt, dass dem Gegner regelmäßig wegen der Wahrung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des zu Begutachtenden ein Anwesenheitsrecht nicht gestattet wird, insofern muss der Parteiöffentlichkeit hinter den Schutz der Menschenwürde des Patienten zurücktreten (OLG München, Beschluss vom 01.06.2015 - 24 W 881/15; Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 5. Aufl., Rz S 26 a m.w.N.).

2.

Weiter liegt kein Verfahrensfehler darin, dass das Landgericht mit Verfügung vom 06.11.2019 die Entscheidung zur Rücksendung des ungelesenen Tagebuches getroffen hat, ohne die Parteien zuvor anzuhören. Wie ausgeführt, lag es im freien Ermessen des Gerichts, die Vorlage des Tagebuches nicht anzuordnen. Dieses Ermessen wurde, wie ebenfalls ausgeführt sachgerecht ausgeübt. Wenn aber das Gericht das Recht hatte, das Tagebuch als Urkunde nicht zur Vorlage zu verlangen ohne zuvor die Parteien anzuhören, dann war auch die Weigerung der Kenntnisnahme und Rücksendung des ungelesenen Tagebuches ebenfalls ohne vorherige Anhörung der Parteien bzw. des Gegners möglich.

Zusätzlich ist auf Folgendes hinzuweisen: Im Grundsatz hat im Anwaltsprozess der Vortrag über den Anwalt zu erfolgen. Dies hindert zwar eine Partei nicht, eigenständig beispielsweise Urkunden vorzulegen (Zöller/Vollkommer, ZPO, 31. Aufl., § 78 Rz. 31). Wenn aber - wie hier - Unterlagen wie ein Tagebuch von der Partei selbst nur "persönlich und vertrauensvoll" zu Händen des Richters vorgelegt werden verbunden mit der Frage, ob der Richter es denn für unumgänglich halte, dem Gegner diese Unterlage zur Verfügung zu stellen, dann liegt ein Zweifelsfall vor, ob die Partei diese Urkunde wirklich zu ihrem allgemein zugänglichen Vortrag im Prozess machen will oder nicht. Dann aber gebietet die richterliche Fürsorge, diese Unterlagen wie hier auch geschehen, zunächst ungelesen an den Anwalt zurückzusenden, damit dieser die Vorgehensweise mit seiner Mandantin besprechen und entscheiden kann, ob das Buch freiwillig vorgelegt wird oder nicht.

3.

Ohne dass es hiernach darauf ankäme, ist auszuführen, dass die Durchsicht der nunmehr in 2. Instanz tatsächlich zur Verfügung gestellten Tagebuchunterlagen das zuvor gefundene Ergebnis bestätigen.

Selbst für einen Laien erkennbar stützt der Inhalt der Tagebuchaufzeichnungen in eindrücklicher Weise die vom Sachverständigen getroffene Einschätzung, dass die Klägerin im fraglichen Zeitraum durchgehend zu der für die Ausübung ihres Berufes erforderlichen guten sozialen Interaktion nicht in der Lage war.

4.

Der Senat kann die von der Beklagtenseite aufgezeigten vermeintlichen methodischen Mängel des Sachverständigengutachtens nicht erkennen.

Der Vorwurf der Beklagten, der Sachverständige habe sich auf die Durchführung gegenwärtiger Tests konzentriert anstatt den rückwirkend vorgegebenen Zeitraum zu beachten wirkt konstruiert. Der Sachverständige hat sich hierzu klar positioniert und dargelegt, dass diese Tests der Einschätzung der Persönlichkeit der Probandin und der Validierung ihrer Angaben bezogen auf die Vergangenheit dienen. Dem hat die Beklagte nichts entgegengehalten.

Weiter geht der Vorwurf fehl, dass Gegenstand der Beurteilung nur die objektiven medizinischen Befunde und Erkenntnisse zum Zeitpunkt der Vornahme der Behandlung sein können (Bl. 282 Rs. d. A.). Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann bei einer Krankheit, die gerade durch das Fehlen naturwissenschaftlich gewonnener Untersuchungsbefunde charakterisiert wird, der ärztliche Nachweis der Erkrankung auch dadurch geführt werden, dass ein Arzt seine Diagnose auf die Beschwerdenschilderung des Patienten stützt (vgl. BGH, Urteil vom 14.04.1999 - IV ZR 289/97, juris). Wenn im Rahmen eines psychiatrischen Gutachtens mit dem in der Psychiatrie höchstmöglichen Grad von Gewissheit das Vorliegen einer Erkrankung bejaht wird, dann muss der erforderliche Vollbeweis als geführt angesehen werden, weil anderenfalls im Streitfall der Nachweis gar nicht geführt werden könnte (Senatsurteil vom 05.11.2019 - 4 U 390/18, Rz. 25, nach juris, m.w.N.). Vorliegend hat der Sachverständige sämtliche Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft, nicht nur die Angaben der Patientin, sondern auch sämtlich - soweit ersichtlich - verfügbaren Krankenunterlagen sowie die Tagebuchaufzeichnungen der Patientin. Insoweit gehen die Ausführungen der Beklagten fehl, in der Dokumentation der behandelnden Therapeutin Dr. G........... befänden sich keine Befunde. Diagnosen sind Befunde, und solche Diagnosen finden sich und sei es auch nur im Wege des ICD10-Bezeichnungen sowohl in der Karteikarte Dr. G...... (Anlage K28) als auch in der Dokumentation von Frau Dr. G........... (Anlage K29).

Insgesamt sind die Ausführungen des Sachverständigen auch nach Auffassung des Senats unter Berücksichtigung aller Unterlagen und der Untersuchung der Klägerin für den Vollbeweis nach § 286 ZPO hinsichtlich der durchgehenden 100 %igen Arbeitsunfähigkeit für jeden einzelnen Tag ausreichend. Aus der Art der Beschwerden folgt dabei zwanglos, dass diese nicht an einem Tag einfach "verschwinden" und am nächsten Tag wieder auftreten, sondern dass sich vielmehr aus der Art der Erkrankung(en) ergibt, dass diese durchgehend bestanden. Auch wenn die Klägerin ihren Alltag möglicherweise gerade noch mit Mühe bewältigen konnte, so zeigt die Beklagte an keiner Stelle auf, dass die Klägerin auch die vom Sachverständigen angesichts des Berufsbildes geforderte hohe soziale Kompetenz hätte aufbringen können. Es liegt auf der Hand, dass die therapeutische Arbeit besonderes Einfühlungsvermögen und eine besondere Konzentration auf die Sache erfordern, eine bloße Bewältigung einfacher Alltagsaufgaben "mit Mühe" kommt nicht in die Nähe dessen, was dort gefordert ist.

Den Einwand der Beklagten, die sehr geringe Medikation lasse darauf schließen, dass die Klägerin nicht an so gravierenden Beschwerden litt, hat der Sachverständige klar widerlegt. Er setzt zudem fehlerhaft voraus, dass psychische Erkrankungen allein oder zumindest überwiegend mit Medikamenten heilbar wären. Dann aber wäre das Konzept langwieriger Therapien überflüssig, es ist stattdessen aber anerkannt. Deshalb kann eine geringe Medikation als solche keinen Ausschlag geben, sondern allenfalls individuelle Aussagekraft haben.

5.

Mit ihrem Einwand der Berufsunfähigkeit dringt die Beklagte schließlich ebenfalls nicht durch. Zwar ist anerkannt, dass mit Eintritt der Berufsunfähigkeit die Leistungspflicht des Versicherers aufgrund einer Krankentagegeldversicherung gemäß § 15 Abs. 1 b MB/KT endet. Die Darlegungs- und Beweislast hierzu liegt aber beim Versicherer (OLG Oldenburg, Beschluss vom 24.10.2012 - 5 U 109/12, nach juris; OLG Frankfurt, Beschluss vom 14.09.2017 - 3 U 98/17, Rz. 26). Den Feststellungen des Gutachters, dass sich eine solche Berufsunfähigkeit für den streitgegenständlichen Zeitraum nicht feststellen lasse, hat die Beklagte nichts weiter entgegengehalten als die Behauptung, dass damit die Berufsunfähigkeit jedenfalls nicht ausgeschlossen werden könne (Bl. 284 d. A.). Damit ist sie ihrer Darlegungs- und Beweislast bezüglich einer Berufungsunfähigkeit nicht nachgekommen.

Lediglich der Ergänzung halber ist auszuführen, dass für eine solche Berufsunfähigkeit auch die Tagebuchaufzeichnungen der Klägerin gerade nichts hergeben. Zu dieser Problematik ist schließlich noch auf die Anlage K37 zu verweisen. Es handelt sich hierbei um ein Schreiben der behandelnden Diplompsychologin Dr. G........... (vom 20.02.2017), in der sie der Beklagten nicht nur die Diagnosen mitteilt, sondern darlegt und begründet, dass der bisherige Behandlungsverlauf und die erreichten Teilerfolge auf eine überwiegend positive Prognose schließen lassen. Auch dem hat die Beklagte inhaltlich nichts entgegengehalten. Eine solche Prognose entspricht aber genau den Erfordernissen an die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit in Abgrenzung zur Berufsunfähigkeit für den streitgegenständlichen Zeitraum.

Nach alledem rät der Senat zu einer Berufungsrücknahme, die zwei Gerichtsgebühren spart.