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03.08.2016 · IWW-Abrufnummer 187685

Sozialgericht Gießen: Urteil vom 07.06.2016 – S 18 SO 108/14

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Sozialgericht Gießen

Urt. v. 07.06.2016

Az.: S 18 SO 108/14

Tenor:

1. Der Bescheid vom 15.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2014 wird aufgehoben.

2. Der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Leistungen nach dem SGB XII in gesetzlichem Umfang über den 31.03.2014 hinaus zu zahlen.

3. Der Beklagte hat der Klägerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.

Tatbestand

Die Klägerin begehrt die Zahlung von Leistungen nach dem SGB XII über den 31.03.2014 hinaus.

Die 1948 geborene Klägerin stand bei dem Beklagten bis einschließlich März 2014 im monatlichen Leistungsbezug in Höhe von 150,49 EUR. Dem Gesamtbedarf der Klägerin in Höhe von 734,37 EUR stand ein Altersrentenbezug in Höhe von 590,96 EUR gegenüber. Abzüglich einer Haftpflichtversicherung in Höhe von 7,08 EUR verfügte die Klägerin über ein Gesamteinkommen von 583,88 EUR, so dass ein monatlicher Bedarf von 150,49 EUR bestand.

Mit Bescheid vom 15.04.2014 teilte der Beklagte der Klägerin Folgendes mit:

"Sie gehören gem. § 41 SGB XII zum anspruchsberechtigten Personenkreis des 4. Kapitels des SGB XII, da Sie die Altersgrenze erreicht haben.

Anspruch auf Leistungen haben gem. § 19, Abs. 2 SGB XII Personen, die ihren Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenem Einkommen und Vermögen bestreiten können.

Sie besitzen eine Lebensversicherung, bei der C. Versicherung (Nr. xxxxx)
Der aktuelle Rückkaufwert dieser Versicherung beträgt zur Zeit 2.980,34 € (Stand zum 01.03.2014).

Nach § 90 Abs. 1 SGB XII ist das gesamte verwertbare Vermögen einzusetzen.

Die Schongrenze liegt gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII i. V. m. § 1 Abs. 1a VO zu § 90b Abs. 2 Nr. 9 SGB XII) hier bei 2.600,00 €.

Somit wird die Vermögensfreigrenze um 380,34 € überschritten.

Ihren Antrag auf Weitergewährung der Leistungen nach dem 4. Kapitel SGB XII wird daher abgelehnt.

Sie sind verpflichtet, Ihr Vermögen von 380,34 € für die Sicherung Ihres Lebensunterhaltes aufzubrauchen, ehe Sie wieder einen Antrag bei uns stellen können."

Hiergegen legte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit Schriftsatz vom 24.04.2014 Widerspruch ein und machte geltend, es handele sich nicht um eine Lebensversicherung, sondern um eine reine Sterbegeldversicherung, die nicht einzusetzen sei. Insoweit bezog sich der Prozessbevollmächtigte auf eine Bestätigung der C. Lebensversicherung vom 22.03.2014, wonach es sich bei der Versicherung um eine Sterbegeldversicherung handele. Des Weiteren hatte die C. Lebensversicherung mit Schreiben vom 26.02.2014 den Rückkaufswert zum 01.03.2014 auf 2.980,34 EUR festgelegt, wobei die Klägerin bis zum 01.01.2013 4.203,20 EUR gezahlt hatte.

Mit Widerspruchsbescheid vom 15.08.2014 wies der Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Auf den Inhalt der Entscheidung wird Bezug genommen.

Dagegen richtet sich die Klage vom 29.08.2014, mit der die Klägerin ihr Begehren weiterverfolgt. Die Klägerin trägt vor, sie könne nicht darauf verwiesen werden, ihre bei der C. Versicherung bestehende Versicherung zu kündigen und zur Bestreitung des Lebensunterhalts einzusetzen, weil es sich um eine Sterbegeldversicherung handele (Schriftsatz vom 22.09.2014).

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid vom 15.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2014 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihr Leistungen nach dem SGB XII in gesetzlichem Umfang über den 31.03.2014 zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er hält die angefochtenen Bescheide für rechtmäßig und bezieht sich zur Begründung seines Antrags auf seinen Schriftsatz vom 26.09.2014, wonach nicht ersichtlich sei, dass mit der Versicherungsgesellschaft eine Zweckbindung vereinbart worden sei.

Dem Gericht lagen die Akten des Beklagten vor.

Entscheidungsgründe

Die form- und fristgerecht erhobene Klage ist zulässig (§§ 87, 90, 92 SGG).

Sie ist auch begründet.

Der Bescheid vom 15.04.2014 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 15.08.2014 erweist sich als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten, § 54 Abs. 2 SGG. Die Klägerin hat Anspruch auf Zahlung von Leistungen nach dem SGB XII in gesetzlichem Umfang über den 31.03.2014 hinaus; Kostenersatz in Höhe von 150,49 EUR nach § 19 Abs. 5 SGB XII ist nicht zu leisten.

In dem Zeitraum ab April 2014 verfügte die Klägerin nicht über den Vermögensfreibetrag von 2.600,00 EUR übersteigendes Vermögen, so dass sie einen Anspruch auf Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII hatte.

Gemäß § 19 Abs. 2 SGB XII ist Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung zu leisten, wenn eine Person die Altersgrenze nach § 41 Abs. 2 erreicht oder das 18. Lebensjahr vollendet hat und dauerhaft voll erwerbsgemindert ist, sofern sie ihren notwendigen Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln, insbesondere aus ihrem Einkommen und Vermögen, bestreiten kann. Aus der Rente von 590,96 EUR konnte und kann die Klägerin ihren Bedarf ab April 2014 nicht bestreiten.

Den von der Klägerin begehrten Leistungen nach dem SGB XII steht ab April 2014 auch kein überschießendes Vermögen entgegen. Nach § 90 Abs. 1 SGB XII ist das gesamte verwertbare Vermögen einzusetzen. Das Gericht folgt dem Beklagten nicht darin, dass einschließlich des Rückkaufswertes der Sterbegeldversicherung ein Guthaben von 2.980,34 EUR ab April 2014 zu ermitteln ist. Das gemäß § 90 Abs. 2 Nr. 9 SGB XII in Verbindung mit der Verordnung zur Durchführung dieser Vorschrift geschützte Vermögen von 2.600,00 EUR war somit nicht überschritten. Es errechnete sich ab April 2014 kein Vermögensüberhang von 380,34 EUR.

Zum einzusetzenden Vermögen gehören auch "bereite Mittel", über die der Betroffene etwa nach einer Vertragskündigung verfügen kann. Die Mittel aus Sterbegeldversicherungen, die sich bei deren Kündigung ergeben, sind aber nicht dem einzusetzenden Vermögen zuzurechnen, da ihr Einsatz eine unzumutbare Härte im Sinne des § 90 Abs. 3 SGB XII bedeuten würde.

Das Gericht lässt offen, ob man das Sterbegeld als Bestandteil der Altersversicherung aus § 90 Abs. 3 Satz 2 ansieht oder seine Verschonung unmittelbar aus § 90 Abs. 3 Satz 1 SGB XII herleitet. Nach Ansicht des erkennenden Gerichts soll eine Sterbegeldversicherung nach den Leitvorstellungen des § 90 Abs. 2 SGB XII vom Vermögenseinsatz frei bleiben, ist aber wegen ihrer Atypik von der Aufzählung der Vorschrift nicht erfasst worden. Aufgabe der Sozialhilfe nach § 1 Abs. 2 SGB XII ist es, dem Hilfeempfänger ein Leben zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Somit sind nicht nur materielle, sondern auch immaterielle Werte geschützt, was sich aus § 90 Abs. 2 Nr. 6 SGB XII ergibt: Unverwertbarkeit von Familien- und Erbstücken und Nr. 7: Unverwertbarkeit von Gegenständen, die zur Befriedigung geistiger, insbesondere wissenschaftlicher oder künstlerischer Bedürfnisse dienen. Diesen normierten immateriellen Werten ist der Wunsch vieler Menschen gleichzusetzen, für ein angemessenes Begräbnis und die Zeit nach ihrem Tode vorzusorgen. Es ist daher zu respektieren, dass ihnen die Mittel erhalten bleiben, die sie für eine angemessene Bestattung und Grabpflege zurückgelegt haben. Der Gesetzgeber hat, auch wenn er eine Sterbeversicherung nicht in den Katalog des § 90 Abs. 2 SGB XII aufgenommen hat, die Vorsorge hierfür in § 33 SGB XII anerkannt.

Ebenso ist das Recht, über die eigene Bestattung zu bestimmen, Teil des grundrechtlich geschützten Persönlichkeitsrechts (Artikel 2 Abs. 1 GG). Dies umfasst auch die Dispositionsfreiheit, selbst zu Lebzeiten für eine angemessene Bestattung Sorge zu tragen und nicht sein Vermögen zur Bestreitung zukünftiger Betreuerkosten anzusparen und sich auf ein "Armenbegräbnis" nach § 74 SGB XII durch den Sozialhilfeträger verweisen zu lassen.

Die bestehende Sterbegeldversicherung über einen Betrag von 4.662,00 EUR ist schließlich auch nicht unangemessen.

Abschließend weist das Gericht in diesem Zusammenhang darauf hin, dass trotz der sehr kostenzentrierten Diskussion zum Sozialhilferecht nicht außer Acht gelassen werden sollte, dass Kernpunkt des Sozialrechts nicht nur der Nachrang der Sozialhilfe ist, sondern die Menschenwürde. Dagegen darf das finanzielle Interesse nicht "um jeden Preis" durchgesetzt werden.

Das Gericht geht schließlich auch von einer offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit der Verwertung der Versicherung aus. Ein Unterfall der Härte ist die offensichtliche Unwirtschaftlichkeit der Verwertung eines Vermögensgegenstandes, obwohl dieses Tatbestandsmerkmal anders als in § 12 Abs. 2 Satz 1 Nr. 6 SGB II in § 90 Abs. 3 SGB XII nicht ausdrücklich erwähnt wird. Es ist für das Gericht jedoch kein Grund erkennbar, wieso dieser Gesichtspunkt im Rahmen der Sozialhilfe völlig außer Betracht bleiben sollte (so auch BSG vom 25.08.2011, B 8 SO 19/10 R). Nach der insbesondere zum Verwertungsausschluss von Lebensversicherungsverträgen entwickelten Rechtsprechung des BSG zur Arbeitslosenhilfe und zu § 12 Abs. 3 Satz 1 Nr. 6 SGB II liegt eine offensichtliche Unwirtschaftlichkeit vor, wenn der mit der Verwertung zu erzielende Gegenwert in einem deutlichen Missverhältnis zum wirklichen Wert des Vermögensgegenstandes steht. Umgekehrt ist offensichtliche Unwirtschaftlichkeit der Vermögensverwertung nicht gegeben, wenn das Ergebnis der Verwertung vom wirklichen Wert nur geringfügig abweicht (BSGE 99, 77 [BSG 06.09.2007 - B 14/7b AS 66/06 R]). Hinsichtlich der Wirtschaftlich der Verwertung ist auf das ökonomische Kalkül eines rational handelnden Marktteilnehmers abzustellen. Es ist mithin zu ermitteln, welchen Verkehrswert der Vermögensgegenstand gegenwärtig auf dem Markt hat.

Dieser gegenwärtige Verkaufspreis ist dem Substanzwert gegenüberzustellen (BSG vom 15.04.2008, B 14/7b AS 68/06 R), der sich nicht notwendig aus dem Anschaffungswert ergibt. Der Substanzwert ergibt sich bei einem Lebensversicherungsvertrag aus den eingezahlten Beiträgen und der Verkehrswert aus dem Rückkaufswert der Versicherung im Zeitpunkt der Antragstellung und unter Berücksichtigung wesentlicher Änderungen während des Leistungsbezugs, z. B. einer Beleihung.

Maßstab für die Bewertung der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit der Verwertung ist nach der Rechtsprechung des BSG zum SGB II die Verlustquote, die sich aus dem Vergleich zwischen dem Verkehrswert und dem Substanzwert ergibt (BSG vom 20.02.2014, B 14 AS 10/13 R). Allerdings hat das BSG bisher keine absolute Grenze für die offensichtliche Unwirtschaftlichkeit der Verwertung einer Lebensversicherung festgelegt. Vielmehr lehnt es eine einzelfallunabhängige revisionsgerichtliche Bestimmung einer feststehenden unteren Verlustquote, ab der die Verwertung von Lebensversicherungen immer offensichtlich unwirtschaftlich ist, ausdrücklich ab (BSG vom 20.02.2014, B 14 AS 10/13 R).

Denn damit bliebe die Vielfalt möglicher Fallgestaltung außen vor, deren Berücksichtigung bei der Rechtsanwendung der unbestimmte Rechtsbegriff der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit dient. Zu den in einer Gesamtschau zu berücksichtigenden Umständen des Einzelfalles können nach Auffassung des BSG mit Blick auf die Verwertung von Lebensversicherungen neben der Verlustquote bei ihrer vorzeitigen Auflösung die konkreten Vertragsbedingungen der Versicherung und die konkrete Vertragssituation ebenso gehören wie der Umstand, ob die Versicherung bereits beliehen ist. Die für die rechtliche Unterscheidung von wirtschaftlicher und unwirtschaftlicher Verwertung einer Versicherung im Einzelfall prägenden Umstände vollständig zu erfassen und in einer Gesamtschau zu bewerten, ist daher Aufgabe der Instanzgerichte. Hierbei ist auch zu berücksichtigen, was bei der vorzeitigen Auflösung von Versicherungen an Verlusten im Wirtschafts- und Rechtsverkehr allgemein üblich ist.

Der bisherigen Rechtsprechung des BSG zum SGB II lässt sich jedoch ein gewisser Orientierungsrahmen entnehmen: Danach soll die Grenze der offensichtlichen Unwirtschaftlichkeit jedenfalls dann noch nicht erreicht sein, wenn der Rückkaufswert um 12,9% hinter den eingezahlten Beiträgen zurückbleibt. Andererseits sollen bei einem Verlust von 18,5% Zweifel an der Wirtschaftlichkeit bestehen (BSG vom 15.04.2008, B 14/7b AS 68/06 R). Eine offensichtliche Unwirtschaftlichkeit wurde angenommen bei Verlustquoten von 48,2%, 44,26% und 42,7% bzw. 26,9% (BSG vom 15.04.2008, B 14/7b AS 6/07 R).

Das erkennende Gericht schließt sich der Rechtsprechung des BSG an, wonach beginnend bei einem Verlust von 18,5% je nach Einzelfall aber spätestens nach dem Überschreiten eines Verlustes von 26,9% eine Wirtschaftlichkeit der Verwertung nicht mehr gegeben ist. So liegt der Fall hier. Ausweislich der Auskunft der C. Lebensversicherung vom 26.02.2014 liegt der Rückkaufswert bei 2.980,34 EUR (01.03.2014) und die gezahlten Beträge bei 4.203,20 EUR (01.01.2013). Sollte die Klägerin weitere Beiträge über den 01.01.2013 hinaus entrichtet haben, wäre der Unterschied zwischen gezahlten Beiträgen und Rückkaufswert sogar noch größer. Nach dem bekannten Zahlenwerk vom 26.02.2014 ergibt sich jedenfalls eine Verlustquote von 29,1%, was in jedem Fall die auch von der Rechtsprechung des BSG angenommene (Mindest-)Verlustquote von 26,9% deutlich übersteigt.

Auch unter diesem Gesichtspunkt war der Klage somit stattzugeben.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.