01.12.2016 · IWW-Abrufnummer 190302
Sozialgericht Berlin: Urteil vom 26.10.2016 – S 145 SO 1411/16 ER
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
S 145 SO 1411/16 ER
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 6. September 2016 gegen den Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 wird abgelehnt.
Der Antrag auf Anordnung der Aufhebung der Vollziehung und Verpflichtung zur Auszahlung des einbehaltenen Betrages wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruches vom 6. September 2016 gegen den Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 sowie die Anordnung der Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung und Verpflichtung zur Auszahlung des einbehaltenen Betrages.
Die 1949 geborene Antragstellerin bezieht von dem Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41 ff. Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Geschäftsführer des Pflegedienstes M. H. und S. GmbH (nachfolgend Pflegedienst) wurden u. a Kassenbücher und Dienstpläne ("Autotouren") für die Pflegekräfte durch die Staatsanwaltschaft sichergestellt, aus denen sich ergibt, dass eine Vielzahl von Patienten (mehrere hundert Patienten) dieses Pflegedienstes (einschließlich der Antragstellerin) Pflegedienstleistungen bestätigten, die der Pflegedienst gar nicht oder in erheblich geringeren Umfang erbrachte. Als Gegenleistung erhielten die betroffenen Patienten (einschließlich der Antragstellerin) monatlich eine Kick-back-Zahlung, deren Höhe vom Aufwand für den Pflegedienst und der entsprechenden Pflegestufe für den Patienten abhing.
Aus den sichergestellten Unterlagen ergibt sich, dass die Antragstellerin u. a. die folgenden Kick-back Zahlungen von dem Pflegedienst erhalten hat:
November 2014: 264,00 Euro; Dezember 2014: 336,00 Euro; Januar 2015: 280,00 Euro; Februar 2015: 245,00 Euro
Nach Anhörung der Antragstellerin erlies der Antragsgegner am 11. August 2016 einen Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid, mit dem der Antragsgegner sämtliche Bescheide, mit denen der Antragstellerin Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit von November 2014 bis Februar 2015 gewährt wurden, insoweit zurücknahm, als dort Einkünfte in Höhe von monatlich 264,00 Euro (November 2014), 336,00 Euro (Dezember 2014), 280,00 Euro (Januar 2015) und 245,00 Euro (Februar 2015) nicht angerechnet wurden. Ferner forderte der Antragsgegner die Erstattung der zu viel empfangenen Grundsicherungsleistungen in Höhe von 1.125,00 Euro und rechnete ab dem 1. September 2016 mit seinem Erstattungsanspruch in Höhe von 73,00 Euro monatlich gegen den Anspruch der Antragstellerin auf Grundsicherungsleistungen auf. Letztlich ordnete der Antragsgegner die sofortige Vollziehung in Bezug auf die Rücknahme, Erstattung und Aufrechnung an. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am 6. September 2016 Widerspruch.
Am 20. September 2016 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Berlin einen Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Sie ist der Auffassung, es sei nicht nachgewiesen, dass sie - die von ihr bestrittenen - Kick-back-Zahlungen in der behaupteten Höhe erhalten habe. Der Antragsgegner trage insoweit die Beweislast. Sie habe dem Pflegedienst in vollem Umfang vertraut und habe keine Veranlassung gehabt, an der Redlichkeit des Pflegedienstes zu zweifeln. Sie habe über die erhaltenen Pflegedienstleistungen kein Buch geführt und soweit eine Unterschrift ihrerseits erforderlich war, habe sie diese im Vertrauen auf die richtigen Angaben des Pflegedienstes geleistet.
Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 6. September 2016 gegen den Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 anzuordnen,
die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung anzuordnen und dem Antragsgegner aufzugeben, den einbehaltenen Betrag auszuzahlen,
ihr für das vorliegende Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Anträge abzulehnen.
Der Antragsgegner ist der Auffassung, die angegriffenen Entscheidungen seien rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Gericht vorlagen.
II.
Die Anträge der Antragstellerin sind zulässig, aber unbegründet.
Der unter Ziffer 1 gestellte Antrag der Antragstellerin ist als Antrag gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Nach dieser Vorschrift können die Gerichte auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Widerspruch der Antragstellerin vom 6. September 2016 gegen den Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 hat gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG keine aufschiebende Wirkung, da der Antragsgegner die sofortige Vollziehung in dem Bescheid angeordnet hat.
Der unter Ziffer 2 gestellte Antrag der Antragstellerin ist als Antrag gemäß § 86b Abs. 1 S. 2 SGG zulässig. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt wurde. Aufgrund der (laufenden) Aufrechnung mit den gewährten Grundsicherungsleistungen ist der Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 (zumindest teilweise) bereits vollzogen.
Der unter Ziffer 1 gestellte Antrag der Antragstellerin ist unbegründet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 6. September 2016 ist nicht anzuordnen, da die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides des Antragsgegners vom 11. August 2016 formell rechtmäßig ist (hierzu unter A)) und das öffentliche Vollzugsinteresse – d. h. das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides – gegenüber dem privaten Aussetzungsinteresse – d. h. dem Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der Vollziehung des Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache – überwiegt (hierzu unter B).
A) Gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5, 1. Alt. SGG kann die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen hat, in den Fällen die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse ist. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist eine Ausnahme vom Regelfall des § 86a Abs. 1 SGG. Nach dieser Vorschrift hat ein Rechtsbehelf grundsätzlich selbst dann aufschiebende Wirkung, wenn die angegriffene Verwaltungsentscheidung rechtmäßig ist. Für die Vollziehungsanordnung ist deshalb ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, welches den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts z. B. in, NVwZ 1996, 58, 59 mit weiteren Nachweisen). Das besondere öffentliche Interesse muss gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen. Auch fiskalische Interessen können dabei ein besonderes öffentliches Interesse begründen, jedoch bei Geldforderungen nur dann, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint. Der Antragsgegner hat das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung umfangreich auf den Seiten 5 – 7 des Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides schriftlich unter Bezugnahme auf den konkreten Einzelfall begründet. Hierbei stellt der Antragsgegner u. a. auf die Gefährdung einer späteren Realisierung des Erstattungsanspruches, die deliktische Natur des Handelns der Antragstellerin, eine potentielle Wiederholungsgefahr bei mangelnder Konsequenz seitens der Behörde, die Ziele der dem Bescheid zugrunde liegenden Rechtsvorschriften (§ 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bzw. § 26 SGB XII) (Sanktionscharakter und erzieherische Wirkung) und ausnahmsweise generalpräventive Erwägungen aufgrund des Ausmaßes und des Umfang des konkreten Falles (ca. 300 Pflegekundinnen und -kunden sowie Beschäftigte des Pflegedienstes mit einem Schaden in Höhe von mehreren Millionen Euro) ab. Diese schriftliche Begründung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung ist nachvollziehbar und genügt zur Überzeugung des Gerichts den genannten Anforderungen von § 86a Abs. 2 Nr. 5, 1. Alt. SGG. Die besonderen Umstände des Einzelfalles der Antragstellerin erfordern - auch unter Berücksichtigung der Anzahl an betroffenen Leistungsempfängern - eine unmittelbare Reaktion des Sozialhilfeträgers in Form der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Der Antragstellerin – und den weiteren betroffenen Leistungsempfängern – muss durch eine unmittelbare Konsequenz auf ihr Handeln verdeutlicht werden, dass jedwedes kollusives Verhalten mit dem Pflegedienst zum Nachteil eines Sozialhilfeträgers unmittelbar sanktioniert wird. Dies dient zum einen der Vermeidung einer Wiederholung in dem konkreten Einzelfall der Antragstellerin als auch der Prävention weiter solcher Fälle. Darüber hinaus dient dieses Vorgehen dem Schutz des Sozialversicherungsystems, der öffentlichen Hand und damit der Gesamtheit der Steuerzahler, woran ein besonderes öffentliches Interesse besteht, da sie als Ausprägung des gesellschaftlichen Solidargedankens vor Missbrauch in besonderem Maße zu schützen sind. Zur Überzeugung des Gerichts rechtfertigt das Ausmaß des Leistungsmissbrauchs und Abrechnungsbetrugs in der ambulanten Pflege der vorliegend in Rede steht, nicht nur, dass ausnahmsweise auch auf solche generalpräventiven Erwägungen abzustellen ist. Vielmehr muss zur Überzeugung des Gerichts in Fällen wie dem hiesigen (auch) auf generalpräventive Erwägungen abgestellt werden. Eine zu enge Auslegung darf nicht zu einer Schutzlosigkeit der Sozialversicherungssysteme, insbesondere der Pflegekasse, sowie des Sozialhilfeträgers gegenüber Missbrauch führen. Der Antragsgegner weist ferner zutreffend darauf hin, dass die Antragstellerin als Leistungsempfängerin etwaige (ungekürzte) Leistungen voraussichtlich verbrauchen wird, sollte von einer sofortigen Vollziehung abgesehen werden. Eine zukünftige Erstattung könnte demnach allenfalls über eine (spätere) Aufrechnung mit zukünftigen der Antragstellerin zu gewährenden Grundsicherungsleistungen erfolgen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der zu erstattende Betrag in Höhe von 1.125,00 Euro bei einer monatlichen Aufrechnungsrate von 73,00 Euro erst nach über 15 Monaten zurückgezahlt sein wird. Angesichts des Alters der Antragstellerin (67 Jahre) und der zu erwartenden Dauer eines sich ggf. anschließenden sozialgerichtlichen (Hauptsache-)Verfahrens ist eine Vollstreckung des geltend gemachten Erstattungsanpruches ernsthaft gefährdet, wenn die Vollziehung erst nach einer letztinstanzlichen Klärung erfolgt. Im hiesigen Verfahren ist es zur Überzeugung des Gerichts im besonderem öffentlichen Interesse, dass die Durchsetzung des Erstattungsanspruches so sicher wie möglich erfolgt und die Allgemeinheit kein Risiko eines etwaigen Ausfalls der Erstattungsforderung trifft. Auch über die vorstehenden Ausführungen hinaus bestehen keine Bedenken an der formellen Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung.
B) Die Interessenabwägung zwischen dem Vollzugs- und dem Aussetzungsinteresse orientiert sich u. a. an den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Sollte sich schon nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren möglichen summarischen Prüfung ergeben, dass der Bescheid offensichtlich rechtmäßig ist, besteht kein überwiegendes schutzwürdiges Interesse der Antragstellerin, von der Vollziehung einstweilen verschont zu bleiben. Andernfalls ordnet das Gericht nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung an, weil am Vollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes in der Regel kein öffentliches Interesse besteht. Bei offenem Ausgang des Hauptsacherechtsbehelfs ist eine Folgenabwägung zwischen den Auswirkungen, die der Sofortvollzug eines rechtswidrigen Bescheides einerseits und die Vollzugsaussetzung eines rechtmäßigen Bescheides andererseits mit sich bringen würden, vorzunehmen. Hierbei ist auch die gesetzliche Wertung, ob ein Rechtsbehelf im konkreten Fall üblicherweise aufschiebende Wirkung hat, zu berücksichtigen.
Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist der Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides des Antragsgegners vom 11. August 2016 zur Überzeugung des Gerichts offensichtlich rechtmäßig.
Rechtsgrundlage der Aufhebung ist § 45 SGB X. Bei dem betroffenen (Leistungs-)Bescheid vom 3. November 2014 (Bl. 121 Verwaltungsakte) (und ggf. weiteren Leistungsbescheiden) handelt es sich um einen begünstigenden Verwaltungsakt im Sinne von § 45 Abs. 1 SGB X. Dieser Verwaltungsakt war (bereits bei seinem Erlass) rechtswidrig und die Antragstellerin kann keinen Vertrauensschutz geltend machen. Die Antragstellerin hat zur Überzeugung des Gerichts bereits lange vor dem Erlass des Bescheides vom 3. November 2014 regelmäßig (d. h. monatlich) Kick-back-Zahlungen in unterschiedlicher Höhe vom Pflegedienst erhalten. Bei den Kick-back-Zahlungen handelt es sich um Einkommen i. S. v. § 82 Abs. 1 SGB XII. Danach gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert. Die wenigen in § 82 Abs. 1 SGB XII genannten Ausnahmen liegen offenkundig nicht vor. Zur Überzeugung des Gerichts sind auch rechtswidrig oder sogar aufgrund einer Straftat erlangte Einkünfte als Einkommen im Sinne von § 82 Abs. 1 SGB XII zu betrachten. Zwar kann der Hilfesuchende nicht auf solche Einkommensquellen verwiesen werden (z. B. im Wege der Selbsthilfe), sobald er aber derartige Einkünfte erzielt, sind sie als Einkommen zu berücksichtigen. Anderenfalls würden rechtswidrig oder aufgrund von Straftaten erzielte Einkünfte gegenüber rechtmäßig erzielten Einkünften privilegiert. Im Ergebnis gehören zum Einkommen alle Einnahmen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und Rechtsnatur sowie ohne Rücksicht darauf, ob sie zu den Einkunftsarten des Einkommenssteuergesetzes gehören oder ob sie der Steuerpflicht unterliegen (vgl. Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage, 2014, § 82 Rn. 16). Ausweislich der durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmten und ausgewerteten Kassenbücher hat die Antragstellerin in der Zeit vom 12. April 2011 bis zum 11. März 2015 insgesamt Kick-back-Zahlungen in Höhe von 12.064,00 Euro erhalten. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Antragstellerin in dem genannten Zeitraum Kick-back-Zahlungen in dieser Höhe zugeflossen sind. Das Gericht hat keine Anhaltspunkte, um an der Auswertung durch die Staatsanwaltschaft zu zweifeln. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum der Pflegedienst ein Kassenbuch führen sollte, in dem illegale Zahlungen an Pflegekundinnen und -kunden dokumentiert sind, wenn solche Zahlungen nicht stattgefunden haben. Angesichts der schieren Masse der von dem Pflegedienst geleisteten Kick-back-Zahlungen (ca. 300 Pflegekundinnen und -kunden sowie Beschäftigte des Pflegedienstes) kann das Gericht allerdings sehr gut nachvollziehen, dass ein solches Kassenbuch erforderlich ist, um den Überblick zu behalten und seine eigene "Wirtschaftlichkeit" zu prüfen. Das Gericht hat daher keine Zweifel an der Richtigkeit der Kassenbücher. Die Einträge in den Kassenbüchern wurden ferner anhand der weiteren beschlagnahmten Unterlagen (z. B. Dienstplänen) zumindest stichprobenartig verifiziert. Die von der Antragstellerin insoweit vorgetragene Erklärung, sie habe dem Pflegedienst in vollem Umfang vertraut und soweit eine Unterschrift ihrerseits erforderlich war, habe sie diese im Vertrauen auf die richtigen Angaben des Pflegedienstes geleistet, ist für das Gericht in keiner Weise nachvollziehbar. Laut dem Abschlussbericht des Landeskriminalamtes vom 10. Juni 2016 wurde die Antragstellerin – nach Auswertung der Dienstpläne – im November 2013 und August 2014 überhaupt nicht gepflegt, obgleich der Pflegedienst gegenüber dem Antragsgegner Pflege im Umfang von einmal täglich unter Vorlage von sog. Leistungsnachweisen abgerechnet hat. Die Antragstellerin kann sich nicht darauf berufen, sie vertraue dem Pflegedienst, wenn sie Pflegenachweise für Monate unterschreibt, in denen überhaupt keine Pflege stattgefunden hat. Die diesbezüglichen Angaben der Antragstellerin sind für das Gericht nicht glaubhaft. Die weiteren zur Glaubhaftmachung der erhaltenen Zahlung eingereichten Unterlagen (z. B. Dienstliche Erklärung der Pflege-Controllerin des Antragsgegners und Auszüge von Zeugenaussagen) verstärken die Gewissheit des Gerichts, dass der Antragstellerin Kick-back-Zahlungen in dem genannten Umfang zugeflossen sind.
Selbst wenn noch Zweifel an dem Erhalt der Kick-back-Zahlungen bestünden – was nicht der Fall ist (vgl. zur Unzuverlässigkeit des Pflegedienstes H. und S.: SG Berlin, Beschlüsse vom 7. Dezember 2015, S 92 SO 2913/15 ER; vom 16. Dezember 2015, S 212 SO 3049/15 ER; vom 27. November 2015 S 86 P 2019/15 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Februar 2016, L 30 P 79/15 B ER) –, würde zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der erheblichen Verdachtsmomente, der Vielzahl an Beweisen und dem Umfang der laufenden Ermittlungen sowie der zahlreichen beim SG Berlin in Eil- und Hauptsacheverfahren anhängigen gleichartigen Sachverhalte eine Beweislastumkehr einsetzen (vgl. BSG-Urteil vom 15. Juni 2016 - B 4 AS 41/15 R – juris). Die Antragstellerin könnte sich im vorliegenden Fall nicht auf einfaches Bestreiten des Erhalts der Kick-back-Zahlungen berufen.
Die Antragstellerin hätte die Kick-back-Zahlungen nach alledem als (anrechenbares) Einkommen angeben müssen. Das Gericht teilt die Auffassung des Antragsgegners, dass dies zumindest grob fahrlässig von der Antragstellerin versäumt wurde, so dass sie sich gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 2 SGB X nicht auf Vertrauensschutz berufen kann. Der Antragstellerin war bekannt, dass Einkünfte auf ihre Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII angerechnet werden, so wurde z. B. die Rente der Antragstellerin angerechnet. Die Antragstellerin wurde zudem wiederholt darauf hingewiesen (beginnend mit dem Antragsformular), dass alle Einkünfte anzugeben sind.
Der Antragsgegner durfte demnach den (bestandskräftigen) (Leistungs-)Bescheid vom 3. November 2014 auch für die Vergangenheit zurücknehmen. Das ihm hierbei eingeräumte Ermessen hat er ordnungsgemäß ausgeübt (siehe Seite 3 des Bescheides). Etwaige Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.
Letztlich sind auch die Erstattungsforderung sowie die vorgenommene Aufrechnung nicht zu beanstanden. Zutreffend verweist der Antragsgegner in Bezug auf die Erstattungsforderung auf § 50 Abs. 1 SGB X. Die Höhe der geltend gemachten Erstattungsforderung ist zutreffend und wird auch von der Antragstellerin nicht in Zweifel gezogen. Die Höhe entspricht dem in den Monaten November 2014 bis Februar 2015 aufgrund der Kick-back-Zahlungen erzielten Einkommen von insgesamt 1.125,00 Euro. Das in dem jeweiligen Monat erzielte Einkommen war stets weniger als die der Antragstellerin für den jeweiligen Monat gewährte Leistung, so dass es richtigerweise in voller Höhe anzurechnen ist, was zu einer Erstattungsforderung in Höhe des (vollständigen) erzielten Einkommens führt. Gemäß § 26 Abs. 2 SGB XII kann die Leistung bis auf das jeweils Unerlässliche mit Ansprüchen des Trägers der Sozialhilfe gegen eine leistungsberechtigte Person aufgerechnet werden, u.a. wenn es sich um Ansprüche auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen der Sozialhilfe handelt, die die leistungsberechtigte Person oder ihr Vertreter durch vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben oder durch pflichtwidriges Unterlassen veranlasst hat. Wie bereits erläutert handelt es sich vorliegend um zu Unrecht erbrachte Leistungen der Sozialhilfe, die die leistungsberechtigte Person (also die Antragstellerin) zumindest durch grob fahrlässig unrichtige bzw. unvollständige Angaben veranlasst hat (insoweit s. o.). Der Antragsgegner hat vorliegend in Höhe von 73,00 Euro monatlich aufgerechnet. Dies entspricht (um 0,2 Euro aufgerundet) 20 Prozent der für die Antragstellerin maßgeblichen Regelbedarfsstufe 2 in Höhe von 364,00 Euro. Zur Überzeugung des Gerichts hat der Antragsgegner die Leistung der Antragstellerin durch eine Aufrechnung in dieser Höhe nicht unter das zum Lebensunterhalt Unerlässliche herabgesetzt. Das Gericht geht davon aus, dass in der Regel eine Kürzung bzw. Herabsetzung um bis zu 25 vom Hundert der jeweils maßgebenden Regelbedarfssätze zulässig ist, bevor das zum Lebensunterhalt Unerlässliche unterschritten wird. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus § 39a SGB XII, der unter gewissen Umständen in einer ersten Stufe eine Verminderung in dieser Höhe vorsieht (so auch, Streichsbier, in: Grube/Wahrendorf, a.a.O., § 26 Rn. 18 m. w. N.). Das Gericht kann vorliegend keine Umstände erkennen, wonach bei der Antragstellerin aufgrund ihrer persönlichen Situation lediglich eine geringere Aufrechnung möglich sein soll, da ansonsten das zum Lebensunterhalt Unerlässliche in ihrem Fall unterschritten wird. Solche Umstände hat die Antragstellerin auch nicht vorgetragen, sondern vielmehr auf den Verlust von Lebensqualität hingewiesen, den eine Aufrechnung/ Kürzung auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche für sie bedeutet. Es ist einer Aufrechnung/ Kürzung auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche immanent, dass hierdurch ein Verlust an Lebensqualität eintritt. Dieser Umstand an sich kann daher nicht dazu führen, dass eine solche Aufrechnung für die Antragstellerin unzumutbar ist. Die Antragstellerin hat – wie erläutert - keine Umstände vorgetragen, die auf eine Unzumutbarkeit der konkreten Aufrechnung schließen lassen (wie z. B. besondere Belastungen, die nicht durch gewährte Mehrbedarfe abgedeckt sind). Solche Umstände sind der Verwaltungsakte des Antragsgegners auch nicht zu entnehmen. In Bezug auf die Aufrechnung hat der Antragsgegner letztlich das ihm eingeräumte Ermessen ebenfalls beanstandungsfrei ausgeübt (Seiten 4 und 5 des Bescheides). Im Rahmen seines Ermessens hat der Antragsgegner insbesondere auch die individuelle Lebenssituation der Antragstellerin berücksichtigt.
Bei dem unter Ziffer 2 gestellten Antrag der Antragstellerin handelt es sich um einen Annex-Antrag zu dem Antrag unter Ziffer 1 der dessen Schicksal teilt und mithin ebenfalls unbegründet ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe war mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags abzulehnen.
Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 6. September 2016 gegen den Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 wird abgelehnt.
Der Antrag auf Anordnung der Aufhebung der Vollziehung und Verpflichtung zur Auszahlung des einbehaltenen Betrages wird abgelehnt.
Außergerichtliche Kosten haben sich die Beteiligten nicht zu erstatten.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten wird abgelehnt.
Gründe:
I.
Die Antragstellerin begehrt im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes die Anordnung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruches vom 6. September 2016 gegen den Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 sowie die Anordnung der Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung und Verpflichtung zur Auszahlung des einbehaltenen Betrages.
Die 1949 geborene Antragstellerin bezieht von dem Antragsgegner Leistungen der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach den §§ 41 ff. Zwölftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB XII).
Im Rahmen von strafrechtlichen Ermittlungen gegen die Geschäftsführer des Pflegedienstes M. H. und S. GmbH (nachfolgend Pflegedienst) wurden u. a Kassenbücher und Dienstpläne ("Autotouren") für die Pflegekräfte durch die Staatsanwaltschaft sichergestellt, aus denen sich ergibt, dass eine Vielzahl von Patienten (mehrere hundert Patienten) dieses Pflegedienstes (einschließlich der Antragstellerin) Pflegedienstleistungen bestätigten, die der Pflegedienst gar nicht oder in erheblich geringeren Umfang erbrachte. Als Gegenleistung erhielten die betroffenen Patienten (einschließlich der Antragstellerin) monatlich eine Kick-back-Zahlung, deren Höhe vom Aufwand für den Pflegedienst und der entsprechenden Pflegestufe für den Patienten abhing.
Aus den sichergestellten Unterlagen ergibt sich, dass die Antragstellerin u. a. die folgenden Kick-back Zahlungen von dem Pflegedienst erhalten hat:
November 2014: 264,00 Euro; Dezember 2014: 336,00 Euro; Januar 2015: 280,00 Euro; Februar 2015: 245,00 Euro
Nach Anhörung der Antragstellerin erlies der Antragsgegner am 11. August 2016 einen Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid, mit dem der Antragsgegner sämtliche Bescheide, mit denen der Antragstellerin Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung für die Zeit von November 2014 bis Februar 2015 gewährt wurden, insoweit zurücknahm, als dort Einkünfte in Höhe von monatlich 264,00 Euro (November 2014), 336,00 Euro (Dezember 2014), 280,00 Euro (Januar 2015) und 245,00 Euro (Februar 2015) nicht angerechnet wurden. Ferner forderte der Antragsgegner die Erstattung der zu viel empfangenen Grundsicherungsleistungen in Höhe von 1.125,00 Euro und rechnete ab dem 1. September 2016 mit seinem Erstattungsanspruch in Höhe von 73,00 Euro monatlich gegen den Anspruch der Antragstellerin auf Grundsicherungsleistungen auf. Letztlich ordnete der Antragsgegner die sofortige Vollziehung in Bezug auf die Rücknahme, Erstattung und Aufrechnung an. Gegen diesen Bescheid erhob die Antragstellerin am 6. September 2016 Widerspruch.
Am 20. September 2016 hat die Antragstellerin bei dem Sozialgericht Berlin einen Antrag im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Sie ist der Auffassung, es sei nicht nachgewiesen, dass sie - die von ihr bestrittenen - Kick-back-Zahlungen in der behaupteten Höhe erhalten habe. Der Antragsgegner trage insoweit die Beweislast. Sie habe dem Pflegedienst in vollem Umfang vertraut und habe keine Veranlassung gehabt, an der Redlichkeit des Pflegedienstes zu zweifeln. Sie habe über die erhaltenen Pflegedienstleistungen kein Buch geführt und soweit eine Unterschrift ihrerseits erforderlich war, habe sie diese im Vertrauen auf die richtigen Angaben des Pflegedienstes geleistet.
Die Antragstellerin beantragt,
die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 6. September 2016 gegen den Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 anzuordnen,
die Aufhebung der bereits erfolgten Vollziehung anzuordnen und dem Antragsgegner aufzugeben, den einbehaltenen Betrag auszuzahlen,
ihr für das vorliegende Verfahren Prozesskostenhilfe unter Beiordnung des Prozessbevollmächtigten zu bewilligen.
Der Antragsgegner beantragt,
die Anträge abzulehnen.
Der Antragsgegner ist der Auffassung, die angegriffenen Entscheidungen seien rechtmäßig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie der Verwaltungsakte des Antragsgegners verwiesen, die dem Gericht vorlagen.
II.
Die Anträge der Antragstellerin sind zulässig, aber unbegründet.
Der unter Ziffer 1 gestellte Antrag der Antragstellerin ist als Antrag gemäß § 86b Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Nach dieser Vorschrift können die Gerichte auf Antrag in den Fällen, in denen Widerspruch oder Anfechtungsklage keine aufschiebende Wirkung haben, die aufschiebende Wirkung ganz oder teilweise anordnen. Der Widerspruch der Antragstellerin vom 6. September 2016 gegen den Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 hat gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5 SGG keine aufschiebende Wirkung, da der Antragsgegner die sofortige Vollziehung in dem Bescheid angeordnet hat.
Der unter Ziffer 2 gestellte Antrag der Antragstellerin ist als Antrag gemäß § 86b Abs. 1 S. 2 SGG zulässig. Nach dieser Vorschrift kann das Gericht die Aufhebung der Vollziehung anordnen, wenn der Verwaltungsakt im Zeitpunkt der Entscheidung schon vollzogen oder befolgt wurde. Aufgrund der (laufenden) Aufrechnung mit den gewährten Grundsicherungsleistungen ist der Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheid des Antragsgegners vom 11. August 2016 (zumindest teilweise) bereits vollzogen.
Der unter Ziffer 1 gestellte Antrag der Antragstellerin ist unbegründet. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 6. September 2016 ist nicht anzuordnen, da die Anordnung der sofortigen Vollziehung des Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides des Antragsgegners vom 11. August 2016 formell rechtmäßig ist (hierzu unter A)) und das öffentliche Vollzugsinteresse – d. h. das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides – gegenüber dem privaten Aussetzungsinteresse – d. h. dem Interesse der Antragstellerin an der Aussetzung der Vollziehung des Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache – überwiegt (hierzu unter B).
A) Gemäß § 86a Abs. 2 Nr. 5, 1. Alt. SGG kann die Stelle, die den Verwaltungsakt erlassen hat, in den Fällen die sofortige Vollziehung mit schriftlicher Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung anordnen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse ist. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung ist eine Ausnahme vom Regelfall des § 86a Abs. 1 SGG. Nach dieser Vorschrift hat ein Rechtsbehelf grundsätzlich selbst dann aufschiebende Wirkung, wenn die angegriffene Verwaltungsentscheidung rechtmäßig ist. Für die Vollziehungsanordnung ist deshalb ein besonderes öffentliches Interesse erforderlich, das über jenes Interesse hinausgeht, welches den Verwaltungsakt selbst rechtfertigt (ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts z. B. in, NVwZ 1996, 58, 59 mit weiteren Nachweisen). Das besondere öffentliche Interesse muss gerade an der sofortigen Vollziehung bestehen. Auch fiskalische Interessen können dabei ein besonderes öffentliches Interesse begründen, jedoch bei Geldforderungen nur dann, wenn deren Vollstreckung gefährdet erscheint. Der Antragsgegner hat das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung umfangreich auf den Seiten 5 – 7 des Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides schriftlich unter Bezugnahme auf den konkreten Einzelfall begründet. Hierbei stellt der Antragsgegner u. a. auf die Gefährdung einer späteren Realisierung des Erstattungsanspruches, die deliktische Natur des Handelns der Antragstellerin, eine potentielle Wiederholungsgefahr bei mangelnder Konsequenz seitens der Behörde, die Ziele der dem Bescheid zugrunde liegenden Rechtsvorschriften (§ 45 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) bzw. § 26 SGB XII) (Sanktionscharakter und erzieherische Wirkung) und ausnahmsweise generalpräventive Erwägungen aufgrund des Ausmaßes und des Umfang des konkreten Falles (ca. 300 Pflegekundinnen und -kunden sowie Beschäftigte des Pflegedienstes mit einem Schaden in Höhe von mehreren Millionen Euro) ab. Diese schriftliche Begründung des besonderen öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollziehung ist nachvollziehbar und genügt zur Überzeugung des Gerichts den genannten Anforderungen von § 86a Abs. 2 Nr. 5, 1. Alt. SGG. Die besonderen Umstände des Einzelfalles der Antragstellerin erfordern - auch unter Berücksichtigung der Anzahl an betroffenen Leistungsempfängern - eine unmittelbare Reaktion des Sozialhilfeträgers in Form der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Der Antragstellerin – und den weiteren betroffenen Leistungsempfängern – muss durch eine unmittelbare Konsequenz auf ihr Handeln verdeutlicht werden, dass jedwedes kollusives Verhalten mit dem Pflegedienst zum Nachteil eines Sozialhilfeträgers unmittelbar sanktioniert wird. Dies dient zum einen der Vermeidung einer Wiederholung in dem konkreten Einzelfall der Antragstellerin als auch der Prävention weiter solcher Fälle. Darüber hinaus dient dieses Vorgehen dem Schutz des Sozialversicherungsystems, der öffentlichen Hand und damit der Gesamtheit der Steuerzahler, woran ein besonderes öffentliches Interesse besteht, da sie als Ausprägung des gesellschaftlichen Solidargedankens vor Missbrauch in besonderem Maße zu schützen sind. Zur Überzeugung des Gerichts rechtfertigt das Ausmaß des Leistungsmissbrauchs und Abrechnungsbetrugs in der ambulanten Pflege der vorliegend in Rede steht, nicht nur, dass ausnahmsweise auch auf solche generalpräventiven Erwägungen abzustellen ist. Vielmehr muss zur Überzeugung des Gerichts in Fällen wie dem hiesigen (auch) auf generalpräventive Erwägungen abgestellt werden. Eine zu enge Auslegung darf nicht zu einer Schutzlosigkeit der Sozialversicherungssysteme, insbesondere der Pflegekasse, sowie des Sozialhilfeträgers gegenüber Missbrauch führen. Der Antragsgegner weist ferner zutreffend darauf hin, dass die Antragstellerin als Leistungsempfängerin etwaige (ungekürzte) Leistungen voraussichtlich verbrauchen wird, sollte von einer sofortigen Vollziehung abgesehen werden. Eine zukünftige Erstattung könnte demnach allenfalls über eine (spätere) Aufrechnung mit zukünftigen der Antragstellerin zu gewährenden Grundsicherungsleistungen erfolgen. Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der zu erstattende Betrag in Höhe von 1.125,00 Euro bei einer monatlichen Aufrechnungsrate von 73,00 Euro erst nach über 15 Monaten zurückgezahlt sein wird. Angesichts des Alters der Antragstellerin (67 Jahre) und der zu erwartenden Dauer eines sich ggf. anschließenden sozialgerichtlichen (Hauptsache-)Verfahrens ist eine Vollstreckung des geltend gemachten Erstattungsanpruches ernsthaft gefährdet, wenn die Vollziehung erst nach einer letztinstanzlichen Klärung erfolgt. Im hiesigen Verfahren ist es zur Überzeugung des Gerichts im besonderem öffentlichen Interesse, dass die Durchsetzung des Erstattungsanspruches so sicher wie möglich erfolgt und die Allgemeinheit kein Risiko eines etwaigen Ausfalls der Erstattungsforderung trifft. Auch über die vorstehenden Ausführungen hinaus bestehen keine Bedenken an der formellen Rechtmäßigkeit der Anordnung der sofortigen Vollziehung.
B) Die Interessenabwägung zwischen dem Vollzugs- und dem Aussetzungsinteresse orientiert sich u. a. an den Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Sollte sich schon nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren möglichen summarischen Prüfung ergeben, dass der Bescheid offensichtlich rechtmäßig ist, besteht kein überwiegendes schutzwürdiges Interesse der Antragstellerin, von der Vollziehung einstweilen verschont zu bleiben. Andernfalls ordnet das Gericht nach § 86b Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SGG die aufschiebende Wirkung an, weil am Vollzug eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes in der Regel kein öffentliches Interesse besteht. Bei offenem Ausgang des Hauptsacherechtsbehelfs ist eine Folgenabwägung zwischen den Auswirkungen, die der Sofortvollzug eines rechtswidrigen Bescheides einerseits und die Vollzugsaussetzung eines rechtmäßigen Bescheides andererseits mit sich bringen würden, vorzunehmen. Hierbei ist auch die gesetzliche Wertung, ob ein Rechtsbehelf im konkreten Fall üblicherweise aufschiebende Wirkung hat, zu berücksichtigen.
Nach der im vorläufigen Rechtsschutzverfahren gebotenen summarischen Prüfung ist der Rücknahme-, Erstattungs- und Aufrechnungsbescheides des Antragsgegners vom 11. August 2016 zur Überzeugung des Gerichts offensichtlich rechtmäßig.
Rechtsgrundlage der Aufhebung ist § 45 SGB X. Bei dem betroffenen (Leistungs-)Bescheid vom 3. November 2014 (Bl. 121 Verwaltungsakte) (und ggf. weiteren Leistungsbescheiden) handelt es sich um einen begünstigenden Verwaltungsakt im Sinne von § 45 Abs. 1 SGB X. Dieser Verwaltungsakt war (bereits bei seinem Erlass) rechtswidrig und die Antragstellerin kann keinen Vertrauensschutz geltend machen. Die Antragstellerin hat zur Überzeugung des Gerichts bereits lange vor dem Erlass des Bescheides vom 3. November 2014 regelmäßig (d. h. monatlich) Kick-back-Zahlungen in unterschiedlicher Höhe vom Pflegedienst erhalten. Bei den Kick-back-Zahlungen handelt es sich um Einkommen i. S. v. § 82 Abs. 1 SGB XII. Danach gehören zum Einkommen alle Einkünfte in Geld oder Geldeswert. Die wenigen in § 82 Abs. 1 SGB XII genannten Ausnahmen liegen offenkundig nicht vor. Zur Überzeugung des Gerichts sind auch rechtswidrig oder sogar aufgrund einer Straftat erlangte Einkünfte als Einkommen im Sinne von § 82 Abs. 1 SGB XII zu betrachten. Zwar kann der Hilfesuchende nicht auf solche Einkommensquellen verwiesen werden (z. B. im Wege der Selbsthilfe), sobald er aber derartige Einkünfte erzielt, sind sie als Einkommen zu berücksichtigen. Anderenfalls würden rechtswidrig oder aufgrund von Straftaten erzielte Einkünfte gegenüber rechtmäßig erzielten Einkünften privilegiert. Im Ergebnis gehören zum Einkommen alle Einnahmen ohne Rücksicht auf ihre Herkunft und Rechtsnatur sowie ohne Rücksicht darauf, ob sie zu den Einkunftsarten des Einkommenssteuergesetzes gehören oder ob sie der Steuerpflicht unterliegen (vgl. Wahrendorf, in: Grube/Wahrendorf, SGB XII, 5. Auflage, 2014, § 82 Rn. 16). Ausweislich der durch die Staatsanwaltschaft beschlagnahmten und ausgewerteten Kassenbücher hat die Antragstellerin in der Zeit vom 12. April 2011 bis zum 11. März 2015 insgesamt Kick-back-Zahlungen in Höhe von 12.064,00 Euro erhalten. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Antragstellerin in dem genannten Zeitraum Kick-back-Zahlungen in dieser Höhe zugeflossen sind. Das Gericht hat keine Anhaltspunkte, um an der Auswertung durch die Staatsanwaltschaft zu zweifeln. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum der Pflegedienst ein Kassenbuch führen sollte, in dem illegale Zahlungen an Pflegekundinnen und -kunden dokumentiert sind, wenn solche Zahlungen nicht stattgefunden haben. Angesichts der schieren Masse der von dem Pflegedienst geleisteten Kick-back-Zahlungen (ca. 300 Pflegekundinnen und -kunden sowie Beschäftigte des Pflegedienstes) kann das Gericht allerdings sehr gut nachvollziehen, dass ein solches Kassenbuch erforderlich ist, um den Überblick zu behalten und seine eigene "Wirtschaftlichkeit" zu prüfen. Das Gericht hat daher keine Zweifel an der Richtigkeit der Kassenbücher. Die Einträge in den Kassenbüchern wurden ferner anhand der weiteren beschlagnahmten Unterlagen (z. B. Dienstplänen) zumindest stichprobenartig verifiziert. Die von der Antragstellerin insoweit vorgetragene Erklärung, sie habe dem Pflegedienst in vollem Umfang vertraut und soweit eine Unterschrift ihrerseits erforderlich war, habe sie diese im Vertrauen auf die richtigen Angaben des Pflegedienstes geleistet, ist für das Gericht in keiner Weise nachvollziehbar. Laut dem Abschlussbericht des Landeskriminalamtes vom 10. Juni 2016 wurde die Antragstellerin – nach Auswertung der Dienstpläne – im November 2013 und August 2014 überhaupt nicht gepflegt, obgleich der Pflegedienst gegenüber dem Antragsgegner Pflege im Umfang von einmal täglich unter Vorlage von sog. Leistungsnachweisen abgerechnet hat. Die Antragstellerin kann sich nicht darauf berufen, sie vertraue dem Pflegedienst, wenn sie Pflegenachweise für Monate unterschreibt, in denen überhaupt keine Pflege stattgefunden hat. Die diesbezüglichen Angaben der Antragstellerin sind für das Gericht nicht glaubhaft. Die weiteren zur Glaubhaftmachung der erhaltenen Zahlung eingereichten Unterlagen (z. B. Dienstliche Erklärung der Pflege-Controllerin des Antragsgegners und Auszüge von Zeugenaussagen) verstärken die Gewissheit des Gerichts, dass der Antragstellerin Kick-back-Zahlungen in dem genannten Umfang zugeflossen sind.
Selbst wenn noch Zweifel an dem Erhalt der Kick-back-Zahlungen bestünden – was nicht der Fall ist (vgl. zur Unzuverlässigkeit des Pflegedienstes H. und S.: SG Berlin, Beschlüsse vom 7. Dezember 2015, S 92 SO 2913/15 ER; vom 16. Dezember 2015, S 212 SO 3049/15 ER; vom 27. November 2015 S 86 P 2019/15 ER; LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 16. Februar 2016, L 30 P 79/15 B ER) –, würde zur Überzeugung des Gerichts aufgrund der erheblichen Verdachtsmomente, der Vielzahl an Beweisen und dem Umfang der laufenden Ermittlungen sowie der zahlreichen beim SG Berlin in Eil- und Hauptsacheverfahren anhängigen gleichartigen Sachverhalte eine Beweislastumkehr einsetzen (vgl. BSG-Urteil vom 15. Juni 2016 - B 4 AS 41/15 R – juris). Die Antragstellerin könnte sich im vorliegenden Fall nicht auf einfaches Bestreiten des Erhalts der Kick-back-Zahlungen berufen.
Die Antragstellerin hätte die Kick-back-Zahlungen nach alledem als (anrechenbares) Einkommen angeben müssen. Das Gericht teilt die Auffassung des Antragsgegners, dass dies zumindest grob fahrlässig von der Antragstellerin versäumt wurde, so dass sie sich gemäß § 45 Abs. 2 Nr. 2 SGB X nicht auf Vertrauensschutz berufen kann. Der Antragstellerin war bekannt, dass Einkünfte auf ihre Leistungen nach dem 4. Kapitel des SGB XII angerechnet werden, so wurde z. B. die Rente der Antragstellerin angerechnet. Die Antragstellerin wurde zudem wiederholt darauf hingewiesen (beginnend mit dem Antragsformular), dass alle Einkünfte anzugeben sind.
Der Antragsgegner durfte demnach den (bestandskräftigen) (Leistungs-)Bescheid vom 3. November 2014 auch für die Vergangenheit zurücknehmen. Das ihm hierbei eingeräumte Ermessen hat er ordnungsgemäß ausgeübt (siehe Seite 3 des Bescheides). Etwaige Ermessensfehler sind nicht ersichtlich.
Letztlich sind auch die Erstattungsforderung sowie die vorgenommene Aufrechnung nicht zu beanstanden. Zutreffend verweist der Antragsgegner in Bezug auf die Erstattungsforderung auf § 50 Abs. 1 SGB X. Die Höhe der geltend gemachten Erstattungsforderung ist zutreffend und wird auch von der Antragstellerin nicht in Zweifel gezogen. Die Höhe entspricht dem in den Monaten November 2014 bis Februar 2015 aufgrund der Kick-back-Zahlungen erzielten Einkommen von insgesamt 1.125,00 Euro. Das in dem jeweiligen Monat erzielte Einkommen war stets weniger als die der Antragstellerin für den jeweiligen Monat gewährte Leistung, so dass es richtigerweise in voller Höhe anzurechnen ist, was zu einer Erstattungsforderung in Höhe des (vollständigen) erzielten Einkommens führt. Gemäß § 26 Abs. 2 SGB XII kann die Leistung bis auf das jeweils Unerlässliche mit Ansprüchen des Trägers der Sozialhilfe gegen eine leistungsberechtigte Person aufgerechnet werden, u.a. wenn es sich um Ansprüche auf Erstattung zu Unrecht erbrachter Leistungen der Sozialhilfe handelt, die die leistungsberechtigte Person oder ihr Vertreter durch vorsätzlich oder grob fahrlässig unrichtige oder unvollständige Angaben oder durch pflichtwidriges Unterlassen veranlasst hat. Wie bereits erläutert handelt es sich vorliegend um zu Unrecht erbrachte Leistungen der Sozialhilfe, die die leistungsberechtigte Person (also die Antragstellerin) zumindest durch grob fahrlässig unrichtige bzw. unvollständige Angaben veranlasst hat (insoweit s. o.). Der Antragsgegner hat vorliegend in Höhe von 73,00 Euro monatlich aufgerechnet. Dies entspricht (um 0,2 Euro aufgerundet) 20 Prozent der für die Antragstellerin maßgeblichen Regelbedarfsstufe 2 in Höhe von 364,00 Euro. Zur Überzeugung des Gerichts hat der Antragsgegner die Leistung der Antragstellerin durch eine Aufrechnung in dieser Höhe nicht unter das zum Lebensunterhalt Unerlässliche herabgesetzt. Das Gericht geht davon aus, dass in der Regel eine Kürzung bzw. Herabsetzung um bis zu 25 vom Hundert der jeweils maßgebenden Regelbedarfssätze zulässig ist, bevor das zum Lebensunterhalt Unerlässliche unterschritten wird. Dies ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts aus § 39a SGB XII, der unter gewissen Umständen in einer ersten Stufe eine Verminderung in dieser Höhe vorsieht (so auch, Streichsbier, in: Grube/Wahrendorf, a.a.O., § 26 Rn. 18 m. w. N.). Das Gericht kann vorliegend keine Umstände erkennen, wonach bei der Antragstellerin aufgrund ihrer persönlichen Situation lediglich eine geringere Aufrechnung möglich sein soll, da ansonsten das zum Lebensunterhalt Unerlässliche in ihrem Fall unterschritten wird. Solche Umstände hat die Antragstellerin auch nicht vorgetragen, sondern vielmehr auf den Verlust von Lebensqualität hingewiesen, den eine Aufrechnung/ Kürzung auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche für sie bedeutet. Es ist einer Aufrechnung/ Kürzung auf das zum Lebensunterhalt Unerlässliche immanent, dass hierdurch ein Verlust an Lebensqualität eintritt. Dieser Umstand an sich kann daher nicht dazu führen, dass eine solche Aufrechnung für die Antragstellerin unzumutbar ist. Die Antragstellerin hat – wie erläutert - keine Umstände vorgetragen, die auf eine Unzumutbarkeit der konkreten Aufrechnung schließen lassen (wie z. B. besondere Belastungen, die nicht durch gewährte Mehrbedarfe abgedeckt sind). Solche Umstände sind der Verwaltungsakte des Antragsgegners auch nicht zu entnehmen. In Bezug auf die Aufrechnung hat der Antragsgegner letztlich das ihm eingeräumte Ermessen ebenfalls beanstandungsfrei ausgeübt (Seiten 4 und 5 des Bescheides). Im Rahmen seines Ermessens hat der Antragsgegner insbesondere auch die individuelle Lebenssituation der Antragstellerin berücksichtigt.
Bei dem unter Ziffer 2 gestellten Antrag der Antragstellerin handelt es sich um einen Annex-Antrag zu dem Antrag unter Ziffer 1 der dessen Schicksal teilt und mithin ebenfalls unbegründet ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe war mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags abzulehnen.
RechtsgebietSozialhilfe