26.04.2018 · IWW-Abrufnummer 200902
Bundessozialgericht: Urteil vom 14.05.1991 – 5 RJ 32/90
Ein Antrag nach § 109 SGG kann nicht im Berufungsverfahren als verspätet zurückgewiesen werden, weil er von dem SG mit dieser Begründung hätte zurückgewiesen werden können.
Bundessozialgericht
Urt. v. 14.05.1991
Az.: 5 RJ 32/90
Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 1991 in München
durch
den Vorsitzenden Richter Burger,
die Richter Bender und Balzer sowie
die ehrenamtlichen Richter Nitsche und Nollen
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. März 1990 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand und Entscheidungsgründe
1
I
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit (EU bzw BU).
2
Der 1935 geborene Kläger hat in Italien in der Landwirtschaft und im Straßenbau gearbeitet. Seit 1965 arbeitete er in der Bundesrepublik als Zuschneider und Färbereihilfsarbeiter in einem Textilwerk. Seit März 1986 ist er arbeitslos und bezieht Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Seinen Rentenantrag von April 1987 lehnte die Beklagte ab. Sie vertrat die Ansicht, aufgrund der ärztlichen Begutachtungen könne der Kläger noch vollschichtig leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten (Bescheid vom 20. November 1987).
3
Die Klage wies das Sozialgericht (SG) ab. Im Verfahren vor dem SG wurde eine schriftliche Erklärung des Hausarztes als sachverständigen Zeugen eingeholt sowie ein nervenfachärztliches Gutachten eines Arztes für Neurologie und Psychiatrie. Das zuletzt genannte Gutachten war dem Kläger am 11. April 1989 zugleich mit dem Hinweis übersandt worden, daß nicht beabsichtigt sei, weitere Ermittlungen von Amts wegen anzustellen. Das SG wies auf § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hin und bat um eine entsprechende Äußerung bis spätestens 20. Mai 1989. Bis zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 24. Mai 1989 und in diesem Termin wurde kein Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG gestellt.
4
Im Berufungsverfahren ist von dem Kläger das Gutachten beanstandet, die Einholung eines weiteren psychiatrischen Gutachtens nach § 106 SGG und hilfsweise die Einholung eines solchen Gutachtens nach § 109 SGG beantragt worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Dem Antrag nach § 109 SGG hat es nicht stattgegeben (Urteil vom 21. März 1990). Dazu hat es ausgeführt, zwar habe der Kläger Anspruch auf Anhörung eines bestimmten Arztes; dieses Recht bestehe aber nach § 109 Abs 2 SGG dann nicht, wenn die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden sei. Eine erneute Untersuchung und Begutachtung würde die Erledigung des Rechtsstreits verzögern. Es sei nicht von der hypothetischen Dauer des Verfahrens mit einer Begutachtung nach § 109 SGG in erster Instanz, sondern von der tatsächlichen Dauer des Verfahrens ohne eine solche Begutachtung auszugehen. Nach Auffassung des Senats sei der Antrag auch aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden. Nachdem das SG den rechtskundigen Prozeßvertreter des Klägers auf eine mögliche Antragstellung nach § 109 SGG hingewiesen und hierfür eine etwa fünfwöchige Frist eingeräumt habe, verstoße es in besonderem Maße gegen die im Rechtsverkehr erforderliche Sorgfalt, einen etwa ins Auge gefaßten Antrag (auch in der mündlichen Verhandlung) nicht vorzubringen. Dieses Fristversäumnis könne dem Kläger auch noch in der Berufungsinstanz entgegengehalten werden. Aus dem Wortlaut von § 109 SGG sei ein Wiederaufleben des Antragsrechts in der Berufungsinstanz nicht herzuleiten. Die Gegenmeinung hätte zur Folge, daß dasselbe Verhalten, das vom SG bei der Ablehnung eines verspätet gestellten Antrags als Nachlässigkeit gewertet werden müßte, vom Berufungsgericht als irrelevant zu behandeln wäre. Der Anspruch aus § 109 SGG entstehe im Instanzenzug nur einmal und könne deshalb bei grob fahrlässiger Fristversäumnis im ersten Rechtszug auch im Berufungsverfahren noch abgelehnt werden.
5
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene -Revision des Klägers.
6
Der Kläger macht die Verletzung materiellen Rechts (der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung ) sowie Verfahrensrechts (insbesondere Verletzung der §§ 103, 109 und 128 SGG) geltend.
7
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Reutlingen vom 24. Mai 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. November 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den ihm ab 1. April 1987 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, mindestens wegen Berufsunfähigkeit, bewilligt wird,
8
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Baden-Württemberg zurückzuverweisen.
9
Die Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. März 1990 zurückzuweisen.
10
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
11
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
12
Das angefochtene Urteil ist schon deshalb aufzuheben, weil das LSG - wie der Kläger zu Recht rügt - den im Berufungsverfahren gestellten Antrag auf Einholung eines Gutachtens unter Verletzung dieser Vorschrift zurückgewiesen hat und die Entscheidung des LSG auf diesem Verfahrensverstoß beruhen kann. Das LSG stützt seine Zurückweisung des Antrags darauf, daß ein entsprechender Antrag - den der Kläger tatsächlich nicht gestellt hatte - in erster Instanz hätte zurückgewiesen werden können und deshalb auch im Berufungsverfahren nicht mehr gestellt werden könne.
13
Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, die ein solches Zurückweisen des Antrags im Berufungsverfahren gestattet, besteht nicht. Das räumt das LSG selbst ein. Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zu dieser Frage sind bisher nicht ergangen. Das BSG hat lediglich entschieden, daß dann, wenn bereits im erstinstanzlichen Verfahren ein Gutachten nach § 109 SGG eingeholt worden ist, im Berufungsverfahren zur selben Frage bei unverändertem Sachverhalt kein neues Gutachten nach § 109 SGG eingeholt werden muß (BSG SozR Nr 18 zu § 109 SGG). Die vom LSG entschiedene Frage ist damit aber nicht beantwortet. Wenn einem Antrag nach § 109 SGG nur einmal stattgegeben werden muß, so entspricht dies nur dem sonstigen Beweisrecht, das das Gericht auch nicht verpflichtet, einem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis einer bestimmten Tatsache beliebig oft nachzukommen. Wenn aber ein Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens im erstinstanzlichen Verfahren als verspätet zurückgewiesen wird, so sieht selbst die Zivilprozeßordnung (ZPO) für den Berufungsrechtszug nicht den automatischen Ausschluß dieses Beweisantritts vor. § 528 ZPO gibt vielmehr durchaus die Möglichkeit, einen solchen Beweisantritt zuzulassen und erfordert insbesondere bei einer ablehnenden Entscheidung über einen solchen Antrag die Beachtung bestimmter rechtlicher Gesichtspunkte. Da das SGG keine solche Vorschrift für das Berufungsverfahren enthält, liegt es eher nahe, anzunehmen, daß selbst die Ablehnung eines Beweisantrages nach § 109 SGG wegen verspäteter Antragstellung durch das SG nur für das erstinstanzliche Verfahren, nicht aber für das Berufungsverfahren gilt. Dies muß erst recht dann gelten, wenn bisher überhaupt keine Entscheidung über einen Antrag nach § 109 SGG ergangen ist, dh auch das SG keine ablehnende Entscheidung insoweit getroffen hat.
14
Das LSG stützt seine Ansicht zu Unrecht auf einen Vergleich zum Verlust des Antragsrechts iS von § 411 Abs 3 ZPO. Der nach dieser Vorschrift zulässige Antrag auf Anhörung des Sachverständigen muß allerdings vor dem nächsten Termin nach Erstellung des Gutachtens gestellt werden. Anderenfalls entfällt das Antragsrecht vollständig, und zwar auch für ein folgendes zweitinstanzliches Verfahren. Das BSG ist im Urteil vom 16. Januar 1986 (4b RV 27/85 = SozR 1750 § 411 Nr 2) ausdrücklich dieser Auslegung der Vorschrift durch den Bundesgerichtshof (BGH) gefolgt. Das Gutachten nach § 109 SGG unterscheidet sich aber wesentlich von der Erläuterung des schriftlich erstatteten Gutachtens, wie sie nach § 411 Abs 3 ZPO beantragt werden kann. Letztere ist sinnvoll gerade dann, wenn sie möglichst bald geschieht, nachdem das Gutachten erstattet worden ist. Der Sachverständige kann dazu sein Gutachten zeitnah zur schriftlichen Abfassung erläutern. Das Antragsrecht ist in diesem Fall deshalb auch nicht nur auf die Instanz beschränkt, sondern auf die erste mündliche Verhandlung nach Gutachtenerstellung. Die Frage einer Verzögerung des Rechtsstreits bei verspäteter Antragstellung braucht nicht geprüft zu werden. Das Antragsrecht nach § 109 SGG soll es demgegenüber dem Kläger ermöglichen, den Arzt seines Vertrauens als Sachverständigen heranzuziehen. Eine aus der Sache heraus gebotene zeitliche Beschränkung des Antragsrechts gibt es hier nicht.
15
Es sind auch keine anderen zwingenden Gründe ersichtlich, die es gebieten, das Antragsrecht nach § 109 SGG in dem vom LSG vertretenen Umfang zu beschränken. Insbesondere kann dies nicht damit begründet werden, daß der aus grober Nachlässigkeit verspätet gestellte Antrag nach § 109 SGG zurückgewiesen werden kann. Das SGG gibt den Beteiligten grundsätzlich den Anspruch auf Entscheidung durch zwei Tatsacheninstanzen. Wenn der unterlegene Kläger aber den Anspruch auf uneingeschränkte Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils hat, so ist es aus seiner Sicht uU naheliegend, erst eine Beweiswürdigung durch das LSG abzuwarten, ehe ein Antrag nach § 109 SGG gestellt wird. Es ist deshalb keine grobe Nachlässigkeit, den Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG erst in der zweiten Instanz zu stellen. Der Kläger muß das Kostenrisiko eines Antrags nach § 109 SGG erst eingehen, wenn auch im Berufungsverfahren das LSG die Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen für ausreichend ansieht. Verfahrensverzögerungen, die dadurch eintreten, sind angesichts fehlender Präklusionsvorschriften in Kauf zu nehmen. Da aufgrund des vom Kläger beantragten Gutachtens eine andere sachliche Entscheidung möglich ist, ist der Verfahrensfehler auch beachtlich.
16
Ob die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensverstöße vorliegen, kann danach offenbleiben. Ebenso braucht nicht entschieden zu werden, ob das LSG die §§ 1246, 1247 RVO verletzt hat, wie von ihm mit der Revision geltend gemacht wird. Eine für den Kläger günstige abschließende Entscheidung ist jedenfalls nicht möglich.
17
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Urt. v. 14.05.1991
Az.: 5 RJ 32/90
Der 5. Senat des Bundessozialgerichts hat
auf die mündliche Verhandlung vom 14. Mai 1991 in München
durch
den Vorsitzenden Richter Burger,
die Richter Bender und Balzer sowie
die ehrenamtlichen Richter Nitsche und Nollen
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. März 1990 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand und Entscheidungsgründe
1
I
Streitig ist der Anspruch des Klägers auf Versichertenrente wegen Erwerbs- bzw Berufsunfähigkeit (EU bzw BU).
2
Der 1935 geborene Kläger hat in Italien in der Landwirtschaft und im Straßenbau gearbeitet. Seit 1965 arbeitete er in der Bundesrepublik als Zuschneider und Färbereihilfsarbeiter in einem Textilwerk. Seit März 1986 ist er arbeitslos und bezieht Leistungen der Arbeitslosenversicherung. Seinen Rentenantrag von April 1987 lehnte die Beklagte ab. Sie vertrat die Ansicht, aufgrund der ärztlichen Begutachtungen könne der Kläger noch vollschichtig leichte bis mittelschwere Arbeiten verrichten (Bescheid vom 20. November 1987).
3
Die Klage wies das Sozialgericht (SG) ab. Im Verfahren vor dem SG wurde eine schriftliche Erklärung des Hausarztes als sachverständigen Zeugen eingeholt sowie ein nervenfachärztliches Gutachten eines Arztes für Neurologie und Psychiatrie. Das zuletzt genannte Gutachten war dem Kläger am 11. April 1989 zugleich mit dem Hinweis übersandt worden, daß nicht beabsichtigt sei, weitere Ermittlungen von Amts wegen anzustellen. Das SG wies auf § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) hin und bat um eine entsprechende Äußerung bis spätestens 20. Mai 1989. Bis zum Termin zur mündlichen Verhandlung am 24. Mai 1989 und in diesem Termin wurde kein Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG gestellt.
4
Im Berufungsverfahren ist von dem Kläger das Gutachten beanstandet, die Einholung eines weiteren psychiatrischen Gutachtens nach § 106 SGG und hilfsweise die Einholung eines solchen Gutachtens nach § 109 SGG beantragt worden. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen. Dem Antrag nach § 109 SGG hat es nicht stattgegeben (Urteil vom 21. März 1990). Dazu hat es ausgeführt, zwar habe der Kläger Anspruch auf Anhörung eines bestimmten Arztes; dieses Recht bestehe aber nach § 109 Abs 2 SGG dann nicht, wenn die Erledigung des Rechtsstreits verzögert werden würde und der Antrag in Verschleppungsabsicht oder aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden sei. Eine erneute Untersuchung und Begutachtung würde die Erledigung des Rechtsstreits verzögern. Es sei nicht von der hypothetischen Dauer des Verfahrens mit einer Begutachtung nach § 109 SGG in erster Instanz, sondern von der tatsächlichen Dauer des Verfahrens ohne eine solche Begutachtung auszugehen. Nach Auffassung des Senats sei der Antrag auch aus grober Nachlässigkeit nicht früher vorgebracht worden. Nachdem das SG den rechtskundigen Prozeßvertreter des Klägers auf eine mögliche Antragstellung nach § 109 SGG hingewiesen und hierfür eine etwa fünfwöchige Frist eingeräumt habe, verstoße es in besonderem Maße gegen die im Rechtsverkehr erforderliche Sorgfalt, einen etwa ins Auge gefaßten Antrag (auch in der mündlichen Verhandlung) nicht vorzubringen. Dieses Fristversäumnis könne dem Kläger auch noch in der Berufungsinstanz entgegengehalten werden. Aus dem Wortlaut von § 109 SGG sei ein Wiederaufleben des Antragsrechts in der Berufungsinstanz nicht herzuleiten. Die Gegenmeinung hätte zur Folge, daß dasselbe Verhalten, das vom SG bei der Ablehnung eines verspätet gestellten Antrags als Nachlässigkeit gewertet werden müßte, vom Berufungsgericht als irrelevant zu behandeln wäre. Der Anspruch aus § 109 SGG entstehe im Instanzenzug nur einmal und könne deshalb bei grob fahrlässiger Fristversäumnis im ersten Rechtszug auch im Berufungsverfahren noch abgelehnt werden.
5
Gegen dieses Urteil richtet sich die - vom LSG zugelassene -Revision des Klägers.
6
Der Kläger macht die Verletzung materiellen Rechts (der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung ) sowie Verfahrensrechts (insbesondere Verletzung der §§ 103, 109 und 128 SGG) geltend.
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Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, das Urteil des SG Reutlingen vom 24. Mai 1989 sowie den Bescheid der Beklagten vom 20. November 1987 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger einen neuen Bescheid zu erteilen, durch den ihm ab 1. April 1987 Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, mindestens wegen Berufsunfähigkeit, bewilligt wird,
8
hilfsweise,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG Baden-Württemberg zurückzuverweisen.
9
Die Beklagte beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 21. März 1990 zurückzuweisen.
10
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
11
II
Die Revision des Klägers ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und der Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist.
12
Das angefochtene Urteil ist schon deshalb aufzuheben, weil das LSG - wie der Kläger zu Recht rügt - den im Berufungsverfahren gestellten Antrag auf Einholung eines Gutachtens unter Verletzung dieser Vorschrift zurückgewiesen hat und die Entscheidung des LSG auf diesem Verfahrensverstoß beruhen kann. Das LSG stützt seine Zurückweisung des Antrags darauf, daß ein entsprechender Antrag - den der Kläger tatsächlich nicht gestellt hatte - in erster Instanz hätte zurückgewiesen werden können und deshalb auch im Berufungsverfahren nicht mehr gestellt werden könne.
13
Eine ausdrückliche gesetzliche Regelung, die ein solches Zurückweisen des Antrags im Berufungsverfahren gestattet, besteht nicht. Das räumt das LSG selbst ein. Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) zu dieser Frage sind bisher nicht ergangen. Das BSG hat lediglich entschieden, daß dann, wenn bereits im erstinstanzlichen Verfahren ein Gutachten nach § 109 SGG eingeholt worden ist, im Berufungsverfahren zur selben Frage bei unverändertem Sachverhalt kein neues Gutachten nach § 109 SGG eingeholt werden muß (BSG SozR Nr 18 zu § 109 SGG). Die vom LSG entschiedene Frage ist damit aber nicht beantwortet. Wenn einem Antrag nach § 109 SGG nur einmal stattgegeben werden muß, so entspricht dies nur dem sonstigen Beweisrecht, das das Gericht auch nicht verpflichtet, einem Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis einer bestimmten Tatsache beliebig oft nachzukommen. Wenn aber ein Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens im erstinstanzlichen Verfahren als verspätet zurückgewiesen wird, so sieht selbst die Zivilprozeßordnung (ZPO) für den Berufungsrechtszug nicht den automatischen Ausschluß dieses Beweisantritts vor. § 528 ZPO gibt vielmehr durchaus die Möglichkeit, einen solchen Beweisantritt zuzulassen und erfordert insbesondere bei einer ablehnenden Entscheidung über einen solchen Antrag die Beachtung bestimmter rechtlicher Gesichtspunkte. Da das SGG keine solche Vorschrift für das Berufungsverfahren enthält, liegt es eher nahe, anzunehmen, daß selbst die Ablehnung eines Beweisantrages nach § 109 SGG wegen verspäteter Antragstellung durch das SG nur für das erstinstanzliche Verfahren, nicht aber für das Berufungsverfahren gilt. Dies muß erst recht dann gelten, wenn bisher überhaupt keine Entscheidung über einen Antrag nach § 109 SGG ergangen ist, dh auch das SG keine ablehnende Entscheidung insoweit getroffen hat.
14
Das LSG stützt seine Ansicht zu Unrecht auf einen Vergleich zum Verlust des Antragsrechts iS von § 411 Abs 3 ZPO. Der nach dieser Vorschrift zulässige Antrag auf Anhörung des Sachverständigen muß allerdings vor dem nächsten Termin nach Erstellung des Gutachtens gestellt werden. Anderenfalls entfällt das Antragsrecht vollständig, und zwar auch für ein folgendes zweitinstanzliches Verfahren. Das BSG ist im Urteil vom 16. Januar 1986 (4b RV 27/85 = SozR 1750 § 411 Nr 2) ausdrücklich dieser Auslegung der Vorschrift durch den Bundesgerichtshof (BGH) gefolgt. Das Gutachten nach § 109 SGG unterscheidet sich aber wesentlich von der Erläuterung des schriftlich erstatteten Gutachtens, wie sie nach § 411 Abs 3 ZPO beantragt werden kann. Letztere ist sinnvoll gerade dann, wenn sie möglichst bald geschieht, nachdem das Gutachten erstattet worden ist. Der Sachverständige kann dazu sein Gutachten zeitnah zur schriftlichen Abfassung erläutern. Das Antragsrecht ist in diesem Fall deshalb auch nicht nur auf die Instanz beschränkt, sondern auf die erste mündliche Verhandlung nach Gutachtenerstellung. Die Frage einer Verzögerung des Rechtsstreits bei verspäteter Antragstellung braucht nicht geprüft zu werden. Das Antragsrecht nach § 109 SGG soll es demgegenüber dem Kläger ermöglichen, den Arzt seines Vertrauens als Sachverständigen heranzuziehen. Eine aus der Sache heraus gebotene zeitliche Beschränkung des Antragsrechts gibt es hier nicht.
15
Es sind auch keine anderen zwingenden Gründe ersichtlich, die es gebieten, das Antragsrecht nach § 109 SGG in dem vom LSG vertretenen Umfang zu beschränken. Insbesondere kann dies nicht damit begründet werden, daß der aus grober Nachlässigkeit verspätet gestellte Antrag nach § 109 SGG zurückgewiesen werden kann. Das SGG gibt den Beteiligten grundsätzlich den Anspruch auf Entscheidung durch zwei Tatsacheninstanzen. Wenn der unterlegene Kläger aber den Anspruch auf uneingeschränkte Überprüfung des erstinstanzlichen Urteils hat, so ist es aus seiner Sicht uU naheliegend, erst eine Beweiswürdigung durch das LSG abzuwarten, ehe ein Antrag nach § 109 SGG gestellt wird. Es ist deshalb keine grobe Nachlässigkeit, den Antrag auf Einholung eines Gutachtens nach § 109 SGG erst in der zweiten Instanz zu stellen. Der Kläger muß das Kostenrisiko eines Antrags nach § 109 SGG erst eingehen, wenn auch im Berufungsverfahren das LSG die Sachverhaltsaufklärung von Amts wegen für ausreichend ansieht. Verfahrensverzögerungen, die dadurch eintreten, sind angesichts fehlender Präklusionsvorschriften in Kauf zu nehmen. Da aufgrund des vom Kläger beantragten Gutachtens eine andere sachliche Entscheidung möglich ist, ist der Verfahrensfehler auch beachtlich.
16
Ob die weiteren vom Kläger gerügten Verfahrensverstöße vorliegen, kann danach offenbleiben. Ebenso braucht nicht entschieden zu werden, ob das LSG die §§ 1246, 1247 RVO verletzt hat, wie von ihm mit der Revision geltend gemacht wird. Eine für den Kläger günstige abschließende Entscheidung ist jedenfalls nicht möglich.
17
Die Kostenentscheidung bleibt der den Rechtsstreit abschließenden Entscheidung vorbehalten.
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