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14.03.2019 · IWW-Abrufnummer 207720

Landessozialgericht Baden-Württemberg: Urteil vom 21.02.2019 – L 6 SB 2892/18

Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.


Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 16. Juli 2018 wird zurückgewiesen. Außergerichtliche Kosten sind auch im Berufungsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand

Der Kläger wendet sich weiterhin gegen die Herabsetzung seines Grades der Behinderung (GdB).

Der Kläger ist im Jahre 1967 geboren, deutscher Staatsbürger und wohnt im Inland. Er ist als Werkzeugmacher, aktuell im Vertrieb, beschäftigt. Er ist verheiratet und hat einen Sohn. Neben der Berufstätigkeit treibt er regelmäßig Sport (Skifahren und Joggen).

Einen ersten Antrag auf Feststellung eines GdB lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 6. November 2003 und Widerspruchsbescheid vom 30. Juni 2004 ab. Die damals - allein - geltend gemachte Funktionsbehinderung des rechten Handgelenks bedinge keinen GdB von wenigstens 20. Der Kläger hatte im März 2003 eine distale dislozierte komplette Unterarmfraktur erlitten, die am 14. März 2003 operativ repositioniert und refixiert worden war (Bericht Dr. Br. vom 18. März 2003).

Im April 2009 wurde bei ihm ein Adenokarzinom der linken Colonflexur im Stadium pT3b (T3) diagnostiziert. Am 28. April 2009 wurde der Tumor bei einer Hemicolektomie entfernt (Bericht Dr. Hu., Kreiskrankenhaus S., vom 8. Mai 2009). Während der Erstbehandlung und der anschließenden Rehabilitationsmaßnahme wurde eine psychoonkologische Beratung durchgeführt. Auf Antrag des Klägers stellte der Beklagte daraufhin mit Bescheid vom 10. Juni 2009 den GdB mit 80 seit dem 6. Mai 2009 fest. Ausweislich der versorgungsärztlichen Stellungnahme von Dr. Gl. lagen dem eine Dickdarmerkrankung in Heilungsbewährung mit einem Teil-GdB von 80 und die Funktionsbehinderung des rechten Handgelenks (10) zu Grunde.

Im Juli 2014 leitete der Beklagte die Nachuntersuchung ein. Der Kläger gab an, bei ihm sei auf Grund einer positiven Familienanamnese ein Gendefekt festgestellt worden, der das Krebsrisiko erhöhe. Ferner leide er teilweise entweder unter Durchfall oder Obstipation, weswegen er bei seiner Ernährung aufpassen müsse. Auch bestehe ein Heuschnupfen. Er verwies auf die Beschwerden am rechten Handgelenk sowie einen Kreuzbandriss im rechten Knie im Jahre 2009. In der ärztlichen Bescheinigung von 4. November 2014 teilte Dr. Kä., Klinikum S., mit, bei dem Kläger liege eine erbliche Veranlagung für die Entwicklung bestimmter Tumor-Erkrankungen vor, ein sogenanntes HNPCC-Syndrom. Dieses betreffe bösartige Erkrankungen vor allem des Verdauungstraktes und der Harnorgane. Obwohl die erste Erkrankung nunmehr fünf Jahre zurückliege, seien daher regelmäßige Kontrollen erforderlich, das Syndrom habe deshalb weiter Auswirkungen auf die Lebensführung. In dem weiteren Bericht vom 4. Mai 2015 teilte Dr. Kä. mit, es bestehe "kein fassbarer Erkrankungsprozess". Der Kläger habe über gutes Befinden, gute körperliche Belastbarkeit und das Fehlen neuer Symptome berichtet. Einen Infekt habe er ebenfalls nicht durchgemacht. Der Internist Dr. He. berichtete am 28. August 2015, aktuell gebe es keine Hinweise auf ein polypöses oder neoplastisches Wachstum. Der Hausarzt Dr. Ka. ergänzte am 15. September 2015, der Kläger habe im April 2014 an einem Infekt der oberen Luftwege gelitten, im Juli 2014 habe eine schmerzhafte Rückenproblematik vorgelegen, die mit physikalischer Therapie behandelt worden sei, danach habe es nur noch Überweisungen für die onkologischen Kontrollen gegeben. Bezüglich der Handgelenke lägen ihm keine Facharztbefunde vor.

Nach Anhörung des Klägers hob der Beklagte mit Bescheid vom 29. Februar 2016 den Bescheid vom 10. Juni 2009 auf und führte aus, ab dem 3. März 2016 liege kein GdB (von wenigstens 20) mehr vor. Die Heilungsbewährung sei abgelaufen. Der GdB für das Handgelenk betrage weiterhin nur 10. Für die geltend gemachten Störungen "Stuhlgangsprobleme, Nahrungsmittelunverträglichkeiten, Heuschnupfen" seien keine GdB-Werte von wenigstens 10 festzustellen.

Der Kläger erhob Widerspruch. Eine wesentliche Änderung der Funktionsstörung sei nicht eingetreten. Insbesondere könne wegen des deutlich erhöhten Rezidivrisikos keine Heilungsbewährung angenommen werden. Auch habe sich die Problematik am Handgelenk verschlechtert, weswegen er demnächst einen Orthopäden aufsuchen werde. Hierzu reichte er die Bescheinigung von Dr. St. vom 21. Juni 2016 ein, wonach bei ihm ein chronisches Lumbalsyndrom bei deutlicher degenerativer Bandscheibenläsion (an den WS-Segmenten) L5/S1 und eine knöchern konsolidierte distale Radiustrümmerfraktur mit Gelenkbeteiligung und zunehmender Radiocarpalarthrose rechts vorliege. Der FBA (Finger-Boden-Abstand) betrage 15 cm, die Seitneigung sei auf 2/3 eingeschränkt, es beständen keine sensomotorischen Defizite der unteren Extremitäten, die Hüften seien frei. Am rechten Handgelenk fänden sich eine leichte bis mäßige Schwellung und ein Druckschmerz am Radiogelenk, die Dorsalextension/Palmarflexion betrage 30/0/30°, die Radial-/Ulnarabduktion 10/0/10°, der Faustschluss sei komplett.

Nach einer Auswertung der Unterlagen durch Versorgungsarzt Dr. Gl., der keine weiteren Teil-GdB-Werte von mehr als 10 annahm, wies der Beklagte den Widerspruch mit Widerspruchsbescheid vom 23. September 2016 zurück.

Hiergegen hat der Kläger am 29. September 2016 Klage beim Sozialgericht Konstanz (SG) erhoben und vorgetragen, bei einer Erkrankung wie seiner könne überhaupt nicht von einer Heilungsbewährung ausgegangen werden, insbesondere, weil sie familiär vererblich sei.

Das SG hat die behandelnden Ärzte des Klägers schriftlich als sachverständige Zeugen vernommen. Der Chirurg Dr. Ra. hat am 18. November 2016 mitgeteilt, das rechte Kniegelenk sei bei positivem Innenmeniskuszeichen ohne weiteren klinischen Befund (gerade Beinachse, keine Ergussbildung, freie Beweglichkeit, stabile Bandführung, Patella nicht krankhaft), an der rechten Schulter beständen kein Druckschmerz, eine freie Beweglichkeit, ein schmerzhafter Bogen und der Supraspinatussehnentest sei negativ gewesen. Dr. St. (Aussage vom 17. November 2016) hat seine Angaben aus dem Verwaltungsverfahren bestätigt. Der Allgemeinmediziner und Homöopath Dr. Gr. hat (1. Dezember 2016) bekundet, es sei jederzeit eine erneute bösartige Tumorbildung möglich, weswegen sich der Kläger seit 2009 für eine begleitende "klassisch homöopathische Konstitutionsbehandlung" entschieden habe. Diese stärke das Immunsystem, damit es entartete Zellen erkennen und eliminieren könne. Dazu müsse die enorme psychische Belastung neutralisiert werden. Besonders labil sei das seelische Gleichgewicht, wenn - wie es in diesem Jahr geschehen sei - bei der Kontrolle ein neuer Polyp gefunden worden sei. Dr. He. hat diesen Hinweis in seiner Aussage vom 10. Januar 2017 bestätigt, bei der Kontrolle am 30. August 2016 sei eine 2 mm große Polypenknospe gefunden worden. Diese war bei der Koloskopie abgetragen worden. Bei der Nachschau bei Dr. Kä. (Bericht vom 21. Oktober 2016) bestanden weiterhin gutes Befinden und gute Belastbarkeit.

Nachdem der Beklagte der Klage entgegengetreten ist, hat der Kläger unter Vorlage umfangreicher Unterlagen daran festgehalten, in seinem Falle sei die Heilungsbewährung nicht abgelaufen.

Auf seinen Antrag und sein Kostenrisiko hin hat das SG sodann mit Beschluss vom 27. Juli 2017 den Internisten Dr. Ma. mit der Erstellung eines Gutachtens beauftragt. Das Gutachten ist letztlich am 2. April 2018 erstellt worden. Darin hat Dr. Ma. ausgeführt, der Kläger sei rezidivfrei. Es beständen kein Fieber, kein Nachtschweiß, manchmal eine Hyperhidrosis, der Stuhlgang sei drei- bis viermal täglich, nachts nicht, Symptome einer Stuhlinkontinenz seien nicht eruierbar. Der Kläger betreibe regelmäßig Sport. Medikamente nehme er nicht, manchmal Homöopathisches. Bei ihm beständen ein HNPCC-Syndrom und ein Lynch-Syndrom. Dabei handele es sich um ein familiär erhöhtes Risiko, an einem Colonkarzinom zu erkranken. Das Risiko betrage bis zu 70 %. Sei ein solches schon aufgetreten, bestehe nach einer erfolgreichen operativen Entfernung ein lebenslang erhöhtes Risiko für ein Rezidiv. Die Patienten müssten sich daher einer intensiven Früherkennung unterziehen und einmal jährlich eine Darmspiegelung durchführen. Ergänzend hat Dr. Ma. ausgeführt, aus seiner internistischen Sicht bestehe keine signifikante psychische Belastung. Insgesamt sei nach Ablauf der fünfjährigen Heilungsbewährung zurzeit kein GdB auf onkologischem Fachgebiet anzunehmen.

Nachdem das SG in dem Erörterungstermin am 12. Juli 2018 unter anderem den Kläger persönlich angehört hat, hat es mit angekündigtem Gerichtsbescheid vom 16. Juli 2018 die Klage abgewiesen. Die Heilungsbewährung sei abgelaufen, die verbliebenen und vorhandenen Funktionsbeeinträchtigungen bedingten keinen GdB von wenigstens 20 mehr.

Hiergegen hat der Kläger am 14. August 2018 Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) erhoben. Er hält an seiner Ansicht fest, dass bei ihm, weil er wegen des erhöhten Risikos lebenslang Vorsorgeuntersuchungen durchführen müsse, weiterhin von einem GdB von 80 auszugehen sei.

Er beantragt,

den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Konstanz vom 16. Juli 2018 und den Bescheid des Beklagten vom 29. Februar 2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. September 2016 aufzuheben.

Der Beklagte beantragt,

die Berufung zurückzuweisen.

Der Senat hat am 19. September 2018 Hinweise zur Sach- und Rechtslage gegeben und, nachdem keine Reaktion erfolgt ist, den Kläger am 22. November 2018 angehört. Dabei hat er ausgeführt, die Gerichte müssten die individuelle Situation behinderter Menschen besser berücksichtigen. Die Anforderungen im Arbeitsleben verdichteten sich. Man höre viel über Kündigungen und Stellenabbau. Er verweise auf den Kündigungsschutz, den er als schwerbehinderter Mensch habe.

Der Kläger hat sich am 22. November 2018, der Beklagte mit Schriftsatz vom 28. November 2018 mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Zur weiteren Darstellung des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Verwaltungsakte des Beklagten und die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
Entscheidungsgründe

Der Senat entscheidet im Einvernehmen mit beiden Beteiligten nach § 153 Abs. 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) durch Urteil ohne mündliche Verhandlung.

Die Berufung des Klägers ist statthaft (§ 105 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 143 SGG) und war auch nicht nach § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG zulassungsbedürftig, weil keine Leistungen im Sinne dieser Vorschrift in Streit sind, sondern behördliche Feststellungen. Auch im Übrigen ist die Berufung zulässig, insbesondere hat sie der Kläger form- und fristgerecht (§ 151 Abs. 1 SGG) erhoben. Sie ist aber nicht begründet. Zu Recht hat das SG die Klage abgewiesen.

Die Klage ist als isolierte Anfechtungsklage (§ 54 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 SGG) statthaft. Eine weiter gehende Verpflichtungsklage ist nicht erhoben, sie wäre auch mangels Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Wenn das Gericht auf eine Anfechtungsklage hin den Bescheid über die Herabsetzung eines GdB aufhebt (§ 131 Abs. 1 SGG), lebt die vorherige Feststellung des höheren GdB von selbst wieder auf.

Die Klage ist aber unbegründet. Der angegriffene Bescheid ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten gegen den Beklagten.

Der Senat entscheidet nach der Sach- und Rechtslage zur Zeit der letzten Entscheidung des Beklagten, hier also bei Erlass des Widerspruchsbescheids (§ 95 SGG) im September 2016. Die Rechtmäßigkeit eines bloßen Herabsetzungsbescheids bestimmt sich nach diesem Zeitpunkt, spätere eventuelle Veränderungen während des Gerichtsverfahrens werden nicht berücksichtigt. Dies ist ein allgemeiner Rechtsgrundsatz für isolierte Anfechtungsklagen, während bei Verpflichtungs- und anderen Leistungsklagen grundsätzlich auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung in einer Tatsacheninstanz abzustellen ist (Keller, in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schütze, SGG, 12. Aufl. 2017, § 54 Rz. 34). Auf diesen Zeitpunkt ist ausnahmsweise auch bei einer isolierten Anfechtungsklage abzustellen, wenn sie einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung betrifft (BSG, Urteil vom 12. November 1996 - 9 RVs 5/95 -, Juris Rz. 14). Die Herabbemessung eines GdB ist selbst jedoch kein Verwaltungsakt mit Dauerwirkung (BSG, Urteil vom 10. September 1997 - 9 RVs 15/96 -, Juris Rz. 11). Ihre Wirkung beschränkt sich auf die Veränderung der Rechtslage zu einem bestimmten Zeitpunkt (Urteil des Senats vom 17. Dezember 2015 - L 6 SB 3978/14 -, Juris Rz. 31).

In verfahrensrechtlicher Hinsicht ist die Herabsetzung eines GdB - ebenso wie seine Erhöhung - nur unter den Anforderungen aus § 48 Abs. 1 Satz 1 und Satz 2 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) möglich. Nach dieser Vorschrift ist, soweit in den tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnissen, die bei Erlass eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, eine wesentliche Änderung eintritt, der Verwaltungsakt mit Wirkung für die Zukunft (S. 1) oder für die Vergangenheit (S. 2) aufzuheben. Die Feststellung eines bestimmten GdB ist ein solcher Dauerverwaltungsakt (BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 6/12 -, SozR 4 - 1300 § 48 Nr. 26; Rz. 12). Eine wesentliche Veränderung der Sachlage liegt bei der Zuerkennung eines GdB z.B. dann vor, wenn sich der Gesundheitszustand des behinderten Menschen so verbessert hat, dass eine Erhöhung des Gesamt-GdB um wenigstens 10 gerechtfertigt ist (vgl. hierzu BSG, Urteil vom 11. November 2004 - B 9 SB 1/03 R -, juris, Rz. 12). Das Gleiche gilt bei einer Verbesserung des Gesundheitszustandes mit einer anschließenden Herabbemessung des GdB.

Bei dem Bescheid vom 10. Juni 2009, den der Beklagte mit dem hier angegriffenen Bescheid vom 29. Februar 2016 aufgehoben hat, handelte es sich um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung, bei dem eine wesentliche Änderung eingetreten war.

Materiellrechtlich folgen die Grundlagen für die Entscheidung des Beklagten noch aus §§ 69 ff. Neuntes Busch Sozialgesetzbuch (SGB IX) in der damals gültigen Fassung. Die Änderungen durch das Gesetz zur Stärkung der Teilhabe und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderung (BTHG) vom 23. Dezember 2016 (BGBl I S. 3234), insbesondere die Neufassung der relevanten Vorschriften in den §§ 152 ff. SGB IX n.F., die insoweit zum 1. Januar 2018 in Kraft getreten sind, sind dagegen nicht zu berücksichtigen. Der hier angegriffene Bescheid vom 29. Februar 2016 ist davor ergangen.

Nach § 69 Abs. 1 und 3 SGB IX stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest (§ 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX). Menschen sind nach § 2 Abs. 1 Satz 1 SGB IX behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Schwerbehindert sind gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX Menschen, wenn bei ihnen ein GdB von wenigstens 50 vorliegt. Die Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabe am Leben in der Gesellschaft werden als GdB nach 10-er-Graden abgestuft festgestellt. Hierfür gelten gem. § 69 Abs. 1 Satz 4 und 5 SGB IX die Maßstäbe des § 30 Abs. 1 BVG und der auf Grund des § 30 Abs. 16 BVG (bis 30. Juni 2011: § 30 Abs. 17 BVG) erlassenen Rechtsverordnung entsprechend. Bei dieser Verordnung handelt es sich um die am 1. Januar 2009 in Kraft getretene Versorgungsmedizin-Verordnung (VersMedV) vom 10. Dezember 2008 (BGBl I S. 2412). Die zugleich in Kraft getretene, auf der Grundlage des aktuellen Standes der medizinischen Wissenschaft unter Anwendung der Grundsätze der evidenzbasierten Medizin erstellte und fortentwickelte Anlage "Versorgungsmedizinische Grundsätze" (VG) zu § 2 VersMedV ist an die Stelle der bis zum 31. Dezember 2008 heranzuziehenden "Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im Sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht" (AHP) getreten. In den VG wird der medizinische Kenntnisstand für die Beurteilung von Behinderungen wiedergegeben (BSG, Urteil vom 1. September 1999 - B 9 V 25/98 R -, SozR 3-3100 § 30 Nr. 22, Juris). Hierdurch wird eine für den Menschen mit Behinderung nachvollziehbare, dem medizinischen Kenntnisstand entsprechende Festsetzung des GdB ermöglicht.

Allgemein gilt, dass der GdB auf alle Gesundheitsstörungen unabhängig ihrer Ursache, also final, bezogen ist (BSG, Urteil vom 17. April 2013 - B 9 SB 3/12 R -, Juris Rz. 51). Der GdB ist ein Maß für die körperlichen, geistigen, seelischen und sozialen Auswirkungen einer Funktionsbeeinträchtigung aufgrund eines Gesundheitsschadens. Ein GdB setzt stets eine Regelwidrigkeit gegenüber dem für das Lebensalter typischen Zustand voraus. Dies ist insbesondere bei Kindern und älteren Menschen zu beachten. Physiologische Veränderungen im Alter sind bei der Beurteilung des GdB nicht zu berücksichtigen. Als solche Veränderungen sind die körperlichen und psychischen Leistungseinschränkungen anzusehen, die sich im Alter regelhaft entwickeln, also für das Alter nach ihrer Art und ihrem Umfang typisch sind. Demgegenüber sind pathologische Veränderungen, also Gesundheitsstörungen, die nicht regelmäßig und nicht nur im Alter beobachtet werden können, bei der Beurteilung des GdB auch dann zu berücksichtigen, wenn sie erstmalig im höheren Alter auftreten oder als "Alterskrankheiten" bezeichnet werden (Teil A Nr. 2 Buchstabe c VG). Erfasst werden die Auswirkungen in allen Lebensbereichen und nicht nur die Einschränkungen im allgemeinen Erwerbsleben. Bei der Bewertung sollen im Allgemeinen Funktionssysteme zusammenfassend beurteilt werden (Teil A Nr. 2 Buchstabe e VG).

Eine rechtsverbindliche Entscheidung nach § 69 Abs. 1 Satz 1 SGB IX umfasst nur die Feststellung einer (unbenannten) Behinderung und des Gesamt-GdB. Die dieser Feststellung im Einzelfall zugrundeliegenden Gesundheitsstörungen, die daraus folgenden Funktionsbeeinträchtigungen und ihre Auswirkungen dienen lediglich der Begründung des Verwaltungsaktes und werden nicht bindend festgestellt (BSG, Urteil vom 24. Juni 1998 - B 9 SB 17/97 R -, SozR 3-3870 § 4 Nr. 24). Der Teil-GdB ist somit keiner eigenen Feststellung zugänglich. Er erscheint nicht im Verfügungssatz des Verwaltungsaktes und ist nicht isoliert anfechtbar. Es ist somit auch nicht entscheidungserheblich, ob von Seiten des Beklagten oder des erstinstanzlichen Gerichts Teil-GdB-Werte in anderer Höhe als im Berufungsverfahren vergeben worden sind, wenn der Gesamt-GdB hierdurch nicht beeinflusst wird.

Vor diesem Hintergrund hat der Beklagte die Feststellung eines GdB ab dem 3. März 2016, dem dritten Tag nach Aufgabe des Herabsetzungsbescheids zur Post, zu Recht aufgehoben.

Die wesentliche Veränderung der Sachlage im Sinne von § 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X lag im Ablauf der Heilungsbewährung (vgl. Teil A Nr. 7 Buchstabe b VG). Der Beklagte hatte dem Kläger nach Teil B Nr. 10.2.2 VG zu Recht für den Z.n. Entfernung eines malignen Darmtumors in einem höheren Stadium als T1 oder T2 N0 M0 ab 6. Mai 2009 einen GdB von 80 zuerkannt. Der Tumor war im Stadium T3 diagnostiziert und entfernt worden. Die Heilungsbewährung begann mit dem Tag der Operation (Teil B Nr. 1 Buchstabe c VG) und betrug fünf Jahre (Teil B Nr. 10.2.2 VG). Bis zum Erlass des Herabsetzungsbescheids am 29. Februar 2016 - also deutlich mehr als fünf Jahre später - waren keine Rezidive und keine Metastasen aufgetreten, wie sich aus den Berichten von Dr. Kä. vom 4. November 2014 und vom 4. Mai 2015 sowie von Dr. He. vom 28. August 2015 ergab. Auch die "Polypenknospe", die bei Dr. He. im August 2016 entdeckt und bei der laufenden Koloskopie gleich abgetragen worden ist, war kein Rezidiv, es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass es sich erneut um malignes Gewebe handelte. Dies ergibt sich insbesondere aus dem Nachschaubericht von Dr. Kä. vom 21. Oktober 2016.

Die Rechtsansicht des Klägers, die Heilungsbewährung könne in (ggfs. atypischen Einzelfällen) auch länger als fünf Jahre dauern, trifft nicht zu. Richtig ist, dass in Teil B Nr. 1 Buchstabe c Satz 4 VG von "in der Regel fünf Jahre"(n) gesprochen wird. Aber damit ist gemeint, dass es auch kürzere Fristen (z.B. zwei Jahre) geben kann. Für eine Darmerkrankung wie hier sind die fünf Jahre nach Teil B Nr. 10.2.2 VG die Höchstgrenze. Dass die Heilungsbewährung dann abgelaufen ist, wenn kein Rezidiv und keine Metastasen oder dgl. aufgetreten sind, ist in Teil A Nr. 2 Buchstabe h Satz 1 VG ausdrücklich so geregelt. Aus der anschließenden Regelung in Satz 2 dieser Norm ergibt sich eindeutig, dass damit auch die Zeit nach Ablauf einer Heilungsbewährung gemeint ist (so auch LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 30. Januar 2015 - L 8 SB 2523/14 -, juris, Rz. 38). Diese gesetzliche Regelung (die VG haben seit 2009 Normcharakter) mit dem überkommenen System der Heilungsbewährung unterliegt auch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken (BSG, Urteil vom 11. August 2015 - B 9 SB 2/15 R -, juris, Rz. 14). Dies gilt insbesondere auch im Falle des Klägers, der unter keinerlei behinderungsbedingten - funktionellen - Einschränkungen auf Grund seiner Darmerkrankung mehr leidet und bei dem der hohe GdB von 80 - auf Grund der aufschiebenden Wirkungen seines Widerspruchs und seiner Klage (§ 86a Abs. 1 SGG) sowie im Hinblick auf die sechsmonatige Nachfrist für den Entzug der Schwerbehinderteneigenschaft (§ 199 Abs. 1 SGB IX) - insgesamt mehr als zehn Jahre bestanden haben wird, also doppelt so lang wie gesetzlich vorgesehen. Das ist systemkonform, nachdem das gesamte System der GdB-Bewertungen keine Risiken einer Erkrankung und auch keine "latenten" Erkrankungen berücksichtigt, sondern allein auf die Funktionseinbußen abstellt (so ausdrücklich Teil A Nr. 1 Buchstabe h Satz 1 VG), die Heilungsbewährung hiervon bereits eine Ausnahme darstellt (Satz 2 dieser Vorschrift).

Die verbleibenden funktionellen Beeinträchtigungen des Klägers nach Ablauf der Heilungsbewährung bedingen keinen GdB von wenigstens 20. Ausgehend von den Vorgaben für Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn (Teil B Nr. 10.2.2 VG) setzt selbst ein GdB von 20 bereits geringe Beschwerden, wenn auch noch keine Einschränkung des Kräfte- und Ernährungszustands, und zumindest "seltene" Durchfälle voraus. Bei dem Kläger besteht nur eine etwas erhöhte Stuhlgangsfrequenz (drei bis vier pro Tag). Durchfälle liegen nicht vor, insbesondere nicht regelmäßig. Dies entnimmt der Senat bereits den schriftlichen Aussagen der sachverständigen Zeugen Dr. Gr. und Dr. He. in erster Instanz. Auch Dr. Kä. hat in dem Bericht vom 21. Oktober 2016 auf das gute Befinden, die gute Belastbarkeit und das Fehlen von Beschwerden hingewiesen. Ergänzend verweist der Senat darauf, dass der Wahlsachverständige Dr. Ma. in seinem Gutachten vom 2. April 2018 keinerlei funktionellen Einbußen bei dem Kläger festgestellt hat und deshalb ebenfalls davon ausgegangen ist, dass auf onkologischem Gebiet kein GdB mehr vorliegt (S. 9 unten, S. 13 des Gutachtens). Auch eine außergewöhnliche psychische Belastung, die gesondert zu berücksichtigen wäre (Teil B Nr. 3.7 VG) ist nicht dokumentiert.

Als Folge der Kreuzbandruptur am rechten Knie 2009 sind bei dem Kläger keine merklichen Funktionsstörungen zurückgeblieben. Nach Teil B Nr. 18.14 VG kommen GdB-Werte von 20 insoweit bei muskulär nicht vollständig kompensierbaren Instabilitäten bei einer Lockerung des Kniebandapparats, bei einer Einschränkung der Streckung/Beugung auf 0/0/90° beidseits oder 0/30/90° einseitig oder bei ausgeprägten Knorpelschäden im Sinne einer Chondromalazie Grad II bis IV mit anhaltenden Reizerscheinungen. Bei dem Kläger liegen solche Schäden nicht vor. Dies entnimmt der Senat der Zeugenaussage von Dr. Ra. vom 18. November 2016. Bei der Untersuchung dort war nur ein Untersuchungsbefund auffällig, es lag ein positives Innenmeniskuszeichen vor. Klinisch gab es keine Symptomatik (gerade Beinachse, keine Ergussbildung, freie Beweglichkeit, stabile Bandführung, Patella nicht krankhaft).

Für das Funktionssystem "obere Gliedmaßen" beträgt - wie bereits seit 2003 - der GdB 10. Der Kläger leidet in Folge der damaligen Radiusfraktur an leichten Bewegungseinschränkungen. Dr. St. hat, erneut in seiner Zeugenaussage vom 17. November 2016, die Dorsalextension/Palmarflexion mit 30/0/30° (Normwert bis zu 40/0/50°) angegeben. Nach Teil B Nr. 18.13 VG bedingt eine Einschränkung der Streckung/Beugung des Handgelenks auf bis 30/0/40° einen GdB von 10. Ein höherer GdB kommt nicht in Betracht, zumal der Faustschluss komplett möglich ist und keine Druckschmerzen am Handgelenk bestehen. Auch wegen der Beeinträchtigungen an der Schulter rechts ist der GdB der oberen Gliedmaßen nicht zu erhöhen. Dr. Rag hat in der genannten Zeugenaussage vom 18. November 2016 darauf hingewiesen, dass kein Druckschmerz zu provozieren war, eine freie Beweglichkeit bestand und der Supraspinatussehnentest negativ war. Lediglich ein schmerzhafter Bogen bei voller Hebung des Arms war zu finden gewesen. Ein GdB - von höchstens 10 - kommt aber nach Teil B Nr. 18.13 VG erst bei einer geringgradigen Instabilität des Schultergelenks oder bei einer Einschränkung der Armhebung auf bis zu 120° mit entsprechender Einschränkung der Dreh- und Spreizfähigkeit in Betracht.

Die degenerativen Veränderungen der Wirbelsäule, insbesondere im Bereich der Bandscheibe zwischen den Segmenten L5/S1 sind zunächst nur bildgebend festgestellte Veränderungen (vgl. den radiologischen Befundbericht von Dr. St. vom 21. Juni 2016). Die daraus folgenden Funktionsstörungen führen nicht zu einem GdB von mehr als 10. Ein GdB von 20 kommt nach Teil B Nr. 18.9 VG erst bei Wirbelsäulenschäden mit mittelgradigen funktionellen Auswirkungen in wenigstens einem Wirbelsäulenabschnitt (Verformung, rezidivierende oder anhaltende Bewegungseinschränkungen oder eine Instabilität mittleren Grades, häufig rezidivierende und über Tage andauernde Wirbelsäulensyndrome) in Betracht. Bei dem Kläger ist jedoch die Wirbelsäule nicht verformt, sondern lotgerecht und mit physiologischer Lordose. Die Seitneigung ist zwar etwas eingeschränkt, aber mit 2/3 des Normwerts für sich noch nicht mittelgradig. Die Entfaltbarkeit bei der Vorbeuge ist mit einem FBA von 15 cm altersentsprechend gut. Sensomotorische Störungen, insbesondere Schmerzausstrahlungen in die unteren Gliedmaßen, bestehen nicht, das Lasègue’sche Zeigen war negativ. Dies entnimmt der Senat Dr. St.s ergänzender Zeugenaussage vom 17. November 2016.

Der Heuschnupfen des Klägers letztlich (Pollinose) ist allenfalls als Hyperreagibilität mit seltenen und saisonalen Anfällen einzustufen, zumal eine fachärztliche Behandlung nicht stattfindet. Dafür ist nach Teil B Nr. 8.5 VG jedenfalls kein GdB von mehr als 10 festzustellen.

Unter Berücksichtigung der Grundsätze für die Bildung eines Gesamt-GdB, wonach einzelne Teil-GdB nicht addiert werden dürfen und grundsätzlich leichte Gesundheitsstörungen, die nur einen GdB von 10 begründen, nicht zu einer Zunahme des Ausmaßes der Gesamtbeeinträchtigungen führen, ist im Falle des Klägers kein GdB von wenigstens 20 mehr festzustellen.

Die Entscheidung über die Kosten des Berufungsverfahrens beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Gründe für eine Zulassung der Revision (§ 160 Abs. 2 SGG) sind nicht ersichtlich.