12.05.2020 · IWW-Abrufnummer 215585
Verwaltungsgericht Aachen: Beschluss vom 15.04.2020 – 3 L 2/20
Beim Vorliegen von kreislaufabhängigen Störungen der Hirntätigkeit (Schlaganfall) ist die Fahreignung für die Fahrerlaubnisklassen der zweiten Gruppe ("LKW-Führerschein") ohne Einschränkung zu verneinen.
Verwaltungsgericht Aachen
Tenor:
1. Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsteller.
2. Der Streitwert wird auf 5000 Euro festgesetzt.
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Gründe
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1. Der sinngemäße Antrag,
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die aufschiebende Wirkung der Klage gleichen Rubrums ‑ 3 K 1954/19 ‑ gegen die Ordnungsverfügung vom 6. Juni 2019 hinsichtlich der Entziehung der Fahrerlaubnis der Klassen C1, C1E, C und CE wiederherzustellen bzw. hinsichtlich der Zwangsgeldandrohung anzuordnen,
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hat keinen Erfolg.
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In formeller Hinsicht begegnet die getroffene Anordnung der sofortigen Vollziehung der Fahrerlaubnisentziehung keinen rechtlichen Bedenken. Sie ist insbesondere hinreichend schriftlich begründet, vgl. § 80 Abs. 3 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Angesichts der aus der Ungeeignetheit eines Kraftfahrers ‒ hier zum Führen von Fahrzeugen der Gruppe 2 (u. a. Fahrerlaubnisklassen C1, C1E, C und CE) ‒ für die Allgemeinheit resultierenden erheblichen Gefahren bedurfte es bei der gegebenen Sachlage über die erfolgte Begründung hinaus keiner weiteren Ausführungen.
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In materieller Hinsicht fällt die im Rahmen des Aussetzungsverfahrens gemäß § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Abwägung der gegenläufigen Vollziehungsinteressen zu Lasten des Antragstellers aus. Es spricht vorliegend Überwiegendes dafür, dass seine Klage keinen Erfolg haben wird, weil die mit Ordnungsverfügung vom 6. Juni 2019 erfolgte Entziehung der Fahrerlaubnis der Klassen C1, C1E, C und CE rechtmäßig erfolgt ist. Untersagt ist damit ‒ schlagwortartig ‒ das Führen schwerer Lkw (C1), mittlerer Lkw bis 7,5 t (C1E), schwerer Lastzüge (C) und mittlerer Lkw bis 7,5 t mit Anhänger (CE).
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Rechtliche Grundlage für die Entziehung der Fahrerlaubnis der genannten Klassen ist § 3 Abs. 1 des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) in Verbindung mit § 46 der Fahrerlaubnis-Verordnung (FeV). Danach ist einem Kraftfahrzeugführer die Fahrerlaubnis zu entziehen, wenn er sich als ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen erweist. Nach § 46 Abs. 1 Satz 2 FeV ist die Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen insbesondere dann gegeben, wenn Erkrankungen oder Mängel nach der Anlage 4 zur FeV vorliegen und dadurch die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausgeschlossen ist.
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Gemäß Ziffer 6.4 der Anlage 4 zur FeV ist beim Vorliegen von kreislaufabhängigen Störungen der Hirntätigkeit die Fahreignung für die Fahrerlaubnisklassen der zweiten Gruppe (u.a. C1, C1E, C und CE) ohne Einschränkung zu verneinen.
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Erläuternd heißt es in den aktuellen Begutachtungsleitlinien zur Kraftfahreignung (Berichte der Bundesanstalt für Straßenwesen, Heft M 115) im Kapitel 3.9, Stand 1. Febr. 2000 (Krankheiten des Nervensystems), Abschnitt 3.9.4 (Kreislaufabhängige Störungen der Hirntätigkeit) u.a., dass es sich bei jedem Fall von Hirnblutung und Hirndurchblutungsstörungen um ein mit Leistungsausfällen und/ oder Rückfallgefahren verbundenes Leiden handele, bei dem dem Kranken die Belastungen, die beim Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppe 2 (u.a. C1, C1E, C und CE) entstehen, nicht zugemutet werden können.
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Gemessen daran durfte der Antragsgegner den Antragsteller als ungeeignet zum Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppe 2 (u.a. C1, C1E, C und CE) ansehen, weil dieser Mitte 2018 eine Hirndurchblutungsstörung (Hirninfarkt) erlitten hat.
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Am 21. Juli 2018 wurde der Antragsteller stationär im I‒K‒Krankenhaus in F. aufgenommen. Er berichtete über plötzlich auftretende Sprachstörungen, eine auf der linken Körperhälfte auftretende leichte Lähmung (sensormotorische Hemiparese) mit Mundwinkelschiefstand links und stechenden Kopfschmerzen sowie verstärkte Müdigkeit. Die Ärzte diagnostizierten einen Schlaganfall und lokalisierten den Infarkt im rechten Bereich der „Brücke“ des Gehirns. („frischer Infarkt der Pons rechts-paramedian“). Zur Diagnostik bediente sich die Klinik, die eine zertifizierte „Stroke Unit“ besitzt, einer Kernspintomographie des Schädels („cMRT“). Ferner lautete die Diagnose auf arterieller Hypertonie und Nikotinabusus.
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Der vom Antragsgegner zu beurteilende „Zustand nach Hirninfarkt“ lässt die Eignung zum Führen eines Kraftfahrzeuges der Gruppe 2 entfallen, vgl. Ziffer 6.4 der Anlage 4 zur FeV.
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Darauf wird am Ende des nervenärztlichen Fachgutachtens vom 21. Dezember 2018 des Dr. med. S., der auch die verkehrsmedizinische Qualifikation besitzt, schlüssig und nachvollziehbar hingewiesen. Der Umstand, dass der Gutachter aufgrund eines umfangreichen Testverfahrens die Fahreignung zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 im Zusammenhang mit einer ‒ später vom Antragsteller erfolgreich absolvierten Fahrprobe ‒ bejaht hat, steht dazu nicht im Widerspruch. Zum Führen von Kraftfahrzeugen der Gruppe 1 sind die Anforderungen an die Fahreignung anders geregelt. Nur hinsichtlich der Gruppe 1 gilt für Schlaganfallpatienten, dass sie „nach erfolgreicher Therapie und Abklingen des akuten Ereignisses ohne Rückfallgefahr“ wieder als fahrgeeignet angesehen werden können, vgl. 1. Spalte, Ziffer 6.4 der Anlage 4 zur FeV. Bei der - hier maßgeblichen - Gruppe 2 ist die Norm angesichts der besonderen Anforderungen an den Fahrzeugführer im Interesse von Leben und Gesundheit des Fahrers und der anderen Verkehrsteilnehmer strikter: Nach einem Schlaganfall entfällt die Eignung zum Führen schwerer LKW bzw. schwerer Lastzüge, vgl. 2. Spalte, Ziffer 6.4 der Anlage 4 zur FeV. Für die Annahme einer Atypik im Sinne der Vorbemerkung 3 zur Anlage 4 zur FeV, die ausnahmsweise zu einer vom Regelfall abweichenden Fahreignungsbeurteilung führen könnte, ist nichts vorgetragen oder ersichtlich.
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Bei hinreichend feststehender Ungeeignetheit hinsichtlich der Fahrzeugklassen der Gruppe 2 ist der Antragsgegner aber zur Entziehung rechtlich verpflichtet. Ein Ermessen steht im nicht zu.
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Die weitere Interessenabwägung fällt ebenfalls zu Ungunsten des Antragstellers aus.
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In aller Regel trägt allein die voraussichtliche Rechtmäßigkeit einer auf den Verlust der Kraftfahreignung gestützten Ordnungsverfügung die Aufrechterhaltung der Anordnung der sofortigen Vollziehung. Zwar kann die Fahrerlaubnisentziehung die persönliche Lebensführung und damit die Wahrnehmung grundrechtlicher Freiheiten des Erlaubnisinhabers gravierend beeinflussen. Derartige Folgen, die im Einzelfall bis zur Vernichtung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage reichen können, muss der Betroffene jedoch angesichts des von fahrungeeigneten Verkehrsteilnehmern ausgehenden besonderen Risikos für die Sicherheit des öffentlichen Straßenverkehrs und des aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) ableitbaren Auftrags zum Schutz vor erheblichen Gefahren für Leib und Leben hinnehmen.
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Vgl. etwa Oberverwaltungsgericht (OVG) NRW, Beschluss vom 22. Oktober 2013 ‑ 16 B 1124/13 -, juris Rn. 9.
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Besondere Umstände, aufgrund derer vorliegend ausnahmsweise eine abweichende Bewertung veranlasst sein könnte, sind nicht gegeben. Insbesondere reicht das vom Antragsteller geltend gemachte Abklingen der Symptome dafür nicht aus. Maßgeblich sind vielmehr die typischerweise bei Schlaganfallpatienten mit dem Risikohintergrund „arterieller Hypertonie und Nikotinabusus“ bestehenden Rückfallgefahren, die im öffentlichen Interesse der Gewährleistung der Verkehrssicherheit den sofortigen Entzug des „LKW-Führerscheins“ rechtfertigen.
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Auch im Übrigen bleibt der Aussetzungsantrag ohne Erfolg.
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Er dürfte unzulässig geworden sein, weil eine Vollstreckung der zwangsgeldbewehrten Vorlage des früheren Führerscheindokuments erkennbar nicht mehr in Betracht kommt. Der Antragsteller hat nämlich nach einer eidesstattlichen Versicherung über den Verlust seines früheren Führerscheindokuments einen Ersatzführerschein vom Antragsgegner erhalten, auf welchem die hier in Rede stehenden Klassen der Gruppe 2 (C1, C1E, C und CE) ausgetragen sind. Abgesehen davon wären die Entscheidungen auch nicht zu beanstanden gewesen. Die Anordnung, den Führerschein innerhalb von einer Woche nach Zustellung der Ordnungsverfügung abzuliefern, findet ihre Grundlage in § 3 Abs. 2 Satz 3 StVG, § 47 Abs. 1 FeV, die Androhung eines Zwangsgeldes für den Fall der Nicht- oder nicht fristgerechten Ablieferung des Führerscheins in §§ 55 Abs. 1, 57, 60 und 63 des Verwaltungsvollstreckungsgesetzes für das Land Nordrhein-Westfalen (VwVG NRW). Die Höhe des Zwangsgeldes von 250 Euro steht in einem angemessenen Verhältnis zu seinem Zweck, den Antragsteller zur Abgabe seines Führerscheins zu bewegen (vgl. § 58 VwVG NRW).
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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2. Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 52 Abs. 2 i. V. m. § 53 Abs. 2 Nr. 2 des Gerichtskostengesetzes. Nach der Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen,
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etwa Beschluss vom 20. November 2012
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- 16 A 2172/12 -, juris, Rn. 17 f., m.w.N.,
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der sich die Kammer anschließt, ist für ein Hauptsacheverfahren wegen Entziehung einer Fahrerlaubnis ungeachtet der erteilten Fahrerlaubnisklassen stets der Auffang-wert (5.000 Euro) festzusetzen; dieser Wert wird in Fällen der beruflichen Nutzung der Fahrerlaubnis, wie im Fall des Antragstellers, auf 10.000 Euro verdoppelt. Für ein vorläufiges Rechtsschutzverfahren ist die Hälfte dieses Betrages (5.000 Euro) als Streitwert anzusetzen.