12.01.2021 · IWW-Abrufnummer 219833
Bundesgerichtshof: Beschluss vom 02.12.2020 – XII ZB 291/20
a) Wurde in einer durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, liegt eine Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör vor (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 146/20 - juris).
b) Das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet (im Anschluss an Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 146/20 - juris).
Der XII. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat am 2. Dezember 2020 durch den Vorsitzenden Richter Dose und die Richter Schilling, Dr. Günter, Dr. Nedden-Boeger und Guhling
beschlossen:
Tenor:
Auf die Rechtsbeschwerde der Betroffenen wird festgestellt, dass der Beschluss des Amtsgerichts Gießen vom 27. Mai 2020 und der Beschluss der 7. Zivilkammer des Landgerichts Gießen vom 8. Juni 2020 die Betroffene in ihren Rechten verletzt haben.
Das Verfahren ist gerichtskostenfrei.
Die außergerichtlichen Kosten der Betroffenen werden der Staatskasse auferlegt.
Gründe
I.
1
Für die Betroffene, die an einer paranoiden Schizophrenie leidet, wurde im März 2020 ein Betreuer mit dem Aufgabenkreis Gesundheitssorge, Aufenthaltsbestimmung, Entscheidung über unterbringungsähnliche Maßnahmen, Vermögenssorge, Wohnungsangelegenheiten sowie Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten bestellt. Mit Beschluss vom 20. April 2020 genehmigte das Amtsgericht die geschlossene Unterbringung der Betroffenen bis längstens 29. Mai 2020 und die Einwilligung des Betreuers in eine in dem Beschluss näher bezeichnete Zwangsmedikation der Betroffenen. Diesen Beschluss hat das Landgericht auf die Beschwerde der Betroffenen, soweit er die ärztliche Zwangsbehandlung betroffen hat, teilweise aufgehoben.
2
Am 20. Mai 2020 hat der Betreuer die Genehmigung der Unterbringung der Betroffenen und die Genehmigung seiner Einwilligung in die Verlängerung der Zwangsmedikation, jeweils für weitere sechs Wochen über den 29. Mai 2020 hinaus, beantragt. Mit Beschluss vom 21. Mai 2020 hat das Amtsgericht ein Sachverständigengutachten zur Frage der Erforderlichkeit einer geschlossenen Unterbringung und der Zwangsbehandlung in Auftrag gegeben. Nach Eingang des Gutachtens vom 26. Mai 2020 und Anhörung der Betroffenen hat das Amtsgericht mit Beschluss vom 27. Mai 2020 deren Unterbringung in einer geschlossenen Einrichtung und die Einwilligung des Betreuers in eine Zwangsmedikation jeweils bis längstens zum 7. Juli 2020 genehmigt.
3
Die gegen diesen Beschluss gerichtete Beschwerde der Betroffenen hat das Landgericht mit der Maßgabe zurückgewiesen, dass die Zwangsbehandlung sowie die notwendigen Beobachtungen und Kontrolluntersuchungen in der Verantwortung eines Arztes durchzuführen und zu dokumentieren sind. Hiergegen wendet sich die Betroffene mit ihrer Rechtsbeschwerde, mit der sie die Feststellung erstrebt, dass die genannten Beschlüsse sie in ihren Rechten verletzen.
II.
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Die Rechtsbeschwerde hat Erfolg; sie führt zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Beschlüsse des Amts- und des Landgerichts.
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1. Die Statthaftigkeit der Rechtsbeschwerde ergibt sich auch im Fall der - hier vorliegenden - Erledigung der Unterbringungsmaßnahme aus § 70 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FamFG (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 - XII ZB 542/17 FamRZ 2018, 1196Rn. 6 mwN).
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2. Die Entscheidungen von Amts- und Landgericht haben die Betroffene in ihren Rechten verletzt, was nach der in der Rechtsbeschwerdeinstanz entsprechend anwendbaren Vorschrift des § 62 Abs. 1 FamFG festzustellen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 16. Mai 2018 - XII ZB 542/17 -FamRZ 2018, 1196Rn. 7 mwN).
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a) Die Rechtsbeschwerde rügt zu Recht, dass die erstinstanzliche Anhörung der Betroffenen verfahrensfehlerhaft war, weil ihr vor der Anhörung das Sachverständigengutachten vom 26. Mai 2020 nicht überlassen worden ist.
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aa) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats setzt die Verwertung eines Sachverständigengutachtens als Grundlage einer Entscheidung in der Hauptsache gemäß § 37 Abs. 2 FamFG voraus, dass das Gericht den Beteiligten Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt hat. Insoweit ist das Gutachten mit seinem vollen Wortlaut dem Betroffenen im Hinblick auf seine Verfahrensfähigkeit ( § 316 FamFG ) grundsätzlich rechtzeitig vor dem Anhörungstermin zu überlassen, um ihm Gelegenheit zu geben, sich zu diesem und den sich hieraus ergebenden Umständen zu äußern (vgl. Senatsbeschluss vom 4. März 2020 - XII ZB 485/19 -FamRZ 2020, 782Rn. 8 mwN). Davon kann nur unter den Voraussetzungen des entsprechend anwendbaren § 325 Abs. 1 FamFG abgesehen werden (Senatsbeschluss vom 8. Mai 2019 - XII ZB 2/19 -FamRZ 2019, 1181Rn. 9 mwN). Wird das Gutachten dem Betroffenen nicht ausgehändigt, verletzt das Verfahren ihn grundsätzlich in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß Art. 103 Abs. 1 Satz 1 GG (Senatsbeschluss vom 12. Februar 2020 - XII ZB 179/19 -FamRZ 2020, 786Rn. 7 mwN zum Betreuungsrecht).
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bb) Diesen Anforderungen wird das vorliegende Verfahren nicht gerecht.
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Die Voraussetzungen des § 325 Abs. 1 FamFG , um von einer Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an die Betroffene absehen zu können, hat der Sachverständige in seinem Gutachten verneint.
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Aus den Gerichtsakten lässt sich entnehmen, dass der Betroffenen erst bei ihrer Anhörung das Gutachten ausgehändigt und ihr der wesentliche Inhalt des Gutachtens bekannt gegeben worden ist. Vor dem Anhörungstermin ist das Sachverständigengutachten lediglich dem Betreuer und dem Verfahrenspfleger übersandt worden. Dies genügt jedoch nicht.
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Die Bekanntgabe des Gutachtens an den Verfahrenspfleger ersetzt eine Bekanntgabe an den Betroffenen nicht, denn der Verfahrenspfleger ist - anders als ein Verfahrensbevollmächtigter - nicht Vertreter des Betroffenen im Verfahren (vgl. Senatsbeschluss vom 12. Februar 2020 - XII ZB 179/19 -FamRZ 2020, 786Rn. 8 mwN zum Betreuungsrecht).
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Ebenso wenig kann die erforderliche persönliche Bekanntgabe des Sachverständigengutachtens an den Betroffenen durch die Übersendung des Gutachtens an den Betreuer ersetzt werden. Selbst wenn der Betreuer mit der Betroffenen über das Gutachten gesprochen hätte, wofür jedoch Feststellungen fehlen, genügte dies allein nicht, um dem Anspruch der Betroffenen auf rechtliches Gehör gerecht zu werden (vgl. Senatsbeschluss vom 8. Mai 2019 - XII ZB 2/19 FamRZ 2019, 1181Rn. 13 mwN).
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b) Ebenfalls mit Erfolg rügt die Rechtsbeschwerde als verfahrensfehlerhaft, dass das Beschwerdegericht von einer erneuten Anhörung der Betroffenen abgesehen hat.
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aa) Nach § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG hat das Gericht den Betroffenen vor einer Unterbringungsmaßnahme persönlich anzuhören und sich einen persönlichen Eindruck von ihm zu verschaffen. Diese Pflicht zur persönlichen Anhörung des Betroffenen besteht nach § 68 Abs. 3 Satz 1 FamFG grundsätzlich auch im Beschwerdeverfahren. Zwar räumt § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG auch in einem Unterbringungsverfahren dem Beschwerdegericht die Möglichkeit ein, von einer erneuten Anhörung des Betroffenen abzusehen. Dies setzt jedoch unter anderem voraus, dass die Anhörung bereits im ersten Rechtszug ohne Verletzung von zwingenden Verfahrensvorschriften vorgenommen worden ist (vgl. Senatsbeschluss vom 7. Februar 2018 - XII ZB 334/17 -FamRZ 2018, 707Rn. 15 mwN).
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bb) Nach diesen Maßgaben durfte das Beschwerdegericht im vorliegenden Fall nicht von einer persönlichen Anhörung der Betroffenen nach § 68 Abs. 3 Satz 2 FamFG absehen. Denn die Anhörung der Betroffenen durch das Amtsgericht litt an einem wesentlichen Verfahrensmangel, weil ihr das eingeholte Sachverständigengutachten nicht rechtzeitig vor dem Anhörungstermin überlassen worden ist. Das Beschwerdegericht hätte diesen Mangel durch die Übersendung des Sachverständigengutachtens an die Betroffene und deren anschließende erneute Anhörung beheben müssen.
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c) Die Betroffene ist durch diese Verfahrensmängel in ihrem Freiheitsgrundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG verletzt worden.
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aa) Die Feststellung, dass ein Betroffener durch die angefochtene Entscheidung in seinen Rechten verletzt ist, kann grundsätzlich auch auf einer Verletzung des Verfahrensrechts beruhen. Dabei ist die Feststellung nach § 62 FamFG jedenfalls dann gerechtfertigt, wenn der Verfahrensfehler so gravierend ist, dass die Entscheidung den Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung hat, der durch Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 146/20 - juris Rn. 17 mwN).
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bb) Wurde in einer - wie hier - durch Zeitablauf erledigten Unterbringungssache das für die Entscheidung maßgebliche Gutachten dem Betroffenen nicht bekannt gegeben, ist von einer Verletzung des Anspruchs des Betroffenen auf rechtliches Gehör auszugehen. Schon allein dieser Verfahrensfehler ist so gewichtig, dass er die Feststellung nach § 62 FamFG zu rechtfertigen vermag, weil er einer Verwertung des gemäß § 321 Abs. 1 FamFG unabdingbaren Sachverständigengutachtens entgegensteht (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 146/20 - juris Rn. 18 mwN).
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Auch das Unterbleiben einer verfahrensordnungsgemäßen persönlichen Anhörung des Betroffenen stellt einen Verfahrensmangel dar, der derart schwer wiegt, dass der genehmigten Unterbringungsmaßnahme insgesamt der Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung anhaftet. Die durch § 319 Abs. 1 Satz 1 FamFG angeordnete persönliche Anhörung gehört zu den bedeutsamen Verfahrensgarantien, deren Verletzung die Feststellung nach § 62 FamFG rechtfertigt (vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 146/20 - juris Rn. 19 mwN).
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cc) Das nach § 62 Abs. 1 FamFG erforderliche berechtigte Interesse der Betroffenen daran, die Rechtswidrigkeit der - hier durch Zeitablauf erledigten Unterbringungsmaßnahme feststellen zu lassen, liegt vor. Die gerichtliche Anordnung oder Genehmigung einer freiheitsentziehenden Maßnahme bedeutet stets einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff im Sinne des § 62 Abs. 2 Nr. 1 FamFG (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. Senatsbeschluss vom 14. Oktober 2020 - XII ZB 146/20 - juris Rn. 20 mwN).
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3. Von einer weiteren Begründung der Entscheidung wird abgesehen, weil sie nicht geeignet wäre, zur Klärung von Rechtsfragen grundsätzlicher Bedeutung, zur Fortbildung des Rechts oder zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung beizutragen ( § 74 Abs. 7 FamFG ).
Dose
Schilling
Günter
Nedden-Boeger
Guhling