09.08.2005 · IWW-Abrufnummer 052243
Bundesgerichtshof: Urteil vom 14.07.2005 – III ZR 391/04
Der Grundsatz, daß die Träger von Pflegeeinrichtungen ihre Leistungen nach dem allgemein anerkannten Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse bzw. - soweit Heimverträge betroffen sind, für die das zum 1. Januar 2002 in Kraft getretene Heimgesetz i.d.F. vom 5. November 2001 (BGBl. I S. 2970) gilt - nach dem jeweils allgemein anerkannten Stand fachlicher Erkenntnisse zu erbringen haben, ist auch bei der Frage zu beachten, wie sie auf eine hervorgetretene Sturzgefährdung von Heimbewohnern zu reagieren haben (im Anschluß an das Senatsurteil vom 28. April 2005 - III ZR 399/04 - NJW 2005, 1937, vorgesehen für BGHZ).
BUNDESGERICHTSHOF
IM NAMEN DES VOLKES
URTEIL
III ZR 391/04
Verkündet am:
14. Juli 2005
in dem Rechtsstreit
Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 14. Juli 2005 durch den Vorsitzenden Richter Schlick und die Richter Dr. Wurm, Dr. Kapsa, Dörr und Galke
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Beklagten wird das Grundurteil des 7. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 23. September 2004 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszuges, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen
Tatbestand:
Die klagende Krankenkasse begehrt vom Beklagten, dem Träger eines Pflegeheims, aus übergegangenem Recht der bei ihr krankenversicherten I. M. (im folgenden Geschädigte) die Erstattung von verauslagten Behandlungskosten. Die im Jahr 1915 geborene Geschädigte lebte seit dem 4. März 1997 in vollstationärer Pflege des Beklagten nach der Pflegestufe II. Das Bedürfnis nach vollstationärer Pflege war aus Anlaß von drei Stürzen im Jahre 1996 hervorgetreten, bei denen sie sich unter anderem eine Trümmerfraktur des linken Schultergelenks zugezogen hatte. Im Pflegeheim wurde die Geschädigte auf die Möglichkeit hingewiesen, die in ihrem Zimmer befindliche Klingel zu betätigen, wenn sie Hilfe benötigte. Sie machte von dieser Möglichkeit häufig Gebrauch oder rief auch nach einer Schwester. In vielen Fällen war sie jedoch bemüht, Dinge völlig selbständig zu erledigen, wie etwa den Toilettengang. Das häufig, auch am Unfalltag, geäußerte Angebot, zu ihrer Sicherheit während der Nacht das Bettgitter hochzuziehen, lehnte sie ab. Das Pflegepersonal versuchte daher, der Gefährdung infolge nächtlichen Aufstehens dadurch entgegenzuwirken, daß ein Toilettenstuhl an das Bett der Geschädigten gestellt und im Bad das Licht angelassen wurde. Am 28. Januar, 31. Januar und 24. Februar 2000 wurden vom Nachtdienst des Pflegeheims Stürze der Geschädigten dokumentiert, die ohne schwerwiegende Folgen blieben. Am 9. März 2000 erlitt die Geschädigte bei einem Sturz gegen 22.30 Uhr unter anderem Frakturen des Halswirbelkörpers C 1/C 2 mit Lähmung aller vier Extremitäten. Sie befand sich bis zu ihrem Tod am 7. Juni 2000 in Krankenhausbehandlung. Die Klägerin macht den Beklagten für die Folgen dieses Vorfalls verantwortlich, weil sein Pflegepersonal den Sturz hätte vermeiden müssen. Als mögliche Maßnahmen der Sturzprophylaxe seien eine Sensormatratze, ein Lichtschrankensystem, Bettverstellungen, die Veränderungen des Bodenbelags oder eine Hüftschutzhose in Betracht gekommen. Notfalls hätte das Pflegepersonal auch Entscheidungen gegen den Willen der Geschädigten treffen müssen.
Das Landgericht hat die auf Ersatz von 168.332,50 DM (= 86.067,04 ¤) nebst Zinsen gerichtete Klage abgewiesen, das Berufungsgericht hat sie auf die Berufung der Klägerin dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt. Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision erstrebt der Beklagte die Wiederherstellung des landgerichtlichen Urteils.
Entscheidungsgründe:
Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das Berufungsgericht.
I.
Das Berufungsgericht, dessen Entscheidung in PflR 2005, 228 (m. Anm. Süß) veröffentlicht ist, hat die Klage dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt, weil der Beklagte nicht alles ihm Mögliche und Zumutbare getan habe, um den Sturz vom 9. März 2000 zu verhindern. Die Geschädigte sei nach dem dritten Sturz im Februar 2000 akut sturzgefährdet gewesen. Angesichts des Umstandes, daß die Geschädigte jeweils zur Nachtzeit in ihrem Zimmer gestürzt sei, hätten die vom Personal des Beklagten ergriffenen Maßnahmen zur Verhinderung künftiger Stürze nicht genügt. Der Ernst der Lage hätte es geboten, unter Einschaltung eines Arztes, der Heimleitung oder auch des Neffen oder anderer Vertrauenspersonen das intensive Gespräch mit der Geschädigten zu suchen und eindringlich darauf hinzuwirken, daß sie vielleicht doch ihr Einverständnis zum Hochziehen des Bettgitters in der Nachtzeit erteile. Hätte dies nicht erreicht werden können, hätte wegen der zeitweise auftretenden Verwirrtheit der Geschädigten das Vormundschaftsgericht über die Situation informiert werden müssen. Die nachts vorhandene Sturzgefahr sei so groß und akut gewesen, daß die Anordnung des Hochziehens des Bettgitters in der Nachtzeit im Rahmen der gemäß § 1906 Abs. 4 BGB vorzunehmenden Abwägung erforderlich und verhältnismäßig gewesen sei. Möglicherweise hätte auch die Einleitung eines solchen Verfahrens, das mit einer persönlichen Anhörung verbunden gewesen wäre, zu einem Sinneswandel der Geschädigten geführt. Auf der schuldhaften Unterlassung dieser berufsspezifischen Pflichten, die dem Schutz von Leben und Gesundheit dienten, beruhe auch der eingetretene Schaden. Die Ungewißheit, ob die unterlassenen Maßnahmen den Sturz verhindert hätten, gehe zu Lasten der Beklagten.
II.
Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfung nicht in allen Punkten stand.
1. Richtig ist allerdings, daß dem beklagten Heimträger aus dem Heimvertrag Obhutspflichten zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit der Heimbewohnerin erwuchsen, deren schuldhafte Verletzung zu Schadensersatzansprüchen führen konnte, die nach § 116 Abs. 1 SGB X auf die Klägerin übergingen (vgl. Senatsurteil vom 28. April 2005 - III ZR 399/04 - NJW 2005, 1937 m. Anm. Lang/Herkenhoff S. 1905 = FamRZ 2005, 1074 m. Anm. Bienwald = PflR 2005, 267, 268 m. Anm. Roßbruch; siehe auch Anm. Klie Altenheim 7/2005, 27). Zwar ist der genaue Inhalt des zwischen der Geschädigten und dem Beklagten geschlossenen Heimvertrags nicht bekannt, weil er nicht in das Verfahren eingeführt worden ist. Der Sache nach muß es sich aber um einen der Bestimmung des § 4e HeimG in der Fassung von Art. 19 Nr. 2 des Pflege-Versicherungsgesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I S. 1014) unterliegenden Heimvertrag mit einem Leistungsempfänger der sozialen Pflegeversicherung gehandelt haben, dessen Leistungsinhalte sich in bezug auf die allgemeinen Pflegeleistungen sowie Unterkunft und Verpflegung und etwaiger Zusatzleistungen nach dem Elften Buch Sozialgesetzbuch bestimmen. Dieses verlangt von den Pflegeeinrichtungen die Leistungserbringung nach allgemein anerkanntem Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse (§ 11 Abs. 1 Satz 1, § 28 Abs. 3 SGB XI; für die Zeit ab 1. Januar 2002 vgl. auch die Regelung in § 3 Abs. 1 HeimG in der Fassung vom 5. November 2001, BGBl. I S. 2970). Vorbehaltlich einer hiernach weitergehenden Ausgestaltung der von dem Heimträger wahrzunehmenden Pflegeaufgaben traf den Beklagten jedenfalls die oben bezeichnete Obhutspflicht.
2. Zu Recht geht das Berufungsgericht auch davon aus, daß die Geschädigte akut sturzgefährdet war. Dabei ist seine Beurteilung, daß dem von der Klägerin vor der Leistungsgewährung eingeholten Gutachten des Medizinischen Dienstes vom Dezember 1996 kein wesentlicher Erkenntniswert mehr für die Einschätzung des Sturzrisikos der Geschädigten zukam, weil ihre Mobilität in der Zwischenzeit verbessert worden war, nicht zu beanstanden. Das aktuelle Sturzrisiko ergab sich aber aus den drei Stürzen im Januar und Februar 2000. Auch wenn im Verfahren nicht näher geklärt worden ist, auf welche genauen Ursachen die Stürze zurückzuführen waren, folgte allein aus der Häufung dieser Vorfälle, die sich alle im Zimmer der Geschädigten zur Nachtzeit ereigneten - wahrscheinlich, weil die Geschädigte die Toilette aufsuchen wollte -, ein besonderes Sturzrisiko, dem der Beklagte in einer der Situation angepaßten Weise nach allgemein anerkanntem Stand medizinisch-pflegerischer Erkenntnisse Rechnung zu tragen hatte.
3. a) Soweit das Berufungsgericht jedoch zugrunde legt, der Beklagte habe es versäumt, mit der Geschädigten, notfalls unter Einschaltung eines Arztes oder von Vertrauenspersonen, ein intensives Gespräch mit dem Ziel zu suchen, ihr Einverständnis zu einem Hochziehen des Bettgitters in der Nachtzeit zu erteilen, rügt die Revision zu Recht, daß es den Vortrag des Beklagten hierzu nicht hinreichend berücksichtigt und im übrigen die Entscheidung auf einen Gesichtspunkt gestützt habe, den die Parteien erkennbar übersehen bzw. für unerheblich gehalten hätten, ohne daß ihnen zuvor nach § 139 Abs. 2 ZPO ein entsprechender Hinweis erteilt worden sei. Nach Auffassung der Klägerin war von dem Beklagten zu verlangen, angesichts der hohen Sturzgefährdung die Bewohnerin ständig zu beaufsichtigen oder sie - auch gegen ihren Willen - auf der Grundlage einer Einzelabwägung im Hinblick auf das die Beeinträchtigung der Menschenwürde überwiegende Sicherheitsinteresse zu fixieren. Daneben sei im Rahmen einer Sturzprophylaxe die Verwendung einer Sensormatratze, eines Lichtschrankensystems, Bettverstellungen, die Veränderung des Bodenbelags oder eine Hüftschutzhose in Betracht gekommen. Dem hatte der Beklagte vor allem entgegengehalten, die Geschädigte habe sich immer gegen das Hochziehen des Bettgitters ausgesprochen, auch am Unfalltag. Danach stand die Frage, ob eine Pflichtverletzung in der Unterlassung eines - intensiv geführten - Gesprächs liegen könnte, außerhalb des Blickwinkels der Parteien. Auch in der mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht wurde die für die Pflege zuständige Fachbereichsleiterin des Beklagten nicht näher zu diesem Gesichtspunkt befragt. Danach hatte der Beklagte keinen Anlaß, von sich aus Verlauf und Intensität der nach den Feststellungen des Berufungsgerichts mit der Geschädigten unstreitig geführten Gespräche näher darzulegen. Die Einschätzung dieser Gespräche durch das Berufungsgericht als "mehr oder weniger routinemäßig" und ungenügend beruht damit auf einer unzureichenden Grundlage. Es kommt hinzu, daß das Berufungsgericht auch das Beweisanerbieten des Beklagten übersehen hat, nach den Stürzen im Jahr 2000 sei die Situation umgehend mit dem behandelnden Arzt besprochen worden, der die Medikation der Geschädigten geändert und weitere Maßnahmen nicht für erforderlich gehalten habe.
b) Es ist auch nicht hinreichend geklärt, ob der Beklagte verpflichtet war, das Vormundschaftsgericht über die Situation zu informieren. Daß die Voraussetzungen für die Einleitung einer Betreuung oder für den Erlaß einer Anordnung nach § 1908i Abs. 1, § 1846 BGB vorgelegen hätten, beruht auf einer unzureichenden Würdigung des Prozeßstoffs. Zwar mochte die Bemerkung einer Mitarbeiterin des Beklagten im Unfallfragebogen "Hbw war sehr verwirrt, stand wieder von allein auf und stürzte" einen hinreichenden Anlaß bieten, der Frage näher nachzugehen, ob das Verhalten der Geschädigten als Folge einer geistigen Beeinträchtigung auf mangelhafter Einsicht in die Situation beruhen konnte und nicht Ausdruck eines frei geäußerten Willens war. Die Klägerin hatte jedoch selbst nicht geltend gemacht, daß bei der Geschädigten die Voraussetzungen für die Einleitung einer Betreuung vorgelegen hätten. Zudem hatte der Beklagte unter Beweisantritt vorgetragen, die Geschädigte sei trotz ihres hohen Alters zeitlich, örtlich und situativ in der Regel orientiert und, was für eine Bewohnerin eines Altenpflegeheims eher ungewöhnlich sei, besonders auf ihre Unabhängigkeit bedacht gewesen. Dementsprechend habe sie zwar durchaus die Möglichkeit wahrgenommen, die Klingel zu betätigen, um Unterstützung zu erhalten, aber auch vielfach ihre Dinge selbständig durchgeführt, wie z.B. regelmäßig den Toilettengang. Vor diesem Hintergrund kann der Bemerkung "sehr verwirrt" im Unfallfragebogen nicht ohne nähere Aufklärung die Bedeutung beigemessen werden, die Geschädigte habe nicht mehr selbständig für sich entscheiden können, ob sie sich ohne fremde Hilfe abends noch einmal an ihren Zimmertisch setzen oder die Toilette aufsuchen wollte. Von der Einschätzung der geistig-seelischen Situation der Geschädigten hängt aber weitgehend auch die Frage ab, in welcher Weise mögliche Maßnahmen zu besprechen waren, die ihre Sturzgefährdung mindern konnten. Im übrigen müßte auch bei Einschränkungen im geistig-seelischen Bereich abgewogen werden, ob dem Wunsch des Heimbewohners, die in Rede stehenden Verrichtungen selbständig auszuführen, nicht weitgehend Rechnung zu tragen ist (vgl. Senatsurteil vom 28. April 2005 aaO S. 1938 unter Bezugnahme auf § 2 Abs. 1 HeimG).
III.
Fehlt es danach an tragfähigen Feststellungen zu einer schuldhaften Verletzung von Pflichten aus dem Heimvertrag, kann das angefochtene Urteil nicht bestehenbleiben. Die Sache ist deshalb an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Für das weitere Verfahren weist der Senat darauf hin, daß die Klägerin für eine mögliche Pflichtverletzung der Mitarbeiter des Beklagten beweispflichtig ist. Der Umstand, daß die Heimbewohnerin im Bereich des Pflegeheims des Beklagten gestürzt ist und sich dabei verletzt hat, erlaubt nicht den Schluß auf eine schuldhafte Pflichtverletzung des Pflegepersonals (vgl. Senatsurteil vom 28. April 2005 aaO S. 1938). Sollte das Berufungsgericht erneut zu dem Ergebnis kommen, der Beklagten seien Versäumnisse zuzurechnen, können der Klägerin in bezug auf die Frage, ob der Unfall auf ihnen beruht, nach allgemeinen Grundsätzen Beweiserleichterungen zugute kommen (vgl. Senatsurteil vom 21. Oktober 2004 - III ZR 254/03 - NJW 2005, 68, 71 f). Diese können bis zu einer Umkehrung der Beweislast reichen, wenn zur Gewißheit des Tatrichters feststeht, daß die Geschädigte oder etwa für sie berufene Entscheidungsträger Vorschlägen des Beklagten, das Sturzrisiko erfolgversprechend zu mindern, gefolgt wäre.