· Fachbeitrag · Ermittlung des Patientenwillens
Patientenverfügung: BGH gibt Auslegungtipps
von RAin Sybille M. Meier, Berlin
| Der BGH hat nach Inkrafttreten des Patientenverfügungsgesetzes am 1.9.09 in drei grundlegenden Beschlüssen zum Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen Stellung genommen (17.9.10, XII ZB 202/13; 6.7.16, XII ZB 61/16 und zuletzt am 8.2.17, XII ZB 604/15, Abruf-Nr. 192840 ). In der aktuellen Entscheidung präzisierte er die Anforderungen, die an eine Patientenverfügung zu stellen sind und verdeutlichte aufs neue die gesetzlichen Pflichten und Aufgaben der beteiligten Akteure (Betreuer/Bevollmächtigter sowie Arzt) bei der Umsetzung des Patientenwillens. |
Sachverhalt
Die Betroffene erlitt 2008 einen Schlaganfall und befindet sich seit einem Herz-Kreislaufstillstand in einem wachkomatösen Zustand. Sie wird über eine Magensonde (PEG) künstlich ernährt und mit Flüssigkeit versorgt. 1998 unterzeichnete die Betroffene eine schriftliche „Patientenverfügung“ folgenden Inhalts:
|
Für den Fall, dass ich (…) aufgrund von Bewusstlosigkeit oder Bewusstseinseintrübung (…) nicht mehr in der Lage bin, meinen Willen zu äußern, verfüge ich:
|
In Ansehung von zwei Wachkoma-Patienten aus ihrem persönlichen Umfeld äußerte die Betroffene mehrfach im Jahre 1998 gegenüber verschiedenen Familienangehörigen und Bekannten, sie wolle nicht künstlich ernährt werden, nicht so daliegen und so am Leben erhalten werden, lieber sterbe sie. Im Juni 2008 sagte die Betroffene trotz vorhandener Trachealkanüle ihrer Therapeutin, sie wolle sterben.
Nach Vorlage der Patientenverfügung aus 1998 bestellte das AG den Sohn der Betroffenen zum Betreuer und deren Ehemann zum Ersatzbetreuer.
2014 erzielte der Sohn mit dem behandelnden Arzt Einvernehmen darüber, die künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr bei der Betroffenen mit Hinblick auf ihre Festlegungen in der „Patientenverfügung“ einzustellen. Dem widersprach der Ehemann.
Das AG lehnte die von der Betroffenen, vertreten durch ihren Sohn, beantragte Einstellung der künstlichen Ernährung und Flüssigkeit ab; die dagegen gerichtete Beschwerde wurde durch das LG zurückgewiesen. Die zugelassene Rechtsbeschwerde der Betroffenen und ihres Sohnes waren erfolgreich. Der angegriffene Beschluss des LGs wurde aufgehoben und zurückverwiesen.
Entscheidungsgründe
In seiner Entscheidung vertiefte der BGH seine Rechtsprechung zu den Anforderungen an eine wirksame Patientenverfügung. Diese ist nunmehr in § 1901a BGB legal definiert als eine schriftliche Festlegung eines einwilligungsfähigen Volljährigen in bestimmte, zum Zeitpunkt der Festlegung noch nicht unmittelbar bevorstehende Untersuchungen seines Gesundheitszustandes, Heilbehandlungen oder ärztliche Eingriffe.
Hat also ein Patient seinen eigenen Willen zu medizinischen Behandlungsfragen in einer wirksamen Patientenverfügung niedergelegt und trifft diese auf die konkret eingetretene Lebens- und Behandlungssituation zu, muss der Abbruch lebenserhaltender Maßnahmen nicht nach § 1904 Abs. 2 BGB vom Betreuungsgericht genehmigt werden.
Der Betroffene hat dann selbst entschieden. Der Betreuer/Bevollmächtigte muss in diesen Fällen dem Patientenwillen Ausdruck und Geltung verschaffen.
Die Erklärungen des Verfügenden müssen jedoch dem Bestimmtheitsgrundsatz genügen. Insoweit ist in der Patientenverfügung festzulegen, welche Maßnahmen in welcher (konkreten) Behandlungssituation durchgeführt werden oder unterbleiben sollen. Eine Patientenverfügung besteht somit notwendigerweise aus zwei Elementen:
- Der Beschreibung von Krankheitssituationen, in denen sie Geltung beanspruchen soll und
- Handlungsanweisungen, die von dem Betreuer/Bevollmächtigten umgesetzt werden sollen.
Im Idealfall besteht Kongruenz zwischen der Behandlungssituation und den beschriebenen ärztlichen Maßnahmen, die durchgeführt werden bzw. unterbleiben sollen (z. B.: Wenn ich einmal einen Schlaganfall bekomme, soll eine Lysebehandlung unterbleiben).
Einwilligungsunfähiger und einwilligungfähiger Patient
Für einen Patienten, der bereits an einer Erkrankung wie etwa Demenz leidet, die einen progredienten Verlauf nimmt, ist es unter Zuhilfenahme ärztlicher Beratung möglich, genau festzulegen, welche Behandlungsoptionen in welchem Krankheitsstadium genau ergriffen werden oder unterbleiben sollen.
Schwieriger ist es, eine Patientenverfügung für eine gesunde, im Leben stehende Person abzufassen. Hier kommt der BGH dem Verfügenden entgegen: Mit Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz ist es ausreichend, umschreibend Behandlungssituationen festzulegen, in denen die Verfügung gelten soll. Gleichzeitig sind die ärztlichen Maßnahmen genau zu bezeichnen, in die der Ersteller einwilligt oder untersagt, etwa durch Angaben zur Schmerz- und Symptombehandlung, künstlichen Ernährung und Flüssigkeitszufuhr, Wiederbelebung, künstlichen Beatmung, Antibiotikagabe oder Dialyse.
Der Betroffene muss nicht seine eigene Biografie als Patient vorausahnen und künftige Fortschritte in der Medizin vorwegnehmend berücksichtigen. Insoweit unterscheidet sich die Situation eines einwilligungsunfähigen Patienten von derjenigen eines einwilligungsfähigen Patienten.
Ein einwilligungsfähiger Patient ist nach § 630e BGB über sämtliche für die Einwilligung wesentlichen Umstände im Hinblick auf die Diagnose und Therapie aufzuklären. Dieses hohe Maß an Präzision kann in einer Patientenverfügung selten erreicht werden.
Anforderungen an Konkretheit der Anweisungen
Demgegenüber enthalten allgemeine Anweisungen, wie „menschenwürdig sterben zu wollen“ keine hinreichend konkretisierten Handlungsentscheidungen. Gleiches gilt für die Angabe der Betroffenen, es sollen „lebensverlängernde Maßnahmen unterbleiben“. Erstmalig statuierte jedoch der BGH, dass in diesen Fällen der Betreuer/Bevollmächtigten die Erklärungen in der Verfügung auslegen muss, um den Patientenwille zu ermitteln.
Bei unzureichend beschriebenen ärztlichen Maßnahmen können somit die Wünsche des Patienten durch Bezugnahme auf ausreichend umschriebene Krankheiten oder Behandlungssituationen konkretisiert werden. Zwar ist einerseits die Patientenverfügung nach ihrem Wortlaut auszulegen, andererseits ist aber der Gesamtzusammenhang der Urkunde zu berücksichtigen. Dann ist zu fragen, ob sich daraus ein hinreichend eindeutig zu bestimmender Patientenwille ergibt.
Vorliegend legte die Betroffene fest, lebensverlängernde Maßnahmen sollen für den Fall unterbleiben, dass keine Aussicht mehr auf eine Wiedererlangung des Bewusstseins besteht. Nach der zutreffenden Auffassung des BGH beschrieb die Betroffene damit eine konkrete Behandlungssituation, in der sie keine weiteren lebensverlängernden Maßnahmen mehr wünscht. Aus der Bestimmung, die Behandlung und Pflege solle in diesem Fall nur noch auf die Linderung von Schmerzen, Unruhe und Angst gerichtet sein, könnte der Wille der Betroffenen gefolgert werden, in dieser besonderen gesundheitlichen Situation in den Abbruch der künstlichen Ernährung einzuwilligen.
Vor diesem Hintergrund erfolgte die Zurückverweisung an das LG. Es sind noch Feststellungen zu treffen dahingehend, inwieweit der konkrete Zustand der Betroffenen im Wachkoma ihr Bewusstsein entfallen lässt und ob in diesem Fall eine Aussicht auf Wiedererlangung des Bewusstseins besteht.
Hinweise des BGH zum weiteren Verfahren
Der BGH gab zum weiteren Verfahren Hinweise. Stellt das LG eine wirksame Patientenverfügung i. S. d. § 1901a BGB fest, die auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation zutrifft, hat es ein sogenanntes Negativattest zu erteilen, aus dem sich ergibt, dass eine gerichtliche Genehmigung nicht erforderlich ist. Ein solches wird auch erteilt, wenn Veranlassung für die Ermittlung des Patientenwillens bestand, aber das Gericht nach erfolgter Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, dass die Erteilung, die Nichterteilung oder der Widerruf der Einwilligung dem festgestellten Willen des Patienten entspricht.
In der Entscheidung vom 17.9.14 betonte der BGH, dass wegen des schwerwiegenden Eingriffs und des hohen Rangs der betroffenen Rechtsgüter die Schwelle für ein gerichtliches Einschreiten nicht zu hoch anzusetzen ist und das Betreuungsgericht das Genehmigungsverfahren nach § 1904 Abs. 2 BGB immer durchführen muss, wenn einer der Handelnden Zweifel daran hat, ob das geplante Vorgehen dem Willen des Betroffenen entspricht. Dies vermittelt der Entscheidung des Betreuers/des Bevollmächtigten Legitimität, die geeignet ist, diesen subjektiv zu entlasten und ihn vor einer abweichenden strafrechtlichen nachgelagerten Beurteilung zu schützen.
Kommt jedoch das LG zu dem Ergebnis, die derzeitige Gesundheitssituation der Betroffenen entspreche nicht ihren Festlegungen in der Verfügung, so ist wegen der von dem Sohn beabsichtigen Änderung des Therapieziels ein betreuungsgerichtliches Genehmigungsverfahren durchzuführen. Zwar besteht zwischen dem alleinvertretungsberechtigten Sohn der Betroffenen und dem behandelnden Arzt Einvernehmen über die Einstellung der künstlichen Ernährung der Betroffenen. Dies macht normalerweise das betreuungsgerichtliche Genehmigungserfordernis entbehrlich. Allerdings widersprach der Ehemann der Betroffenen als zweiter alleinvertretungsberechtigter Betreuer der Einstellung der künstlichen Ernährung. Dies lässt das Einvernehmen zwischen Betreuer und behandelndem Arzt entfallen und bedingt das Genehmigungserfordernis nach § 1904 Abs. 1 BGB.
Behandlungswünsche und mutmaßlicher Wille
Die betreuungsgerichtliche Genehmigung nach § 1904 Abs. 2 BGB ist zu erteilen, wenn die Nichteinwilligung oder der Widerruf der Einwilligung dem Willen des Betreuten entspricht (§ 1904 Abs. 3 BGB). Das Betreuungsgericht hat die Entscheidung des Betreuers/des Bevollmächtigten zum Schutz des Betreuten dahingehend zu überprüfen, ob diese Entscheidung tatsächlich dem ermittelten Patientenwillen entspricht. Gerichtlicher Überprüfungsmaßstab ist dabei der individuelle Patientenwille. Dabei differenziert das Gesetz zwischen den Behandlungswünschen einerseits und dem mutmaßlichen Willen des Betroffenen andererseits.
Behandlungswünsche i. S. d. §§ 1901a Abs. 2 BGB können alle Äußerungen eines Betroffenen sein, die Festlegungen für eine konkrete Lebens- und Behandlungssituation enthalten, aber den Anforderungen an eine Patientenverfügung nicht entsprechen. Z. B., weil sie nicht schriftlich abgefasst wurden oder aber keine antizipierenden Entscheidungen beinhalten. Zutreffend statuierte BGH, dass Behandlungswünsche nur aussagekräftig sind, wenn sie
- in Ansehung einer Erkrankung zeitnah geäußert wurden,
- konkrete Bezüge zur aktuellen Behandlungssituation aufweisen und
- die Zielvorstellung des Patienten erkennen lassen.
Insbesondere stellte der BGH klar, dass bei den Behandlungswünschen ein „vergleichbares Maß an Bestimmtheit“ wie bei einer verbindlichen Patientenverfügung verlangt werden muss.
Lassen sich aus der Patientenverfügung keine ausreichend konkreten Behandlungswünsche des Betroffenen herauslesen, ist im Weiteren zu prüfen, ob ein Abbruch der künstlichen Ernährung seinem mutmaßlichen Willen entspricht. Auf diesen ist jedoch nur abzustellen, wenn sich ein auf die aktuelle Lebens- und Behandlungssituation bezogener Wille nicht feststellen lässt. Der mutmaßliche Wille ist anhand konkreter Anhaltspunkte zu ermitteln, insbesondere anhand früherer mündlicher oder schriftlicher Äußerungen, die jedoch keinen Bezug zur aktuellen Lebens- und Behandlungssituation, zu ethnischer oder religiöser Überzeugungen und zu sonstigen persönlichen Wertvorstellungen des Betroffenen aufweisen.
Beachten Sie | Der Betreuer stellt letztlich eine These auf, wie sich der Betroffene selbst in der konkreten Situation entschieden hätte, unterstellt, er könnte noch über sich selbst bestimmen. Gleichwohl ruft der BGH zur Zurückhaltung bei der Unterstellung eines mutmaßlichen Willens auf. Die Willensbekundung für oder gegen bestimmte medizinische Maßnahmen darf vom Betreuer/Bevollmächtigten nicht durch einen Rückgriff auf den mutmaßlichen Willen des Betroffenen korrigiert werden. Der Patientenwille ist durch Auslegung zu ermitteln:
- Vorliegend war zu berücksichtigen, dass der Sohn ausschließlich als Vertrauensperson von der Betroffenen benannt worden war.
- Zum anderen hatte die Betroffene in Ansehung zweier künstlich ernährter Patienten aus ihrem Umfeld wiederholt geäußert, nicht so daliegen und künstlich ernährt werden zu wollen; lieber wolle sie sterben.
- Auch der von dem Ehemann vorgetragene Einwand, sie sei eine gläubige und praktizierende Katholikin gewesen, kann für sich gesehen einem Abbruch der Behandlung nicht entgegenstehen. Die Betroffene hatte mit keinem der Zeugen über Glaubensinhalte gesprochen.
- Ferner stellte der BGH klar, dass auch mit Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG nicht auf den Willen des widersprechenden Ehemanns, der die Betroffene zu Hause pflegt, abzustellen ist. Dies wäre nur der Fall, wenn die Betroffene in der Vergangenheit ihre eigenen Wünsche stets hinter denen des Ehemanns zurückgestellt hätte.
Relevanz für die Praxis
Die Entscheidung des BGH verdeutlicht aufs Neue, wie schwierig für die handelnden Akteure Betreuer/Bevollmächtigter und Arzt die Ermittlung und Umsetzung des individuellen Patientenwillens im Einzelfall ist. Der BGH vertiefte auch in dieser Entscheidung seine bisherige Rechtsprechung zur notwendigen Konkretheit von Patientenverfügungen, wobei der Inhalt der Urkunde und deren Zusammenhang auslegungsfähig sind. Im Zweifel ist dem Betreuer/Bevollmächtigten anzuraten, ein betreuungsgerichtliches Genehmigungsverfahren zu initiieren und sei es auch nur mit dem Ziel, ein Negativattest zu erhalten.
Checkliste / Acht Prüfungsschritte zur Ermittlung und Durchsetzung des Patientenwillens |
|