· Fachbeitrag · Refresher
Richtgrößenprüfung
von RA, FA Medizin- und Sozialrecht Dr. Stefan Stelzl, Stuttgart, www.stelzl-ra.de
| Die Wirtschaftlichkeitsprüfung nach Durchschnittswerten ist heute völlig in den Hintergrund getreten. Sie wurde durch Prüfverfahren ersetzt bzw. ergänzt, die sich als wesentlich schärfere Schwerter darstellen. Der folgende Refresher führt Ihnen das Prüfverfahren der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) in komprimierter Form vor Augen und hilft Ihnen so, rechtzeitig Vorsichtsmaßnahmen zu treffen. |
War früher alles besser?
Schon früher gehörte es zu den unangenehmen Erfahrungen im Leben eines Vertragsarztes, in eine Wirtschaftlichkeitsprüfung zu geraten. Geprüft wurde damals meist, wenn das Honorar eines Arztes insgesamt oder in einzelnen Bereichen deutlich über der Fachgruppe lag. Gekürzt wurde dann auf einen Überschreitungswert von ca. 40 bis 50 Prozent über der Fachgruppe, also auf die sogenannte Grenze zum offensichtlichen Missverhältnis. Der betroffene Arzt konnte durch die Geltendmachung von Praxisbesonderheiten aber noch weit höhere Überschreitungswerte erreichen.
Heute handelt es sich um die Prüfung nach arztgruppenspezifischen Richtgrößen, wo es zu Kürzungen bereits ab Überschreitungswerten von 25 Prozent kommt. Die Berufung auf Praxisbesonderheiten bleibt zwar nach wie vor zulässig. Besonders perfide ist gegenwärtig jedoch, dass im Gegensatz zur früheren Wirtschaftlichkeitsprüfung nicht das vom Arzt erwirtschaftete Honorar gekürzt wird, sondern der Arzt bei der Prüfung der Richtgrößen bei Arznei- und Verbandmitteln bzw. bei Heilmitteln Beträge „zurück“ bezahlen muss, die er nur verordnet, aber nicht selbst vereinnahmt hat.
Komplexe Vorschriften
Die Richtgrößenprüfung ist in verschiedensten komplexen Regelungen normiert, die von gesetzlichen Regelungen über Vorschriften des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen und der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bis zu Normen der KV mit den Landesverbänden der Krankenkassen reichen. Die Regelungen auf KV-Ebene differieren naturgemäß, sind aber im Wesentlichen ähnlich. Soweit im Folgenden auf KV-weite Regelungen Bezug genommen wird, liegen dem die Vorschriften der KV Baden-Württemberg zugrunde. Eine detaillierte Darstellung ist aufgrund der komplexen Regelungen an dieser Stelle leider nicht möglich. Die wichtigsten Eckpunkte sind:
- Die arztbezogene Prüfung ärztlich verordneter Leistung bei Überschreiten der Richtgrößenvolumina findet als Auffälligkeits- oder als Zufälligkeitsprüfung statt.
- Der Spitzenverband Bund und die KBV beschließen unter Berücksichtigung bestimmter Faktoren (wie beispielsweise der Preisentwicklung, dem Einsatz innovativer Arzneimittel etc.) jährlich Rahmenvorgaben für Anpassungsfaktoren und Zielvorgaben für bestimmte Arzneimittelgruppen.
- Die Vertragspartner auf KV-Ebene legen auf dieser Basis das Ausgabenvolumen für Arznei- und Verbandmittel bzw. Heilmittel in entsprechenden Vereinbarungen fest und beschließen regionale Wirtschaftlichkeitsziele. In weiteren Vereinbarungen werden dann jährlich unter Beachtung der genannten Vorgaben die Richtgrößenwerte für die verschiedenen Arztgruppen getrennt nach Mitglied/Familienversicherte und Rentnern festgelegt.
- Für das Verfahren der Prüfung werden weitere Regelungen (Prüfvereinbarungen) erlassen. Die Prüfung wird durch sogenannte Gemeinsame Prüfungsstellen der KV und der Landesverbände durchgeführt. Gegen die Entscheidungen ist der Widerspruch zum Beschwerdeausschuss möglich. Der Widerspruch hat aufschiebende Wirkung, eine Klage beim Sozialgericht gegen eine Entscheidung des Beschwerdeausschusses aber nicht mehr. Das heißt: Wird der Widerspruch zurückgewiesen, kann der gesamte Kürzungsbetrag mit der nächsten Honorarabrechnung verrechnet werden. Möglichkeiten, dies wenigstens abzumildern, werden unten dargestellt.
- Die Bescheide über Honorarkürzungen muss innerhalb von zwei Jahren nach Ende eines Verordnungszeitraums (in der Regel eines Jahres) erlassen werden. Dies führt dazu, dass die Bescheide gerne kurz vor Weihnachten als „Weihnachtsgeschenk“ für das vorvergangene Jahr zugestellt wird.
- Bei einer Überschreitung des Richtgrößenvolumens, das sich aus dem Produkt von quartalsbezogener Fallzahl und fachgruppenbezogener Richtgröße ergibt, um mehr als 25 Prozent, muss der Arzt den überschrittenen Betrag zurückbezahlen. Auf die Verteidigungsmöglichkeiten wird im Folgenden eingegangen.
Gesetzliche Regelungen und Verteidigungsmöglichkeiten
Offensichtlich hat der Gesetzgeber selbst bemerkt, dass die Richtgrößenprüfungen teilweise existenzbedrohende Auswirkungen haben können. Er hat deshalb mit Wirkung ab 1. Januar 2011 eine Regelung in das SGB V aufgenommen, nach der bei Ärzten, die erstmals das Richtgrößenvolumen um mehr als 25 Prozent überschreiten, die Kürzung nicht mehr als insgesamt 25.000 Euro für die ersten beiden Jahre betragen darf.
Mit Wirkung ab 1. Januar 2012 wurde geregelt, dass der ersten Kürzung eine Beratung vorausgehen muss. Da die Kürzungsbescheide in der Regel erst zwei Jahre nach Abschluss des Prüfjahres ergehen, bedeutet dies, dass in diesen beiden Jahren keine Kürzungen sondern nur Beratung durchgeführt werden dürfen. Damit sind bereits zwei Jahre - in denen der Arzt allerdings auch keinerlei Chance hatte, sein Verordnungsverhalten zu ändern - „gerettet“.
Mit Wirkung ab 26. Oktober 2012 wurde festgelegt, dass die Regelung „Beratung vor Regress“ auch rückwirkend für Vorjahre angewandt werden kann, solange die Verfahren am 31. Dezember 2011 noch nicht abgeschlossen waren.
MERKE | Die Prüfungsstelle soll vor einer Kürzungsmaßnahme auf eine Vereinbarung mit dem Arzt hinwirken, die eine Minderung des Erstattungsbetrags um bis zu einem Fünftel zum Inhalt hat. Erfahrungsgemäß wird von dieser Möglichkeit aber kaum Gebrauch gemacht. Gegebenenfalls sollte der betroffene Arzt auf diese Möglichkeit hinwirken, die aber auch kein wirklich befriedigendes Ergebnis bringt. |
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Daneben besteht die Möglichkeit, für vier Quartale eine individuelle Richtgröße unter Berücksichtigung von Praxisbesonderheiten mit der Prüfungsstelle zu vereinbaren. Nachteil dieser Lösung ist allerdings, dass dann jeglicher Mehraufwand ohne weiteren „Sicherheitspuffer“ zurückerstattet werden muss.
Die Prüfungsstelle ist gesetzlich verpflichtet, allgemein erkennbare Praxisbesonderheiten von Amts wegen zu berücksichtigen. Praxisbesonderheiten können vielfältiger Natur sein. Hintergrund ist immer, dass aufgrund einer besonderen Spezialisierung oder eines sonstigen Alleinstellungsmerkmals (zum Beispiel einziger Allergologe im weiten Umkreis, Schwerpunkt Kinderorthopädie) sich eine besondere Patientenklientel herausgebildet hat, die zu einer überdurchschnittlichen Verordnungsweise führt. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass allgemeine Einwendungen n- wie „viele alte Patienten“, „viele Ausländer“ oder „viele schwere Fälle“ - normalerweise kein Gehör finden.
Es kostet meist viel Mühe und Zeit, die Besonderheiten aufzuspüren und vor allem anhand konkreter Zahlen und Daten so aufzubereiten, dass die Ausschüsse von der Richtigkeit überzeugt werden können. Diese Arbeit sollte möglichst vor der ersten Stellungnahme an die Prüfungsstelle, spätestens aber vor dem ersten Verhandlungstermin beim Beschwerdeausschuss erledigt werden, da ein einmal gemachter ungünstiger Vortrag praktisch nicht mehr rückgängig gemacht werden kann. Am besten versichert man sich der Hilfe einer im Vertragsarztrecht bewanderten Person. |
Sofern der betroffene Arzt nachweist, dass ihn die Rückforderung wirtschaftlich gefährden würde, können sowohl die KV als auch die Krankenkassen die Rückforderung stunden oder erlassen. Ein Erlass wird in der Praxis kaum zu erreichen sein. Eine Stundung soll gegen angemessene Verzinsung und in der Regel nur gegen Sicherheitsleistung gewährt werden. Besser ist es in jedem Fall, mit der KV eine Ratenzahlungslösung zu vereinbaren, was normalerweise kein Problem ist. Dies gilt auch, wenn man per Klage gegen einen Bescheid des Beschwerdeausschusses vorgeht, da die Klage - wie oben ausgeführt - keine aufschiebende Wirkung hat.
FAZIT | Inhaltlich kann und muss sich der Arzt selbstverständlich damit verteidigen, seine Abrechnung sei trotz der festgestellten Auffälligkeiten richtig. Es empfiehlt sich dabei, noch vor der ersten Stellungnahme gegenüber der KV die Abrechnung penibel zu überprüfen und Argumente für die Richtigkeit zu finden. Auch hier sollte man sich am besten und vor allem rechtzeitig von einem vertragsarztrechtlich versierten Anwalt beraten lassen. Bei Tagesabrechnungszeiten von 24 Stunden oder mehr - was keine Seltenheit ist - wird sich allerdings auch der beste Anwalt mit der Verteidigung schwertun. |