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  • · Fachbeitrag · Vertragsarztrecht

    Beratung vor Regress nicht voreilig zustimmen!

    von RA Benedikt Büchling, Dortmund, www.kanzlei-am-aerztehaus.de

    | Akzeptiert ein Arzt im Rahmen einer Richtgrößenprüfung eine individuelle Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V („Beratung vor Regress“) und erkennt erst später, dass er ohne diese Einverständniserklärung möglicherweise besser gestellt gewesen wäre, berechtigt diese Erkenntnis nicht zur wirksamen Anfechtung seiner Erklärung. Dies entschied das Sozialgericht (SG) Marburg mit Gerichtsbescheid vom 22. März 2016 (Az. S 16 KA 292/14). |

    Der Fall

    Die Prüfstelle der Kassenärztlichen Vereinigung Hessen (KV) leitete gegen einen Facharzt für Allgemeinmedizin ein Wirtschaftlichkeitsprüfverfahren ein. Konkret beanstandete die KV die Wirtschaftlichkeit der verordneten Leistungen von Heilmitteln für die Jahre 2008 und 2009 und setzte wegen der Überschreitungen des Richtgrößenvolumens einen Regress von ca. 18.000 Euro fest. Nachdem der Arzt Widerspruch erhoben hatte, wies ihn der Beschwerdeausschuss (BA) schriftlich auf die Neufassung des § 106 Abs. 5e SGB V („Beratung vor Regress“) hin und bot ihm eine einvernehmliche Regelung im Rahmen eines Vergleichs an. Ziffer 2 dieses Vergleichs lautete: „Die anhängigen Verfahren werden durch Vergleich ohne Verhandlung vor dem Beschwerdeausschuss beendet. Die festgesetzten Regresse werden in eine individuelle Beratung umgewandelt.“

     

    Der Arzt unterzeichnete zunächst die Vereinbarung, nahm sein „Einverständnis“ mit der Regelung aber nachträglich zurück. Begründung: Die Möglichkeit, die seit Jahren schwebende und wirtschaftlich bedrohliche rechtliche Auseinandersetzung zu beenden, habe zu einer Sofortreaktion geführt. Die Regelung habe den Eindruck erweckt, dass es sich um ein Angebot einer gütlichen Einigung handele. Stattdessen beinhalte der Vorschlag aber eine maximale Maßnahme, die nach den gesetzlichen Vorschriften ohnehin vorgegeben sei. Insbesondere erhöhe sich hierdurch sein künftiges Risiko, in einen Verordnungsregress zu geraten. Dies alles habe er bei Abgabe der Einverständniserklärung nicht bedacht. Der BA hätte suggeriert, man könne „größere Regresssummen“ gegen kleine, ungefährliche Beratungssitzungen „eintauschen“. Da der BA im Rahmen eines Bescheids dennoch die Erledigung des Verfahrens aufgrund der Einverständniserklärung des Arztes feststellte, klagte dieser nun beim SG.

    Hintergrund

    Nach dem am 1. Januar 2012 in Kraft getretenen § 106 Abs. 5e SGB V erfolgt bei einer erstmaligen Überschreitung des Richtgrößenvolumens um mehr als 25 Prozent eine individuelle Beratung. Ein Erstattungsanspruch kann bei künftiger Überschreitung erstmals für den Prüfzeitraum nach der Beratung festgesetzt werden. Im Oktober 2012 hat der Gesetzgeber dann noch eine „Klarstellung” aufgenommen, wonach § 106 Abs. 5e SGB V auch für Verfahren gilt, die am 31. Dezember 2011 noch nicht (durch Bescheid im Widerspruchsverfahren) abgeschlossen waren.

     

    Letzteres bedeutet, dass selbst ein Arzt, der sein Richtgrößenvolumen für Heilmittel mehrfach überschritten hat, erst nach erfolgter, individueller Beratung von der Prüfstelle regressiert werden kann. Mit Ziffer 2 der o. g. einvernehmlichen Regelung wurde - was dem Arzt im vorliegenden Fall wohl nicht bewusst war - diese Voraussetzung geschaffen: Erst durch sein Einverständnis zur individuellen Beratung hat er für die Prüfstelle das Tor zum direkten Regress aller vielleicht noch auf ihn zukommenden Richtgrößenüberschreitungen geöffnet. Und dies, obwohl die anhängigen Verfahren vielleicht zu seinen Gunsten ausgegangen wären.

    Die Entscheidung des SG

    Das SG sah die zwischen dem Arzt und dem BA geschlossene Vereinbarung als rechtswirksam an, der Arzt habe bei Abgabe seiner Erklärung keinem zur Anfechtung berechtigenden Irrtum unterlegen.

     

    MERKE | Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen unmittelbaren und mittelbaren Rechtsfolgen, die eine Willenserklärung erzeugt. Eine Anfechtung einer Willenserklärung wegen Inhaltsirrtums kommt lediglich bei unmittelbaren Rechtsfolgen in Betracht, nicht aber bei mittelbaren. Ergibt sich also aus einer Willenserklärung neben der erkannten und gewollten Rechtsfolge (hier: Beendigung des jahrelangen Wirtschaftlichkeitsprüfverfahrens) eine andere, nicht erkannte und nicht gewollte Rechtswirkung (hier: Bedrohung durch künftige Regresse ohne vorherige Beratung), liege ein sogenannter „Rechtsfolgenirrtum“ vor, der nicht zur Anfechtung berechtigt.

     

    Die Erkenntnis, dass er aus verfahrenstaktischen Gründen mit der Nichtabgabe der Erklärung möglicherweise besser beraten gewesen wäre, stelle lediglich ein (rechtlich unbeachtliches) Motiv zur Fortführung des Verfahrens dar und berechtige somit nicht zur wirksamen Anfechtung. Das vom Arzt beschriebene künftige Risiko, in einen Verordnungsregress zu geraten, stelle ebenfalls einen unbeachtlichen Irrtum dar, weil es sich um eine mittelbare und im Übrigen ungewisse Rechtsfolge handele. Eine spätere und nur eventuell eintretende Rechtsfolge genüge nicht für eine wirksame Anfechtung.

     

    FAZIT | Die vorschnelle Unterzeichnung einer „einvernehmlichen Regelung“ sollte wohlüberlegt sein. Der betroffene Vertragsarzt ist mit Abschluss der Vereinbarung, d. h. nach Festsetzung einer individuellen Beratung nach § 106 Abs. 5e SGB V, dem Risiko einer Regressierung, ohne jegliche Schutzmechanismen, ausgesetzt. Teils haben Prüfgremien - wohl auf Druck der Krankenkassen - gar „Vergleichsvorschläge“ unterbreitet, in denen eine Reduktion eines Regresses unterbreitet wurde, obgleich nach der unmissverständlichen gesetzlichen Regelung nur eine individuelle Beratung hätte ausgesprochen werden dürfen. Eine genauere Prüfung und ggf. die Einholung fachkundigen Rats sind dringend geboten, um nicht später - wie der hier betroffene Arzt - das Nachsehen zu haben.

     
    Quelle: Ausgabe 10 / 2016 | Seite 12 | ID 44052009