· Fachbeitrag · Elektronische Kassenführung
Zuschätzung bei gleichzeitiger Nutzung einer offenen Ladenkasse sowie einer Registrierkasse
von Rechtsassessor Dr. Matthias H. Gehm, Limburgerhof und Speyer
| Der BFH (12.7.17, X B 16/17 ) hatte bereits Stellung zur Quantilsschätzung bei Verwendung von offenen Ladenkassen sowie zu Sicherheitszuschlägen bei Geldeinwurfautomaten als Kassen ( BFH 20.3.17, X R 11/16 ) bezogen. Das Sächsische FG (26.10.17, 6 K 841/15) legte erst kürzlich dar, unter welchen Voraussetzungen formelle Mängel bei der elektronischen Kassenführung eine Schätzungsbefugnis eröffnen. Nun hat der BFH (26.2.18, X B 53/17, Abruf-Nr. 202111 ) abermals zugunsten des Steuerpflichtigen entschieden. |
1. Sachverhalt
Der Steuerpflichtige führte in den Streitjahren 07 bis 09 einen Weinbaubetrieb mit Weinschenke. Hinsichtlich der Weinschenke erzielte er gewerbliche Einkünfte. Dabei wurden den Gästen in der Weinschenke selbst zubereitete Speisen sowie Wein aus dem eigenen Anbau serviert bzw. verkauft. Der Gewinn wurde durch Betriebsvermögensvergleich ermittelt. Die Gastronomie bestand aus mehreren Räumen. Die Einnahmen eines Raums wurden durch eine Registrierkasse erfasst. Die weiteren Einnahmen wurden dagegen über ein handschriftlich geführtes, selbst konzipiertes Kassenbuch ermittelt.
Da Programmierprotokolle der Registrierkasse fehlten und bei der offenen Ladenkasse keine Kassenberichte vorhanden waren, verwarf das FA anlässlich einer Außenprüfung die Kassenbuchführung. Sie nahm eine Zuschätzung basierend auf den Werten der Richtsatzsammlung ‒ Werte für Gast- und Schankwirtschaften mit zugekauftem Wein ‒ vor.
In dem anschließenden Klageverfahren nahm das Hessische FG zusätzlich zu den bereits erfolgten Zuschätzungen des FA eine Hinzuschätzung auf die (Netto-)Erlöse von pauschal 10 % vor, die in der Konsequenz noch zu einer Gewinnerhöhung von mehr als 50 % führte.
2. Entscheidung des BFH
Die Beschwerde des Weinbauern vor dem BFH hatte in weiten Teilen Erfolg. Gemäß der Auffassung des BFH müssen Schätzungsergebnisse nach § 162 Abs. 2 S. 1 AO
- schlüssig,
- wirtschaftlich möglich und
- vernünftig sein.
Dies bedingt aber, dass zuvor im Rahmen des Zumutbaren von der Finanzverwaltung bzw. dem FG unter Ausschöpfung aller möglichen Anhaltspunkte bei Einbeziehung des Vorbringens des Steuerpflichtigen sowie seiner fehlerhaften Buchführung bzw. Aufzeichnungen die Besteuerungsgrundlagen zumindest teilweise ermittelt wurden (BFH 20.3.17, X R 11/16, BStBl II 17, 992).
Da andererseits bei der Schätzung ‒ auch hinsichtlich der Höhe der Zuschätzung ‒ die Art und das Ausmaß der Verletzung der Mitwirkungspflichten durch den Steuerpflichtigen zu berücksichtigen sind, ist ein Sicherheitszuschlag bei nicht ordnungsgemäßer Buchführung zulässig, welcher in vernünftigem Verhältnis zu den erklärten bzw. nicht erklärten Einnahmen stehen muss (BFH 20.3.17, X R 11/16, BStBl II, 992).
Gegen diese Grundsätze hat das Hessische FG jedoch verstoßen, weil es sich mit den Ausführungen des Steuerpflichtigen, dass sein Betrieb aufgrund der tatsächlichen Umstände die laut Schätzung sich ergebenen Umsätze und Gewinne gar nicht hätte erwirtschaften können, überhaupt nicht auseinandergesetzt hat.
Somit hätte aufgeklärt werden müssen,
- ob die Weinanbaufläche überhaupt den für das Schätzungsergebnis erforderlichen Wareneinsatz hätte erwirtschaften können,
- wenn dies nicht der Fall war, hätte aufgeklärt werden müssen, ob es Anhaltspunkte dafür gab, dass der Steuerpflichtige entsprechende Waren schwarz zugekauft hat, sowie
- ob die dargereichten Speisen nach Qualität und Preis den Gewinn nach Schätzung hätten abwerfen können und
- ob der einheitliche Aufschlag von 10 % auf die Erlöse der Realität nahekommt.
Da sich das Hessische FG mit dem Sachvortrag des Steuerpflichtigen in diesem Zusammenhang überhaupt nicht auseinandergesetzt hat, hat es zudem dessen Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt.
Dabei sind die Mängel in der Kassenführung hinsichtlich ihrer Schwere differenziert zu würdigen. Somit ist auch zu prüfen, ob es konkrete Anhaltspunkte gibt, dass die Buchführung nicht nur formell, sondern auch materiell unrichtig ist.
Sofern die Finanzverwaltung wie auch das Hessische FG bei der offenen Ladenkasse die Kassensturzfähigkeit für nicht gegeben erachteten, regt der BFH folgende Feststellung der tatsächlichen betrieblichen Abläufe (Kassieren, Eintragen der Einnahmen, abendliche Abrechnung) an:
- Abklären des Aufstellungsorts der offenen Ladenkassen,
- Aufklärung, wer wann welche Ein- und Auszahlungen in und aus diesen Kassen getätigt hat und
- wie und wann der Steuerpflichtige mit den Servicekräften über die Einnahmen sowie das Wechselgeld abgerechnet hat.
3. Voraussetzungen einer Schätzungsbefugnis
Die Entscheidung des BFH begrenzt abermals die Schätzungsbefugnis der Finanzverwaltung, aber auch der Finanzgerichte bei Mängeln der Kassen-führung.
3.1 Gewichtung des formellen Mangels
Nach Auffassung des Gerichts ist zu würdigen, ob mögliche formelle Mängel ein solches Gewicht haben, dass von einer materiell unrichtigen Buchführung auszugehen ist.
3.2 Pflicht zur Ermittlung des Sachverhalts
Der Finanzverwaltung wie auch den Finanzgerichten werden erhebliche Sachverhaltsermittlungspflichten aufgelegt. Dabei sind die bisherigen Aufzeichnungen des Steuerpflichtigen sowie seine Angaben zum Sachverhalt hinreichend zu würdigen. Wird hiergegen verstoßen, hat dies wegen Art. 103 Abs. 1 GG verfassungsrechtliche Relevanz und kann sogar nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG zu einer Überprüfung durch das BVerfG führen.
Allein kleinere formelle Mängel berechtigen also nicht einfach zu pauschalen Zuschätzungen. Insofern hatte auch das Sächsische FG zu Recht entschieden, dass die formelle Ordnungsmäßigkeit einer Buchführung gemäß § 158 AO nur bei Vorliegen wesentlicher Mängel mit der Folge erschüttert ist, dass die Finanzverwaltung nach § 162 Abs. 2 S. 2 AO eine Schätzungsbefugnis hat (Sächsisches FG 26.10.17, 6 K 841/15, EFG 18, S. 165).
3.3 Notwendigkeit einer Begründung
Der BFH hat weiterhin klargestellt, dass griffweise Schätzungen einer eingehenden Begründung bedürfen (BFH 12.1.17, VIII R 6/14, DStRE 18, S. 557).
PRAXISTIPP | Die aktuelle Entscheidung gibt dem Steuerpflichtigen wiederum Möglichkeiten, sich gegen Schätzungen zur Wehr zu setzen. Dabei sollte er unter Darlegung der Eckpunkte der vorgestellten Rechtsprechung entsprechende Argumente hinsichtlich der wirtschaftlichen Gegebenheit des Betriebs vortragen, durch die sich die Finanzverwaltung in der Außenprüfung zumindest zur weiteren Sachverhaltsaufklärung veranlasst sehen muss.
In Anbetracht der beschränkten Ressourcen der Finanzverwaltung wird sich dann oftmals eine Bereitschaft ergeben, sich auf vernünftiger Basis mit dem Steuerpflichtigen zu einigen.
Es sei aber darauf hingewiesen, dass schon nach aktueller Verwaltungsansicht es nicht zulässig wäre, in einem Betrieb neben einer elektronischen Kasse eine offene Ladenkasse zu verwenden. Anderes gilt nur, wenn für einen räumlich oder organisatorisch eindeutig abgrenzbaren Bereich aus technischen oder aus Zumutbarkeitserwägungen eine Erfassung über das elektronische Kassensystem nicht möglich ist (Nr. 2.2.3 AEAO zu § 146). Somit ist damit zu rechnen, dass die Finanzverwaltung auch zukünftig bei solchen Konstellationen wie im entschiedenen Fall versuchen wird, Zuschätzungen durchzusetzen.
Auch ist weiterhin davon auszugehen, dass bei Fehlen der Programmprotokolle die Finanzverwaltung davon ausgeht, dass die Kasse nicht ordnungsgemäß geführt wurde, denn hierbei handelt es sich um „sonstige Organisationsunterlagen” nach § 147 Abs. 1 Nr. 1 AO (BFH 25.3.15, X R 20/13, BStBl II, 743; Harle/Olles, Die moderne Betriebsprüfung, 3. Aufl. 17, Rn. 592, 622). Gleiches gilt im Hinblick auf offene Ladenkassen, wenn der Kassenbericht nicht vorgelegt wird (Harle/Olles, Die moderne Betriebsprüfung, 3. Aufl. 17, Rn. 621, 625, 718). |