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Der ewige Widerrufsjoker
| Soweit Belehrungen in Verbraucherdarlehensverträgen über das Widerrufsrecht nach § 495 BGB nicht korrekt erteilt wurden, können Verbraucher auch noch Jahre später von ihrem Widerrufsrecht Gebrauch machen. In FMP 18, 87 ff. und FMP 20, 86 ff. haben wir ausführlich über den sog. Widerrufsjoker berichtet. Doch es gibt weitere, interessante Fragen, auf die uns ein Leser aufmerksam gemacht hat, und die wir im Folgenden beantworten. |
1. Ewiges Widerrufsrecht
Das unbegrenzte Widerrufsrecht bei Verbraucherdarlehen aufgrund unzureichender Widerrufsbelehrung hat der Gesetzgeber zum 21.6.16 eingeschränkt. Danach erlischt das Widerrufsrecht gemäß § 356b Abs. 2 S. 4 BGB für solche Verträge spätestens nach 12 Monaten und 14 Tagen nach dem in § 356b Abs. 1 BGB genannten Zeitpunkt. Diese Einschränkung gilt aber nur für sog. Immobiliar-Verbraucherdarlehensverträge. Das sind Verbraucherdarlehensverträge, die durch ein Grundpfandrecht (z. B. Hypothek oder Grundschuld) gesichert sind oder für den Erwerb oder die Erhaltung von Grundeigentum dienen (vgl. § 491 Abs. 3 BGB). Zudem wirkt diese gesetzliche Regelung nur für Verträge, die nach Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen wurden, also ab dem 21.3.16.
2. Wenn über nichts und zu keiner Zeit belehrt wurde
Bestünde nun nicht ein Widerrufsrecht, wenn der Verbraucher beim allgemeinen Verbraucherdarlehen über seine Widerrufsrechte weder mündlich belehrt worden ist, kein europäisches standardisiertes Merkblatt (ESIS-Merkblatt) erhalten hat und auch keine schriftliche Nachbelehrung erfolgt ist? Die Frist zum Widerrufsbeginn konnte somit noch gar nicht anlaufen, oder?
Der Verbraucherdarlehensvertrag muss nach § 492 Abs. 2 BGB die Angaben nach Art. 247 §§ 6 bis 13 EGBGB enthalten. Nach Art. 247, § 6 Abs. 1, Nr. 1 und Abs. 2 i. V. m § 3 Abs. 1 Nr. 13 EGBGB gehört dazu auch die Belehrung über das Widerrufsrecht, das dem Verbraucher nach § 495 BGB zusteht. Soweit keine Belehrung ‒ auch keine Nachbelehrung ‒ stattgefunden hat, beginnt die Widerrufsfrist nach § 356b Abs. 2 BGB erst mit deren Nachholen. Bis dahin besteht das Widerrufsrecht ohne zeitliche Einschränkung (sog. „ewiges Widerrufsrecht“).
3. Ansprüche aus c.i.c denkbar?
Offensichtlich ist die Nichtaushändigung des ESIS-Merkblatts beim allgemeinen Verbraucherdarlehen selten. Da die Banken bzw. die im Auftrag der Banken handelnden Vermittler dem Verbraucher dieses Merkblatt vor, jedoch spätestens bei Vertragsschluss übergeben müssen, fragt sich, ob eine Unterlassung ggf. i. S. eines Verschuldens bei Vertragsschluss (c.i.c.) zu werten ist.
Die Antwort lautet: Ja. Vom Vorliegen eines vorvertraglichen Schuldverhältnisses und Verschulden bei Vertragsschluss ist auszugehen (Palandt/Weidenkaff, BGB, 80. Aufl., § 491a, Rn. 2). Da sich der Darlehensgeber des ESIS-Merkblatts zur Erfüllung seiner Informationspflichten bedienen kann, wird eine Haftung in Form eines Schadenersatzanspruchs wegen c.i.c. nach § 311 Abs. 2 BGB auf Rückgängigmachung des ggf. geheilten Vertrags und Erstattung der getätigten Aufwendungen jedoch kaum vorkommen (Derleder, NJW 09, 3199). Eine Haftung wird zudem meist nicht zur Auflösung des Vertrags führen, weil ein differenziertes Rechtsfolgensystem bei Verstößen gegen die Informationspflichten nach § 492 Abs. 2 BGB zur Verfügung steht und vor allem das Widerrufsrecht.
4. Rechtsfolgen des fehlenden Merkblatts
Nach Ansicht des OLG Braunschweig (12.12.20, 11 U 201/19) wird das ESIS-Merkblatt durch die Einbeziehung auch Vertragsbestandteil. Lässt das nicht im Umkehrschluss die Wertung zu, dass mit fehlendem Vertragsbestandteil, ‒ hier also dem in Rede stehenden nicht ausgehändigten Merkblatt ‒ der Verbraucherdarlehensvertrag konsequenterweise unwirksam sein muss?
Bei Vorbereitung und Abschluss des Verbraucherdarlehensvertrags muss zwischen den vorvertraglichen Informationspflichten (§ 491a BGB) und den vorgeschriebenen Angaben für den Vertragsinhalt unterschieden werden. Die vorvertragliche Information muss unter Verwenden des ESIS-Merkblatts erfolgen (Art. 247 § 1 Abs. 2 EGBGB bzw. Art. 247 § 2 Abs. 2 EGBGB). Das hat aber keine Auswirkung auf die Wirksamkeit des Vertrags selbst. Soweit im späteren Vertrag die nach § 492 Abs. 2 und Art. 247 EGGB erforderlichen Angaben enthalten sind, genügt der Vertrag den gesetzlichen Voraussetzungen. Die Annahme, bei fehlender vorvertraglicher Belehrung durch das ESIS-Merkblatt sei auch der spätere Vertrag unwirksam, ist nach der hier vertretenen Ansicht nicht korrekt.
Nicht ausreichend für den Beginn der Widerrufsfrist ist hingegen die alleinige Übermittlung der vorvertraglichen Pflichtangaben im ESIS-Merkblatt (OLG Karlsruhe VuR 17,316). Auch bei Übergabe zusammen mit den Vertragsunterlagen ist ein Verweis auf die Widerrufsfrist erforderlich. Das bedeutet: Im Vertrag selbst ist auf das ESIS-Merkblatt und dessen Regelungen hinzuweisen.