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  • · Fachbeitrag · Schuldnertaktik abwehren

    Zuständigkeitserschleichung für die Restschuldbefreiung

    • 1.Entscheidungen eines ausländischen Insolvenzgerichts können wegen Verstoßes gegen den Ordre Public gemäß Art. 26 EUInsVO unbeachtlich sein.
    • 2.Im Fall einer Zuständigkeitserschleichung kommt dies in Betracht, wenn das ausländische Insolvenzgericht trotz seit Jahren bekannter Missbräuche keine Plausibilitätsprüfung vornimmt.

    (AG Göttingen 10.12.12, 74 IN 28/12)

     

    Sachverhalt

    Der Schuldner ist Direktor einer Wissenschaftlichen Gesellschaft G. Ltd., über deren Vermögen unter Verbindung mit zwei anderen Antragsverfahren am 17.2.11 das Insolvenzverfahren eröffnet und ein Insolvenzverwalter bestellt wurde. An der Gläubigerversammlung vom 18.5.11 nahm der Schuldner teil. Wegen Abgabenrückständen hat das Finanzamt die Eröffnung des Insolvenzverfahrens beantragt. Zum Anhörungstermin am 23.2.12 ist der Schuldner nicht erschienen. Mit Internetfax vom 21.1.12 hat er unter Verwendung einer Anschrift in London mitgeteilt, er habe die Ladung erst an diesem Tag erhalten. Er sei seit Dezember 2010 aufgrund eines Wohnsitzwechsels nicht mehr unter der angegebenen Anschrift gemeldet und erreichbar, die Post müsse daher umgeleitet werden. Gegen seine Person sei bereits ein Insolvenzverfahren eröffnet und die Gläubiger vom Gericht informiert worden. Beigefügt war u.a. ein BANKRUPTY ORDER ON A DEBITOR`S PETITION des High Court of Justice vom 7.10.11. Mit Schreiben vom 27.2.12 hat das Insolvenzgericht um Klarstellung und Vorlage entsprechender Belege gebeten. Dem ist der Schuldner mit Schreiben vom 8.3.12 zum Teil nachgekommen.

     

    Mit Beschluss vom 28.3.12 hat das Insolvenzgericht Rechtsanwalt K. zum Sachverständigen bestimmt. Diesem hat der Schuldner am 2.4.12 mitgeteilt, dass gegen ihn am 7.10.11 das Insolvenzverfahren beantragt und am 16.1.12 eröffnet worden sei. Für weitere Auskünfte stehe sein Insolvenzverwalter in Großbritannien zur Verfügung. Im Verlaufe des Verfahrens hat die Antragstellerin ein in englischer Sprache abgefasstes Schreiben des Official Receiver`s Office vom 30.1.12 vorgelegt. Das Vermögen ist mit £ 164, der Gesamtschuldenstand mit 
£ 751.00,00, der monatliche Verdienst als environmental consultant mit £ 806 angegeben. Als frühere Anschrift ist die in dem vorliegenden Antrag aufgeführte Adresse in Göttingen angegeben. Im Abschlussgutachten vom 6.12.12 schlägt der Sachverständige vor, den Antrag mangels Masse gemäß § 26 InsO abzuweisen. Trotz intensiver Nachforschungen habe er keine Vermögenswerte ermitteln können. Die internationale Zuständigkeit des Insolvenzgerichtes Göttingen sei gegeben. Das englische Insolvenzverfahren stehe nicht entgegen, es liege ein Verstoß gegen den Ordre Public nach Art. 26 EUInsVO vor.

     

    Entscheidungsgründe/Praxishinweis

    Die Fälle, in denen Schuldner ins Ausland „flüchten“, um dort die Restschuldbefreiung früher, aber auch unter Beteiligung einer geringeren Anzahl von Gläubigern zu erreichen, nimmt zu. Aus Sicht des Gläubigers gilt es, dem ent-gegenzutreten. Der erste Ansatz dafür ist die Prüfung, ob nicht deutsche Gerichte für ein Insolvenzverfahren zuständig sind. Diese Prüfung setzt aber voraus, dass zumindest ein Gläubiger auch einen entsprechenden Insolvenzantrag stellt. So ist es im Fall des AG Göttingen geschehen, das den Eröffnungsantrag im Ergebnis nach § 26 Abs. 1 InsO abgewiesen hat, weil der Schuldner über kein ausreichendes Vermögen verfügte. Diese Entscheidung setzte aber voraus, dass das AG überhaupt international zuständig war. Das hat das Gericht wegen der Angaben von Schuldner und Sachverständigem angenommen.

     

    Checkliste / Was Schuldner angeben

    Der Schuldner hat in Beantwortung der gerichtlichen Anfrage folgende Angaben gemacht:

     

    • 1.Die Abmeldung in X.-Stadt erfolgte am 28.12.10 (Abmeldebestätigung).
    • 2.Eine Meldebestätigung könne er mangels Meldepflicht nicht vorlegen. Der Einzug in London sei im Januar 2011 erfolgt. Der vorgelegte Mietvertrag vom 27.1.11 weist als Adresse 132 L.- Street London aus. Die Mietdauer beträgt sechs Monate, der Mietzins monatlich £ 70, das Deposit £ 140. Weiter war beigefügt eine Anmeldung vom 28.1.11 zur National Insurance.
    • 3.Als berufliche Tätigkeit wird die eines Environmental Consultant angegeben 
- also Umweltberater.
    • 4.Die Originalkontoauszüge und sämtliche Unterlagen lägen dem Insolvenzverwalter vor, der als einziger Auskünfte erteilen dürfe. Das verbliebene Konto sei „eingefroren“ worden.
    • 5.Da eine Warmmiete vereinbart sei, könnten Unterlagen über Versorgungsverträge nicht vorgelegt werden. Die Telekommunikation werde im Pre-pay-Verfahren abgewickelt.
     

    Checkliste / Was Sachverständige feststellen

    Der Sachverständige hat folgende Feststellung getroffen:

     

    • 1.Gehaltsbescheinigungen über seine Tätigkeit als Consultant hat der Schuldner trotz Aufforderung nicht vorgelegt.
    • 2.Auf dem ehemaligen Betriebsgelände der Fa. H. befindet sich ein Briefkasten mit der Bezeichnung Gesellschaft für Naturschutz ... - G. Eine Mitarbeiterin, die nach Beendigung des Gesprächs ihren Namen nicht nennen wollte, teilte dem Sachverständigen mit, der Schuldner sei nur Dienstag und Freitag anzutreffen, da er sonst einen Heimarbeitsplatz nutze.
    • 3.Am 29.6.12 sah der Sachverständige den ihm persönlich aus früheren Verfahren bekannten Schuldner beim Betreten des Hauses M.-Straße 27.
     

    Bei dieser Sachlage ist das Gericht davon ausgegangen, dass der Schuldner einen Wohnsitz in London vorgetäuscht hat. Gegen einen aktuellen Wohnsitz in London sprechen zunächst die unterlassene Vorlage von Kontoauszügen, die Auskunft einer Mitarbeiterin der Fa. G. und der Aufenthalt in Göttingen und das Betreten des früher bewohnten Hauses. Gehaltsbescheinigungen hat der Schuldner trotzt Aufforderung nicht vorgelegt. Der Mietvertrag ist nur auf eine Dauer von sechs Monaten abgeschlossen. Der Insolvenzantrag stammt vom 7.10.11, die Eröffnung erfolgte am 16.1.12. Die Warmmiete beträgt £ 70 monatlich, nach aktuellem Kurs ca. 86 EUR. Eine Unterkunft für eine monatliche Warmmiete von unter 100 EUR erinnert an den Sachverhalt der Entscheidung des LG Köln vom 14.10.11 (NZI 11, 957), in der sich der dortige Insolvenzschuldner eine kleine Wohnung mit vier weiteren deutschen Mitmietern teilte, die ihren Wohnsitz ebenfalls nach London verlegt hatten und ein Insolvenzverfahren betrieben. Gerichtsbekanntermaßen gehört London zu den Städten mit den teuersten Lebenshaltungskosten in Europa. Das Gericht zeigt auf, dass es gilt, die konkreten Umstände aufzuzeigen und lebensnah (!) zu würdigen.

     

    Checkliste / Konsequenzen der Entscheidung

    • 1. Die dem Antrag zugrunde liegenden Forderungen sind vor Eröffnung des Insolvenzverfahrens durch den High Court am 16.1.12 entstanden. Ein erneutes Insolvenzverfahren ist unzulässig, die Forderung muss im eröffneten Insolvenzverfahren angemeldet werden. Dies gilt auch, wenn die Eröffnung in einem Mitgliedsstaat der EUInsVO erfolgte, Art. 16 EUInsVO. Anders als in § 343 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 InsO ist im Geltungsbereich der EUInsVO nicht Voraussetzung die Zuständigkeit des ausländischen Gerichts. Eine Einschränkung kann nur aus Art. 26 EUInsVO folgen. Danach ist eine Anerkennung ausgeschlossen, soweit die Anerkennung zu einem Ergebnis führt, das offensichtlich mit der öffentlichen Ordnung, vor allem mit den Prinzipien oder den verfassungsmäßig garantierten Rechten und Freiheiten des Einzelnen unvereinbar ist. Davon ist hier auszugehen.

     

    • 2. Teilweise wird die Anwendung des Art. 26 EUInsVO aber abgelehnt (OLG Nürnberg ZInsO 12, 658). Zutreffend weist das LG Köln (NZI 11, 957) auf die entgegenstehende Rechtsprechung des BGH und des EuGH (NZI 10, 156) hin. Der BGH (NZI 01, 646) hat zur Anerkennung einer ausländischen Restschuldbefreiung entschieden, dass eine Gerichtstandserschleichung überprüft werden kann.

     

    • 3.Zum Zeitpunkt der Entscheidung des High Court am 16.1.12 war der Insolvenztourismus nach London bereits seit Jahren Gegenstand einer lebhaften Diskussion. Vallender (EWiR 11, 775) weist in der Anmerkung zur Entscheidung des LG Köln darauf hin, der High Court of Justice in London habe in der Vergangenheit drei durch falsche Angaben über die internationale Zuständigkeit erschlichene Eröffnungsentscheidungen annulliert. Gleichzeitig habe er den Instanzgerichten aufgegeben, die in dem Schuldnerantrag gemachten tatsächlichen Angaben einer sorgfältigen Plausibilitätsprüfung zu unterziehen und die Behauptungen der am Verfahren beteiligten Parteien zu hinterfragen sowie Unterlagen kritisch zu überprüfen. Ist der High Court - wie hier - wegen der mehr als £ 100.000 übersteigenden Summe ungesicherter Verbindlichkeiten zuständig (Priebe, ZInsO 12, 2074), hält er sich nicht an seine eigenen Vorgaben.
     

    MERKE | Bei dieser Sachlage müssen sich ausländische Gläubiger nicht auf die Möglichkeit der Annullierung englischen Eröffnungsentscheidungen (dazuGoslar, NZI 12, 912) verweisen lassen. Grundlegende Aufgabe eines Gerichts ist das Verhindern gezielten Erschleichens und Missbrauchs seiner Zuständigkeit. Im vorliegenden Fall liegt eine Vielzahl von Indizien dafür vor. Der Schutz des Eigentumsrechtes der Gläubiger (Art. 14 GG) verbietet eine Anerkennung derartiger Entscheidungen unabhängig von der Frage einer konkreten Beeinträchtigung im Einzelfall.

     

    Um von der Entscheidung des AG Göttingen profitieren zu können, darf sich der Gläubiger nicht darauf verlassen, dass ein anderer Gläubiger Insolvenzantrag stellen wird. Er muss selbst aktiv werden, will er seine Rechte tatsächlich nutzen. Dies gilt umso mehr, wenn er vergleichbare Indizien feststellen und belegen kann.

     
    Quelle: Ausgabe 06 / 2013 | Seite 100 | ID 39621290