· Nachricht · Steuerrecht
Akteneinsicht im Besteuerungsverfahren
von Rechtsassessor Dr. Matthias Gehm, Limburgerhof und Speyer
| Das FG Niedersachsen (18.3.22, 7 K 11127/18) hat Steuerpflichtigen, die in einem bestandskräftigen Besteuerungsverfahren Einsicht in ihre Einkommensteuerakte begehrten, um Regressansprüche gegen ihren früheren Steuerberater zu prüfen, ein solches gewährt. Dabei ging es auch um die Reichweite des Informationsanspruchs aus Art. 15 DSGVO und die Frage, inwieweit dem Informationsanspruch durch ein Akteneinsichtsrecht genüge getan werden muss. |
Akteneinsichtsrecht aus GG und EU-Grundrechtecharta ‒ nicht aus der AO
Anders als § 29 VwVfG oder § 147 StPO enthält die AO für das Besteuerungsverfahren keine Regelung zum Akteneinsichtsrecht, insbesondere ergibt sich aus § 91 Abs. 1 und § 364 AO kein Einsichtsrecht. Das FG Niedersachsen unterscheidet allerdings zwischen einem Anspruch auf ermessensfehlerfeie Entscheidung über den Akteneinsichtsanspruch, der sich aus dem Rechtsstaatsprinzip des Art. 20 Abs. 3 GG i. V. m. dem Prozessgrundrecht des Art. 19 Abs. 4 GG sowie Art. 41 Abs. 2 Buchst. a Charta der Grundrechte der Europäischen Union ‒ GRCh - (BFH 19.3.1, II R 17/11, BStBl II 13, 639) ergibt, und andererseits einem Informationsrecht aus Art. 15 Abs. 1 DSGVO.
Zu erwägende Punkte für die Ermessensentscheidung
Sofern kein Rechtsmissbrauch vorliegt, ergibt sich aus GG und GRCh grundsätzlich ein Akteneinsichtsrecht, das im Zuge der Ermessensausübung i. v. § 5 AO gegen Belange Dritter, dem Ermittlungsinteresse des FA und dessen Verwaltungsaufwand abzuwägen ist (BFH 4.6.03, VII B 138/01, BStBl II 03, 790). Diese Ermessensausübung ist im finanzgerichtlichen Verfahren nach § 102 FGO darauf überprüfbar, ob eine Ermessensreduzierung auf Null vorliegt (BFH 6.11.12, VII R 72/11, BStBl II 13, 141). Im konkreten Fall bedeutet das:
- Dass die Akteneinsicht außersteuerlichen Belangen (Regressansprüche) dient, spricht nicht gegen die Gewährung. Darüber hinaus haben die Kläger wegen des Beraterwechsels keine Informationen aus dem nach § 165 AO nicht abgeschlossenem Veranlagungsverfahren.
- Ein gegen die Akteneinsicht sprechender Verwaltungsaufwand ist auch nicht feststellbar, vielmehr hat das Rechtsbehelfsverfahren und das anschließende finanzgerichtliche Verfahren hier den größeren Aufwand für das FA produziert. Zudem war es ermessensfehlerhaft, die Kläger darauf zu verweisen, sich auf dem Zivilrechtsweg die Informationen von ihrem früheren Steuerberater zu holen.
- In den Akten befinden sich keine eigenen Daten des Steuerberaters, denn es handelt sich ausnahmslos um Erklärungen, die im Namen der Kläger abgegeben wurden, sodass das Steuergeheimnis nicht tangiert ist.
- Ein bei Akteneinsicht gefährdetes eigenes Ermittlungsinteresse ‒ etwa Kontrollmitteilungen, die sich in der Akte befinden ‒ sind nicht vorgetragen, sodass das Ermessen des FA auf Null reduziert ist, Akteneinsicht zu gewähren.
Informationsanspruch aus Art. 15 Abs. 1 DSGV
Die DSGVO findet nach Art. 99 Abs. 2 DSGVO seit dem 25.5.18 Anwendung. Maßgebend ist dabei der Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung, mithin der Einspruchsentscheidung. Dabei gibt Art. 15 Abs. 1 DSGVO, der nach Art. 288 AEUV unmittelbar in Deutschland gilt, einen Informationsanspruch, der aber nicht von Vornherein auf einen Akteneinsichtsanspruch verengt ist.
Das FG Niedersachsen lässt es dahingestellt, ob sich aus Art. 2 Abs. 2a DSGVO nur eine Geltung für harmonisierte Steuern ergibt, denn jedenfalls nach § 2a AO ist die DSGVO auch bei direkten Steuern anwendbar (BVerwG 4.7.19, 7 C 31/17, Beschluss; HFR 19, 919, BMF 12.1.18, BStBl I 18, 185). Der sachliche Anwendungsbereich der DSGVO ist auch nicht durch Art. 23 Abs. 1 Buchst. i DSGVO i. V. m. § 32c Abs. 1 Nr. 1 i. V. m. § 32b Abs. 1 Nr. 2 i. V. m. § 30 AO beschränkt, da der frühere Steuerberater kein Dritter ist, dessen Daten betroffen wären. Auch ergibt sich kein Ausschluss nach § 32c Abs. 1 Nr. 3a AO, weil die Daten nicht nur wegen gesetzlicher Aufbewahrungsfristen gespeichert werden, sondern auch weil der Steuerbescheid noch vorläufig ist.
Verhältnis von Akteneinsichtsichtsrecht und Informationsanspruch
Im Unterschied zu dem zuvor geprüften Akteneinsichtsanspruch steht der Informationsanspruch nach Art. 15 Abs. 1 DSGVO nicht im Entschließungsermessen des FA. Jedoch ist nach den Umständen des Einzelfalls insbesondere unter Berücksichtigung des Steuergeheimnisses zu entscheiden, ob dem Informationsanspruch durch Gewährung von Akteneinsicht oder auf andere Weise Genüge zu leisten ist. Richtschnur ist dabei Art. 12 Abs. 2 S. 1 DSGVO, wonach die Auskunft in präziser, transparenter, verständlicher und leicht zugänglicher Form und nach Art. 12 Abs. 2 1 DSGVO auf die zweckmäßigste Weise die Auskunft zu geben ist, sodass sich eine Akteneinsichtsgewährung als die allein richtige Entscheidung erweisen kann (BMF v. 13.1.20, BStBl I 20, 143, Rz. 32).
Ob dem FA unter Berücksichtigung von § 32d AO ein Auswahlermessen zukommt, ist strittig. Teilweise wird ein gebundener Anspruch auf Akteneinsicht gesehen (FG Saarland 3.4.19, 2 K 1002/16, EFG 19, 1217). Das FG Niedersachsen lässt letztere Frage unbeantwortet, da bereits ein Anspruch nach Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRCh besteht.
PRAXISTIPP | Das FG Niedersachsen verdichtet die Rechte nach Art. 20 Abs. 3 i. V. m. Art. 19 Abs. 4 GG, Art. 41 Abs. 2 Buchst. a GRCh zu einem echten Anspruch auf Akteneinsicht, indem an die Ermessensbegründung des FA hohe Anforderungen gestellt werden, wenn eine Einsichtnahme versagt wird. Folglich brauchte sich das FG Niedersachsen nicht abschließend dazu zu positionieren, ob sich aus Art. 15 Abs. 1 DSGVO ein gebundener Anspruch auf Akteneinsicht herleitet, welcher vor dem FG durch Verpflichtungsklage verfolgt werden kann (so FG Saarland 3.4.19, 2 K 1002/16 Beschluss, EFG 19, 1217; Friedrich, AO-StB 19, 345). Ähnlich war jüngst in dieser Frage bereits der BFH (3.11.20. III R 59/19, Beschluss, BStBl II 21, 467) verfahren. |