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  • 19.11.2003 · IWW-Abrufnummer 032560

    Bundesgerichtshof: Urteil vom 23.10.2003 – III ZR 354/02

    Das Gebot, Untersuchungsgefangene von Strafgefangenen getrennt zu halten, hat nicht den Schutzzweck, die Untersuchungsgefangenen vor Schädigungen durch Strafgefangene zu bewahren.


    BUNDESGERICHTSHOF
    IM NAMEN DES VOLKES
    URTEIL

    III ZR 354/02

    Verkündet am:
    23. Oktober 2003

    in dem Rechtsstreit

    Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat auf die mündliche Verhandlung vom 18. September 2003 durch den Vorsitzenden Richter Dr. Rinne und die Richter Dr. Wurm, Schlick, Dörr und Galke

    für Recht erkannt:

    Tenor:

    Auf die Revision des Beklagten zu 2 wird das Urteil des 6. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Dresden vom 27. September 2002 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als zum Nachteil des Beklagten zu 2 erkannt worden ist.

    Auf die Berufung des Beklagten zu 2 wird das Schlußurteil des Landgerichts Leipzig vom 12. November 2001 abgeändert. Die Klage gegen den Beklagten zu 2 wird in vollem Umfang abgewiesen.

    Von den Gerichtskosten des ersten Rechtszuges tragen der Kläger 98 v.H. und der Beklagte zu 1 2 v.H. Von den außergerichtlichen Kosten des Klägers im ersten Rechtszug tragen der Beklagte zu 1 2 v.H., von denjenigen des Beklagten zu 1 der Kläger 44 v.H. Der Kläger trägt die außergerichtlichen Kosten des Beklagten zu 2. Im übrigen werden außergerichtliche Kosten des ersten Rechtszuges nicht erstattet.

    Die Kosten der Rechtsmittelzüge hat der Kläger zu tragen.

    Von Rechts wegen

    Tatbestand:

    Der Kläger war im Jahre 1994 als Untersuchungsgefangener in der Untersuchungshaftabteilung der Justizvollzugsanstalt W. untergebracht. Zur gleichen Zeit verbüßte der Beklagte zu 1 in der dortigen Strafhaftabteilung eine lebenslange Freiheitsstrafe wegen Mordes an seinem Vater. Der Zellentrakt, in dem der Beklagte zu 1 untergebracht war, befand sich im dritten Obergeschoß über der im zweiten Obergeschoß befindlichen Untersuchungshaftabteilung. Die beiden Stockwerke waren durch ein horizontal verlaufendes Maschendrahtgitter getrennt, der Treppenaufgang durch senkrechte Metallstäbe zu beiden Seiten und jeweils eine Stahlgittertür am Auf- und Abgang gesperrt. Am 20. September 1994 verschaffte sich der Beklagte zu 1 nach den Feststellungen des Berufungsgerichts gewaltsam Zugang zur Untersuchungshaftabteilung, indem er einen der metallenen Gitterstäbe an der Treppe herausbrach. Er drang in die Zelle des Klägers ein und versuchte, die Herausgabe von dessen Armbanduhr zu erzwingen. Als der Kläger sich weigerte, stach der Beklagte zu 1 mit einem mitgeführten angespitzten Schraubenzieher, dessen Stahlteil - ohne Griff - eine Länge von etwa 12 cm hatte, mehrfach auf ihn ein und fügte ihm Verletzungen im Gesicht, am Kopf und im Nacken zu. Wegen dieser Tat wurde der Beklagte zu 1 wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit versuchtem schweren Raub zu einer Freiheitsstrafe von 14 Jahren rechtskräftig verurteilt. Der Kläger wurde von den Vorwürfen, derentwegen er in Untersuchungshaft genommen worden war, rechtskräftig freigesprochen.

    Der Kläger wirft dem zweitbeklagten Freistaat als Träger der Justizvollzugsanstalt vor, die dortigen Bediensteten hätten die zu seinem Schutz bestehenden Amtspflichten verletzt, Untersuchungs- und Strafgefangene voneinander zu trennen und den Beklagten zu 1 hinreichend zu überwachen. Deswegen sei der Beklagte zu 2 neben dem Beklagten zu 1 für den Überfall und die Verletzungen mitverantwortlich.

    Der Kläger hat die Beklagten zu 1 und 2 ursprünglich als Gesamtschuldner auf Ersatz der ihm entstandenen materiellen und immateriellen Schäden in Anspruch genommen. Im Umfang des in der mündlichen Verhandlung vom 13. Januar 1998 gestellten eingeschränkten Klageantrags ist gegen den Beklagten zu 1 ein rechtskräftiges Versäumnisurteil ergangen. Nachdem die Klage nachträglich erweitert worden war, hat das Landgericht den Beklagten zu 2 verurteilt, an den Kläger ein Schmerzensgeld von 30.000 DM nebst Zinsen, eine monatliche Schmerzensgeldrente von 500 DM beginnend ab November 2001, Verdienstausfall in Höhe von 331.613,58 DM nebst Zinsen sowie weiteren Schadensersatz in Höhe von 6.508,21 DM zu zahlen. Außerdem hat es festgestellt, daß der Beklagte zu 2 als Gesamtschuldner mit dem Beklagten zu 1 verpflichtet sei, dem Kläger sämtliche weiteren künftigen materiellen und immateriellen Schäden aus der Tat des Beklagten zu 1 vom 20. September 1994 zu ersetzen. Gegen dieses Urteil haben der Beklagte zu 2 Berufung und der Kläger Anschlußberufung eingelegt. Die Berufung des Beklagten zu 2 führte zu einer Herabsetzung des dem Kläger zuerkannten Schmerzensgeldes auf 7.700 ? und der Schmerzensgeldrente auf monatlich 127,82 ?; im übrigen blieb sie, ebenso wie die Anschlußberufung des Klägers, erfolglos (OLG Dresden VersR 2003, 1041). Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt der Beklagte zu 2 seinen Klageabweisungsantrag weiter.

    Entscheidungsgründe:

    Die Revision ist begründet. Sie führt zur Abweisung der gegen den zweitbeklagten Freistaat Sachsen erhobenen Amts- und Staatshaftungsklage. Dem Kläger steht gegen den Beklagten zu 2 weder ein Amtshaftungsanspruch nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG noch ein Anspruch nach § 1 des in Sachsen zwar inzwischen aufgehobenen, auf den Streitfall aber noch anwendbaren DDR-StHG zu.

    1. Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunkt des Berufungsgerichts, daß die Vollzugsbediensteten Amtspflichten zum Schutze des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit der Untersuchungs- und Strafgefangenen haben (so schon Senatsurteil BGHZ 21, 214, 219 f; vgl. ferner Staudinger/Wurm BGB 13. Bearb. 2002 § 839 Rn. 635 m.w.N.). Diese Amtspflicht umfaßt auch die Verhütung von drohenden Schädigungen des Häftlings durch Mitgefangene (Staudinger/Wurm aaO).

    2. Eine besondere Ausprägung dieser Pflicht erblickt das Berufungsgericht in dem Gebot, den Untersuchungsgefangenen nicht mit anderen Gefangenen in demselben Raum unterzubringen und ihn auch sonst von Strafgefangenen, soweit möglich, getrennt zu halten (§ 119 Abs. 1 StPO i.V.m. den dieses Trennungsgebot konkretisierenden Bestimmungen der Nr. 22 UVollzO). Es lastet den Amtsträgern des Beklagten zu 2 zwar keinen Verstoß gegen § 119 Abs. 1 Satz 1 StPO i.V.m. Nr. 22 Abs. 1 Satz 1, Nr. 11 Abs. 2 Satz 1 UVollzO an, wohl aber einen solchen gegen § 119 Abs. 1 Satz 2 StPO i.V.m. Nr. 22 Abs. 1 UVollzO, indem sie es nicht verhindert hätten, daß der Beklagte zu 1 in die Untersuchungshaftabteilung habe eindringen und den Kläger in dessen Haftraum habe aufsuchen können. Die fahrlässige Pflichtverletzung sieht es darin, daß die senkrechten Metallstäbe im Treppenbereich zwischen Straf- und Untersuchungshaftabteilung nicht durch einfache bauliche Maßnahmen wie zusätzliche Querverstrebungen gegen die Möglichkeit des Herausbrechens gesichert worden seien.

    3. Diesen Ausführungen vermag der Senat insoweit nicht zu folgen, als das Berufungsgericht dem Trennungsgebot des § 119 Abs. 1 StPO i.V.m. Nr. 22 UVollzO den unmittelbaren Schutzzweck beigemessen hat, die körperliche Unversehrtheit des Untersuchungsgefangenen gegen Bedrohungen durch Strafgefangene zu sichern. Es ist - wie auch das Berufungsgericht vom Ansatzpunkt her richtig sieht - anerkannt, daß das Trennungsgebot ein aus der Unschuldsvermutung des Art. 6 Abs. 2 MRK, die Verfassungsrang hat (BVerfGE 74, 358 = NJW 1987, 2427; Pfeiffer, StPO 4. Aufl. 2002 § 119 Rn. 1), hergeleitetes Privileg des Untersuchungsgefangenen ist (Boujong in Karlsruher Kommentar, StPO 5. Aufl. 2003 § 119 Rn. 5; Lemke in Heidelberger Kommentar, StPO 3. Aufl. 2001 § 119 Rn. 7). Die Trennung von Strafgefangenen ist dementsprechend eine Grundforderung, die sich aus der Notwendigkeit ergibt, den Charakter der Untersuchungshaft als einer prozessualen Sicherungsmaßnahme gegen den als unschuldig Geltenden von der Vollstreckung der Strafe an einem Schuldigen eindeutig abzugrenzen (Löwe/Rosenberg/Hilger, StPO 25. Aufl. 1997 § 119 Rn. 16). Eine darüber hinausgehende Zielrichtung, die Gruppe der Untersuchungshäftlinge speziell vor Übergriffen aus der Gruppe der Strafgefangenen zu schützen, läßt sich dem Trennungsgebot hingegen nicht entnehmen. Die allgemeine Amtspflicht zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit besteht unterschiedslos zugunsten der Untersuchungs- und der Strafgefangenen. Die vom Berufungsgericht aufgezeigte Gefahr, daß die Vergünstigungen, die die Untersuchungsgefangenen genießen, insbesondere etwa die Erlaubnis, eigene Uhren zu besitzen (Nr. 53 Abs. 2 Satz 2 UVollzO), Begehrlichkeiten von Strafgefangenen wecken können - diese Gefahr hat sich im vorliegenden Fall in der Tat verwirklicht -, ist nicht von einem solchen Gewicht, daß sie generalpräventive Sicherungsmaßnahmen speziell zum Schutz der Untersuchungsgefangenen vor Strafgefangenen erfordert. Solche besonderen Gefährdungspotentiale gibt es auch innerhalb der jeweiligen Einzelgruppe; sie müssen durch geeignete Überwachung der besonders gefährdeten und der besonders gefährlichen Häftlinge gebannt werden. Diesem Zweck dient die Regelung in Nr. 22 Abs. 5 UVollzO, wonach innerhalb der Gruppe der Untersuchungsgefangenen solche, die nach ihrer Persönlichkeit, insbesondere nach Art, Zahl oder Dauer der von ihnen verbüßten Freiheitsstrafen oder wegen der an ihnen vollzogenen Maßregeln der Besserung und Sicherung eine Gefahr für andere Gefangene bedeuten, von diesen getrennt zu halten sind. Eine Verletzung dieses Gebotes hat das Berufungsgericht nicht festzustellen vermocht.

    4. In rechtsfehlerfreier tatrichterlicher Würdigung hat das Berufungsgericht ferner festgestellt, daß auch die Persönlichkeit des Beklagten zu 1 und dessen Verhalten während der bisherigen Haftverbüßung den Amtsträgern des Beklagten zu 2 keinen Anlaß für besondere Sicherungsmaßnahmen geboten hatten. Insbesondere rechtfertigte die Schwere des vom Beklagten zu 1 begangenen Kapitalverbrechens nicht von vornherein den Rückschluß auf eine besondere Aggressivität gegenüber seinen Mitgefangenen. Vor diesem Hintergrund läßt sich eine Haftung des Beklagten zu 2 auch nicht aus dem Umstand herleiten, daß die Anstaltsbediensteten die - das Trennungsgebot als solches nicht in Frage stellende - Überwindbarkeit der Sicherungsmaßnahmen zwischen den beiden Abteilungen hätten erkennen können.

    5. Der Kläger erblickt eine weitere Amtspflichtverletzung darin, daß sich zur Tatzeit kein Aufsichtsbeamter auf der Station befunden habe. Das Berufungsgericht hat indessen bereits in der mündlichen Verhandlung vom 12. Juni 2002 zutreffend darauf hingewiesen, daß eine dauernde Anwesenheitspflicht insoweit nicht besteht. Außerdem befanden sich die zuständigen Justizvollzugsbeamten in Hörweite und sind auf die Schreie des Klägers sofort herbeigeeilt.

    6. Der Umstand, daß sich der Beklagte zu 1 im Besitz des Tatwerkzeugs, nämlich des angespitzten Schraubenziehers, befunden hatte, läßt ebenfalls keinen Rückschluß auf ein Überwachungsverschulden der Amtsträger der Justizvollzugsanstalt zu. Es wird sich selbst bei sorgfältiger Kontrolle nicht ausschließen lassen, daß derartige Gegenstände in den Besitz eines Strafgefangenen gelangen können.

    7. Die vorstehend aufgezeigten Gesichtspunkte, die einen Amtshaftungsanspruch ausschließen, gelten in gleicher Weise für den Anspruch nach dem DDR-Staatshaftungsgesetz. Insbesondere ist in der Rechtsprechung des Senats anerkannt, daß auch insoweit der Schutzzweck der möglicherweise verletzten Norm (hier des Trennungsgebotes) als haftungsbegrenzendes Kriterium heranzuziehen ist (vgl. Senatsurteil BGHZ 142, 259, 271 f).

    RechtsgebieteBGB, StPO, UVollzOVorschriftenBGB § 839 Fi StPO § 119 Abs. 1 UVollzO Nr. 22