09.07.2024 · IWW-Abrufnummer 242586
Europäischer Gerichtshof: Urteil vom 04.07.2024 – C-295/23
Diese Entscheidung enthält keinen zur Veröffentlichung bestimmten Leitsatz.
SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 4. Juli 2024(1)
Rechtssache C‑295/23
Halmer Rechtsanwaltsgesellschaft UG
gegen
Rechtsanwaltskammer München,
Beteiligte:
SIVE Beratung und Beteiligung GmbH,
Daniel Halmer
(Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‒ Freier Kapitalverkehr ‒ Niederlassungsfreiheit ‒ Richtlinie 2006/123/EG ‒ Beteiligung einer Handelsgesellschaft am Kapital einer anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft ‒ Widerruf der Kammerzulassung der anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft wegen dieser Beteiligung“
1. In dem Rechtsstreit, der dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegt, geht es um die Frage, ob eine österreichische Gesellschaft, die nicht zur Rechtsberatung zugelassen ist, einen Teil des Gesellschaftskapitals einer in Deutschland tätigen Rechtsanwaltsgesellschaft erwerben darf.
2. Die Rechtsanwaltskammer München (im Folgenden: Kammer) hat diesen Erwerb mit der Begründung untersagt, er sei nicht mit den Vorschriften des anwaltlichen Berufsrechts in Deutschland(2) vereinbar, was Anlass zum vorliegenden Rechtsstreit gab. Nach diesen Vorschriften ist die Ausübung der anwaltlichen Tätigkeit durch Rechtsanwaltsgesellschaften in Form von Kapitalgesellschaften zulässig, an denen aber nur Angehörige bestimmter Berufe beteiligt sein dürfen.
3. Zur Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens wird der Gerichtshof Folgendes zu klären haben:
‒ Ist eine Investition von Kapital, wenn sie einen gewissen Einfluss auf die Geschäftsführung einer Rechtsanwaltsgesellschaft mit sich bringt, im Licht der einen oder anderen Grundfreiheit des AEU‑Vertrags und gegebenenfalls der Richtlinie 2006/123/EG(3) zu prüfen?
‒ Ist eine nationale Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar, die die Beteiligung an Rechtsanwaltsgesellschaften auf Rechtsanwälte und auf Angehörige bestimmter Berufe (nicht aber andere Berufsgruppen) beschränkt, während die Mehrheit des Kapitals und der Stimmrechte gleichwohl in allen Fällen den Rechtsanwälten vorbehalten bleibt?
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht: Richtlinie 2006/123
4. Der 73. Erwägungsgrund lautet:
„Zu den zu prüfenden Anforderungen gehören nationale Regelungen, die aus nicht mit der beruflichen Qualifikation zusammenhängenden Gründen die Aufnahme bestimmter Tätigkeiten bestimmten Dienstleistungserbringern vorbehalten. Zu diesen Anforderungen zählen auch solche Anforderungen, die vom Dienstleistungserbringer verlangen, eine bestimmte Rechtsform zu wählen, insbesondere die Rechtsform einer juristischen Person, einer Personengesellschaft, einer Gesellschaft ohne Erwerbszweck oder eine[r] Gesellschaft, deren Anteilseigner ausschließlich natürliche Personen sind, oder Anforderungen im Hinblick auf die Beteiligungen am Gesellschaftskapital, insbesondere eine Mindestkapitalausstattung für bestimmte Dienstleistungstätigkeiten oder den Besitz besonderer Qualifikationen für die Anteilseigner oder das Führungspersonal bestimmter Unternehmen. …“
5. Im 77. Erwägungsgrund heißt es:
„Begibt sich ein Marktteilnehmer in einen anderen Mitgliedstaat, um dort eine Dienstleistungstätigkeit auszuüben, so sollte zwischen Sachverhalten, die unter die Niederlassungsfreiheit und solchen, die unter den freien Dienstleistungsverkehr fallen, unterschieden werden, je nachdem, ob es sich um eine vorübergehende Tätigkeit handelt oder nicht. … [F]ür die Unterscheidung zwischen der Niederlassungsfreiheit und dem freien Dienstleistungsverkehr [ist] ausschlaggebend, ob der Marktteilnehmer in dem Mitgliedstaat, in dem er die betreffende Dienstleistung erbringt, niedergelassen ist oder nicht. Ist der Marktteilnehmer in dem Mitgliedstaat, in dem er seine Dienstleistungen erbringt, niedergelassen, so sollte in seinem Fall die Niederlassungsfreiheit anwendbar sein. Ist der Marktteilnehmer dagegen nicht in dem Mitgliedstaat niedergelassen, in dem die Dienstleistung erbracht wird, so sollte seine Tätigkeit unter den freien Dienstleistungsverkehr fallen. … [D]er vorübergehende Charakter der betreffenden Tätigkeiten [sollte] nicht nur unter Berücksichtigung der Dauer der Erbringung der Leistung, sondern auch ihrer Häufigkeit, ihrer regelmäßigen Wiederkehr oder ihrer Kontinuität beurteilt werden. …“
6. Der 88. Erwägungsgrund lautet:
„Die Bestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit sollten in Fällen, in denen eine Tätigkeit in einem Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht einem bestimmten Beruf vorbehalten ist, keine Anwendung finden, z. B. wenn Rechtsberatung nur von Juristen durchgeführt werden darf.“
7. Art. 3 („Verhältnis zu geltendem Gemeinschaftsrecht“) bestimmt:
„(1) Widersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, so hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung. Dies gilt insbesondere für:
…“
8. Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) sieht vor:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
8. ‚zwingende Gründe des Allgemeininteresses‘ Gründe, die der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung als solche anerkannt hat, einschließlich folgender Gründe: öffentliche Ordnung; öffentliche Sicherheit; … Schutz der Verbraucher, der Dienstleistungsempfänger …;
9. ‚zuständige Behörde‘ jede Stelle oder Behörde, die in einem Mitgliedstaat eine Kontroll- oder Regulierungsfunktion für Dienstleistungstätigkeiten innehat, insbesondere Verwaltungsbehörden, einschließlich der als Verwaltungsbehörden fungierenden Gerichte, Berufsverbände und der Berufsvereinigungen oder sonstigen Berufsorganisationen, die im Rahmen ihrer Rechtsautonomie die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit kollektiv regeln;
…
11. ‚reglementierter Beruf‘ eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2005/36/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005, L 255, S. 22)];
…“
9. Art. 9 („Genehmigungsregelungen“) bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit nur dann Genehmigungsregelungen unterwerfen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
a) [D]ie Genehmigungsregelungen sind für den betreffenden Dienstleistungserbringer nicht diskriminierend;
b) die Genehmigungsregelungen sind durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt;
c) das angestrebte Ziel kann nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden, insbesondere weil eine nachträgliche Kontrolle zu spät erfolgen würde, um wirksam zu sein.
(2) Die Mitgliedstaaten nennen in dem in Artikel 39 Absatz 1 genannten Bericht die in ihrer jeweiligen Rechtsordnung vorgesehenen Genehmigungsregelungen und begründen deren Vereinbarkeit mit Absatz 1 des vorliegenden Artikels.
(3) Dieser Abschnitt gilt nicht für diejenigen Aspekte der Genehmigungsregelungen, die direkt oder indirekt durch andere Gemeinschaftsrechtsakte geregelt sind.“
10. In Art. 11 („Geltungsdauer der Genehmigung“) Abs. 4 ist vorgesehen:
„Dieser Artikel lässt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, Genehmigungen zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung nicht mehr erfüllt sind.“
11. Art. 15 („Zu prüfende Anforderungen“) bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.
(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:
…
c) Anforderungen im Hinblick auf die Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen;
…
(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:
a) Nicht-Diskriminierung: die Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder ‒ bei Gesellschaften ‒ aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;
b) Erforderlichkeit: die Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;
c) Verhältnismäßigkeit: die Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.
…“
12. Art. 25 („Multidisziplinäre Tätigkeiten“) sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Dienstleistungserbringer keinen Anforderungen unterworfen werden, die sie verpflichten, ausschließlich eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, oder die die gemeinschaftliche oder partnerschaftliche Ausübung unterschiedlicher Tätigkeiten beschränken.
Jedoch können folgende Dienstleistungserbringer solchen Anforderungen unterworfen werden:
a) Angehörige reglementierter Berufe, soweit dies gerechtfertigt ist, um die Einhaltung der verschiedenen Standesregeln im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen Berufe sicherzustellen[,] und soweit dies nötig ist, um ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu gewährleisten;
…
(2) Sofern multidisziplinäre Tätigkeiten zwischen den in Absatz 1 Buchstaben a und b genannten Dienstleistungserbringern erlaubt sind, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass
a) Interessenkonflikte und Unvereinbarkeiten zwischen bestimmten Tätigkeiten vermieden werden;
b) die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die bestimmte Tätigkeiten erfordern, gewährleistet sind;
c) die Anforderungen der Standesregeln für die verschiedenen Tätigkeiten miteinander vereinbar sind, insbesondere im Hinblick auf das Berufsgeheimnis.
…“
B. Nationales Recht: BRAO
13. § 59a lautete(4):
„(1) Rechtsanwälte dürfen sich mit Mitgliedern einer Rechtsanwaltskammer und der Patentanwaltskammer, mit Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern zur gemeinschaftlichen Berufsausübung im Rahmen der eigenen beruflichen Befugnisse verbinden. …
(2) Eine gemeinschaftliche Berufsausübung ist Rechtsanwälten auch gestattet:
1. mit Angehörigen von Rechtsanwaltsberufen aus anderen Staaten, die … berechtigt sind, sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes niederzulassen und ihre Kanzlei im Ausland unterhalten,
2. mit Patentanwälten, Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfern oder vereidigten Buchprüfern anderer Staaten, die einen in der Ausbildung und den Befugnissen den Berufen nach der Patentanwaltsordnung, dem Steuerberatungsgesetz oder der Wirtschaftsprüferordnung entsprechenden Beruf ausüben und mit Patentanwälten, Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfern oder vereidigten Buchprüfern im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Beruf gemeinschaftlich ausüben dürfen.
…“
14. § 59c gestattete die anwaltliche Berufsausübung durch Rechtsanwaltsgesellschaften in Form von Kapitalgesellschaften.
15. In § 59e hieß es:
„(1) Gesellschafter einer Rechtsanwaltsgesellschaft können nur Rechtsanwälte und Angehörige der in § 59a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 genannten Berufe sein. Sie müssen in der Rechtsanwaltsgesellschaft beruflich tätig sein. …
(2) Die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte muss Rechtsanwälten zustehen. Sofern Gesellschafter zur Ausübung eines in Absatz 1 Satz 1 genannten Berufs nicht berechtigt sind, haben sie kein Stimmrecht.
(3) Anteile an der Rechtsanwaltsgesellschaft dürfen nicht für Rechnung Dritter gehalten und Dritte nicht am Gewinn der Rechtsanwaltsgesellschaft beteiligt werden.
(4) Gesellschafter können zur Ausübung von Gesellschafterrechten nur stimmberechtigte Gesellschafter bevollmächtigen, die Angehörige desselben Berufs oder Rechtsanwälte sind.“
16. § 59f sah vor:
„(1) Die Rechtsanwaltsgesellschaft muss von Rechtsanwälten verantwortlich geführt werden. Die Geschäftsführer müssen mehrheitlich Rechtsanwälte sein.
(2) Geschäftsführer kann nur sein, wer zur Ausübung eines in § 59e Abs. 1 Satz 1 genannten Berufs berechtigt ist.
…
(4) Die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte, die Geschäftsführer oder gemäß Absatz 3 bevollmächtigt sind, bei der Ausübung ihres Rechtsanwaltsberufs ist zu gewährleisten. Einflussnahmen der Gesellschafter, namentlich durch Weisungen oder vertragliche Bindungen, sind unzulässig.“
II. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17. Die Halmer Rechtsanwaltsgesellschaft UG (im Folgenden: Halmer UG) ist eine Rechtsanwaltsgesellschaft, die in Deutschland in Form einer haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft betrieben wird. Ihr Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter war ursprünglich Herr Halmer.
18. Durch Vertrag vom 31. März 2021 wurden 51 der 100 Geschäftsanteile von Herrn Halmer an die SIVE Beratung und Beteiligung GmbH (im Folgenden: SIVE) übertragen, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung österreichischen Rechts, die weder in Deutschland noch in Österreich zur Rechtsberatung zugelassen ist. Gleichzeitig wurde die Satzung der Halmer UG geändert, um die Unabhängigkeit der Geschäftsführung der Gesellschaft, die Rechtsanwälten vorbehalten blieb, zu gewährleisten.
19. Am 19. Mai 2021 teilte die Kammer der Halmer UG mit, dass nach der BRAO, insbesondere deren §§ 59a ff., die Übertragung der Anteile an SIVE nicht zulässig sei, weswegen die der Halmer UG erteilte Zulassung zur Rechtsanwaltschaft widerrufen werde, sofern es bei dieser Übertragung bleibe.
20. Am 26. Mai 2021 teilte die Halmer UG der Kammer mit, dass es bei der Übertragung der Geschäftsanteile bleibe, und bat um den Erlass eines Bescheids.
21. Am 9. November 2021 widerrief die Kammer die Zulassung der Halmer UG.
22. Am 26. November 2021 erhob die Halmer UG gegen den Bescheid der Kammer Klage beim Bayerischen Anwaltsgerichtshof (Deutschland), der beschlossen hat, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stellt es eine unzulässige Beschränkung des Rechts auf Freiheit des Kapitalverkehrs gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV dar, wenn nach den Gesetzen eines Mitgliedstaats einer Rechtsanwaltsgesellschaft zwingend die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu entziehen ist, wenn
a) ein Geschäftsanteil der Rechtsanwaltsgesellschaft auf eine Person übertragen wird, die nicht die besonderen beruflichen Anforderungen erfüllt, die nach dem Recht des Mitgliedstaats an den Erwerb eines Geschäftsanteils geknüpft sind? Demnach kann ein Geschäftsanteil an einer Rechtsanwaltsgesellschaft nur durch einen Rechtsanwalt oder ein sonstiges Mitglied einer Rechtsanwaltskammer, einen Patentanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer, einen Angehörigen eines Rechtsanwaltsberufs aus einem anderen Staat, dem im Inland die Ausübung der Rechtsberatung erlaubt ist, bzw. einen Patentanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer eines anderen Staates, dem im Inland die Ausübung dieser Tätigkeit gestattet ist, oder einen Arzt oder Apotheker erworben werden;
b) ein Gesellschafter zwar die besonderen Anforderungen gemäß Buchst. a erfüllt, aber in der Rechtsanwaltsgesellschaft nicht beruflich tätig ist?
c) aufgrund der Übertragung eines oder mehrerer Geschäftsanteile bzw. der Stimmrechte die Mehrheit hieran Rechtsanwälten nicht mehr zusteht?
2. Stellt es eine unzulässige Beschränkung des Rechts auf Freiheit des Kapitalverkehrs gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV dar, dass einem Gesellschafter, der zur Ausübung eines Berufs im Sinne von Nr. 1 Buchst. a nicht berechtigt ist, kein Stimmrecht zusteht, obwohl die Satzung der Gesellschaft zum Schutz der Unabhängigkeit der anwaltlichen Berufsträger und der anwaltlichen Tätigkeit der Gesellschaft Klauseln enthält, durch die sichergestellt ist, dass die Gesellschaft ausschließlich durch Rechtsanwälte als Geschäftsführer oder Prokuristen vertreten wird, den Gesellschaftern und der Gesellschafterversammlung untersagt wird, durch Weisungen oder mittelbar durch die Androhung von Nachteilen auf die Geschäftsführung einzuwirken, Gesellschafterbeschlüssen, die hiergegen verstoßen, die Wirksamkeit versagt wird und die anwaltliche Verpflichtung zur Verschwiegenheit auf die Gesellschafter und von diesen beauftragte Personen erstreckt wird?
3. Erfüllen die in Nr. 1 Buchst. a und Nr. 2 genannten Beschränkungen die Bedingungen gemäß Art. 15 Abs. 3 Buchst. a bis c der Richtlinie 2006/123 für zulässige Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit?
4. Für den Fall, dass nach Auffassung des Gerichtshofs das Recht der Klägerin auf Freiheit des Kapitalverkehrs (Nrn. 1 und 2) nicht betroffen sein sollte und ein Verstoß gegen die Richtlinie 2006/123 (Nr. 3) nicht vorliegt:
Wird durch die in Nrn. 1 und 2 genannten Beschränkungen das Recht von SIVE auf Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV verletzt?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
23. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 9. Mai 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.
24. Die Halmer UG und SIVE, die Kammer, die deutsche, die österreichische, die spanische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der französischen Regierung haben alle Beteiligten sowie die kroatische und die slowenische Regierung an der mündlichen Verhandlung vom 30. April 2024 teilgenommen.
IV. Würdigung
A. Vorbemerkungen
25. Das vorlegende Gericht(5) ist mit einem Rechtsstreit befasst, in dem es um den Widerruf der einer Rechtsanwaltsgesellschaft erteilten Zulassung zur Rechtsanwaltschaft geht.
26. Nach Auffassung der Kammer wurden von der Rechtsanwaltsgesellschaft, deren Zulassung widerrufen wurde, mehrere der in der BRAO vorgesehenen Anforderungen nicht mehr erfüllt. Dabei handelt es sich um die Folgenden:
‒ Die Gesellschafter müssen Rechtsanwälte sein oder bestimmte freie Berufe ausüben.
‒ Die Gesellschafter müssen in der Rechtsanwaltsgesellschaft beruflich tätig sein.
‒ Die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte muss Rechtsanwälten zustehen.
27. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob diese sich aus dem nationalen Recht ergebenden Anforderungen
‒ die in Art. 63 Abs. 1 AEUV gewährleistete Freiheit des Kapitalverkehrs in unzulässiger Weise beschränken;
‒ die Bedingungen, die es nach der Richtlinie 2006/123 rechtfertigen, in die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit einzugreifen, nicht erfüllen;
‒ hilfsweise, die in Art. 49 AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit verletzen.
28. Da das vorlegende Gericht zwar vorrangig Art. 63 AEUV anspricht, seine Fragen aber auch im Hinblick auf Art. 49 AEUV und die Richtlinie 2006/123 stellt, ist zunächst festzustellen, welche Freiheit unmittelbar betroffen ist.
29. Meines Erachtens lassen sich sämtliche Fragen des vorlegenden Gerichts mit einer einzigen Antwort beantworten.
B. In dieser Rechtssache beeinträchtigte Freiheiten
1. Freiheit des Kapitalverkehrs oder Niederlassungsfreiheit?
30. Nationale Bestimmungen über Beteiligungen, die in der alleinigen Absicht der Geldanlage erfolgen, ohne dass auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss genommen werden soll, sind ausschließlich im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr (Art. 63 AEUV) zu prüfen(6).
31. Dagegen fällt eine nationale Regelung, „die nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen“, unter Art. 49 AEUV über die Niederlassungsfreiheit(7).
32. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist in der vorliegenden Rechtssache der freie Kapitalverkehr betroffen. Es berücksichtigt, dass 51 % der Geschäftsanteile der Halmer UG an SIVE übertragen wurden; doch dieser Umstand für sich genommen bedeute nicht, dass SIVE in der Lage sei, einen beherrschenden Einfluss auf die Halmer UG auszuüben.
33. Das vorlegende Gericht führt aus, dass
‒ der beherrschende Einfluss nicht nur davon abhänge, welchen Umfang die Beteiligung habe, sondern auch von der in ihrer Satzung festgelegten Funktionsweise der Gesellschaft,
‒ die Satzung der Halmer UG in der zum Zweck der Übertragung der Geschäftsanteile an SIVE geänderten Fassung es SIVE nicht erlaube, einen beherrschenden Einfluss auf die Rechtsanwaltsgesellschaft auszuüben(8), und
‒ es sich somit um eine sogenannte „Portfolioinvestition“ handele, die allein in der Absicht der Geldanlage erfolge, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss nehmen zu wollen(9).
34. Der Umfang der Beteiligung am Gesellschaftskapital ist ein relevanter Faktor für die Beurteilung des Einflusses, den das Halten der Beteiligung dem Investor gewährt. Dieser Faktor lässt jedoch noch nicht den Schluss zu, dass die Mehrheit des Gesellschaftskapitals an sich einen sicheren Einfluss auf die Gesellschaft gewähre(10). Umgekehrt kann ein solcher Einfluss sogar durch Minderheitsbeteiligungen erreicht werden(11).
35. Dass SIVE 51 % des Gesellschaftskapitals der Halmer UG hält, kann möglicherweise durch andere Faktoren derart aufgewogen werden, dass ein sicherer Einfluss von SIVE auf die Tätigkeit der Halmer UG ausgeschlossen werden kann. Die vom vorlegenden Gericht beschriebenen Änderungen der Satzung(12) dürften in diese Richtung gehen.
36. Dies ist eine Tatsachenfrage, die das vorlegende Gericht zu beurteilen und zu entscheiden hat. Wenn sich die von SIVE getätigte Investition, wie sich aus dem Wortlaut der Vorlage zu ergeben scheint, auf eine bloße Geldanlage ohne die Absicht zur Einflussnahme auf die Geschäftsführung beschränkte, wäre die Prüfung auf Art. 63 AEUV zu konzentrieren.
37. Die Prüfung kann jedoch nicht nur die konkreten Umstände der getätigten Investition berücksichtigen, sondern auch, allgemeiner und abstrakter, die Konzeption des Zwecks der fraglichen Regelung.
38. Wie die deutsche, die österreichische, die spanische und die französische Regierung hervorheben, betrifft die hier angewandte Regelung die Aufnahme des Rechtsanwaltsberufs und die Voraussetzungen für seine Ausübung(13). Dies dürfte das ausschlaggebende Kriterium bei der Bestimmung der in Rede stehenden Freiheit sein.
39. Die BRAO gehört zu einer Reihe von Rechtsakten, die u. a. die berufliche Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gewährleisten sollen. Zu diesem Zweck schließt sie aus, dass Personen, die ein rein wirtschaftliches Interesse verfolgen und nicht an das für die anwaltliche Tätigkeit geltende Standesrecht gebunden sind, Teil einer Rechtsanwaltsgesellschaft werden(14).
40. Der deutsche Gesetzgeber hält es offenbar für nicht wünschenswert, dass Investoren, die selbst nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören (mit Ausnahme der Angehörigen bestimmter anderer Kammerberufe, die nach der BRAO als den Rechtsanwälten gleichgestellt gelten), auch nur den geringsten, und nicht nur keinen beherrschenden, Einfluss auf die Tätigkeit einer Rechtsanwaltsgesellschaft ausüben(15).
41. Nach der nationalen Regelung bringt die Investition von Kapital in eine Rechtsanwaltsgesellschaft durch Personen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft (oder nicht zu den als der Anwaltschaft gleichgestellt erachteten Berufen) gehören, nämlich einen Einfluss mit sich, der geeignet ist, das Wesen der Ausübung des Rechtsanwaltsberufs zu untergraben.
42. Das an Personen, die keine Rechtsanwälte sind (oder einen nach der nationalen Regelung gleichgestellten Beruf ausüben), gerichtete Verbot, in solche Gesellschaften Kapital einzubringen, stellt ein Hindernis für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) dar, und diese Freiheit ist in erster Linie betroffen.
43. Hiervon ausgehend, wäre eine etwaige Beeinträchtigung des freien Kapitalverkehrs lediglich ein nachrangiger Nebeneffekt einer Regelung, die vorrangig einen anderen Zweck verfolgt. Die Regelung beschränkt in erheblichem Maß die Niederlassung von Wirtschaftsteilnehmern in Bezug auf Kapitalgesellschaften, die zur Erbringung von Rechtsanwälten vorbehaltenen Dienstleistungen der Rechtsberatung befugt sind.
44. Unter diesen Umständen ist eine eigenständige Prüfung der in Rede stehenden Regelung am Maßstab von Art. 63 AEUV nicht erforderlich.
2. Art. 49 AEUV oder Richtlinie 2006/123?
45. Sodann gilt es festzustellen, ob die in Rede stehende Regelung am Maßstab des Art. 49 AEUV oder der Richtlinie 2006/123 zu prüfen ist.
46. Die Richtlinie 2006/123 enthält allgemeine Bestimmungen, die die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringer erleichtern sollen (Art. 1 Abs. 1).
47. Der Gerichtshof räumt dieser Richtlinie einen allgemeinen Vorrang ein: Fällt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit in den Geltungsbereich der Richtlinie 2006/123, ist sie daher nicht auch am Maßstab des Art. 49 AEUV zu prüfen(16).
48. Folglich sind die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen anhand der Bestimmungen der Richtlinie 2006/123 zu prüfen, die grundsätzlich für die von Rechtsanwälten erbrachten juristischen Dienstleistungen gilt(17).
49. Allerdings sieht Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 vor, dass bei einem Widerspruch zwischen den Bestimmungen dieser Richtlinie und denen eines anderen Rechtsakts der Union, „der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt“, die Bestimmungen des anderen Rechtsakts Vorrang haben.
50. Der Unionsgesetzgeber hat die Richtlinie 77/249/EWG(18) und die Richtlinie 98/5/EG(19) erlassen, um den freien Dienstleistungsverkehr und die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in den Mitgliedstaaten zu erleichtern. Diese Richtlinien enthalten keine besonderen Bestimmungen über den Erwerb von Beteiligungen an Rechtsanwaltsgesellschaften oder die sie betreffende Ausübung von Stimmrechten.
51. Die Richtlinie 98/5 „berührt … nicht die nationalen Regelungen für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf und für die Ausübung dieses Berufs …“(20). Insbesondere setzt ihr Art. 11 („Gemeinsame Ausübung des Rechtsanwaltberufs“) voraus, dass die Mitgliedstaaten diese Art der Ausübung des Berufs gestatten oder untersagen können.
52. Der Gerichtshof hat festgestellt: „[Es steht] jedem Mitgliedstaat in Ermangelung besonderer gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich grundsätzlich frei, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs für sein Hoheitsgebiet zu regeln … Die für diesen Beruf geltenden Regeln können daher in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich voneinander abweichen“(21).
53. Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts steht es den Mitgliedstaaten daher frei, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften zu gestatten. Anders als die Kommission bin ich der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung ihres Verständnisses des Rechtsanwaltsberufs und der Gründe des Allgemeininteresses, die die entsprechende Entscheidung rechtfertigen, diese Art der gemeinsamen Berufsausübung auch einfach verbieten könnten(22).
54. Ebenso sind (mangels einer Harmonisierung dieses spezifischen Bereichs im geltenden Unionsrecht) die Mitgliedstaaten, die sich dafür entscheiden, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften zuzulassen, befugt, bestimmte Bedingungen für die Gestaltung und Funktionsweise solcher Gesellschaften festzulegen(23).
55. Wenn man also davon ausgeht, dass unterschiedliche Regelungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich zulässig sind(24), und ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften zulässt, sind die von ihm vorgegebenen Beschränkungen am Maßstab der Richtlinie 2006/123 zu prüfen.
56. Wie schon gesagt, hätte sich die Bundesrepublik Deutschland dafür entscheiden können, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften einfach auszuschließen, ohne dass dadurch die von der Union garantierten Grundfreiheiten beeinträchtigt worden wären. Soweit die Bundesrepublik Deutschland jedoch die Gründung und Niederlassung solcher Gesellschaften zulässt, müssen Beschränkungen der freien Ausübung der Tätigkeit solcher Gesellschaften insbesondere die Vorgaben der Richtlinie 2006/123 beachten, an deren Maßstab sie zu prüfen sind.
57. Im Rahmen dieser Prüfung ist zu klären, ob die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellen (a) und ob sie, sofern eine Beschränkung vorliegt, gebührend gerechtfertigt sind (b).
C. Prüfung der Beschränkung
1. Vorliegen einer Beschränkung
58. Die Beschränkung ergibt sich aus den in der BRAO festgelegten Bedingungen für die Beteiligung an einer Rechtsanwaltsgesellschaft. Das vorlegende Gericht führt dazu Folgendes aus:
‒ Der Inhaber einer Beteiligung muss Rechtsanwalt, Patentanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer(25), Arzt oder Apotheker(26) sein.
‒ Die Mehrheit des Gesellschaftskapitals muss von Rechtsanwälten gehalten werden.
‒ Der Inhaber der Beteiligung muss in der Gesellschaft beruflich tätig sein.
‒ Rechtsanwälten muss die Mehrheit der Stimmrechte vorbehalten bleiben.
59. Meines Erachtens kann am Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im vorliegenden Fall kein Zweifel bestehen. Die Anwendung der BRAO hindert SIVE daran, als Gesellschafterin einer Gesellschaft (der Halmer UG) zu fungieren, die Rechtsanwälten vorbehaltene Dienstleistungen erbringt. SIVE kann an der Halmer UG keine Beteiligungen erwerben, da ansonsten, wie hier geschehen, die Zulassung der Halmer UG zur Rechtsanwaltschaft widerrufen wird.
2. Rechtfertigung der Beschränkung
60. Die Beschränkung ist am Maßstab von Art. 15 der Richtlinie 2006/123 zu prüfen, nach dessen Abs. 2 Buchst. c die Mitgliedstaaten beurteilen müssen, ob ihre Anforderungen „im Hinblick auf die Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen“ die Bedingungen des Art. 15 Abs. 3 erfüllen(27).
61. Die Bedingungen des genannten Art. 15 Abs. 3 sehen im Wesentlichen vor, dass die Anforderungen a) keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Sitzes der Gesellschaft darstellen, b) durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und c) „zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet [sind]; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen“.
62. Diese Bedingungen stimmen im Wesentlichen mit den Vorgaben überein, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf Beschränkungen der durch die Art. 49 und 63 AEUV geschützten Verkehrsfreiheiten ergeben. Dieser Umstand relativiert in einem erheblichen Maß die Diskussion darüber, welche Freiheit im vorliegenden Fall konkret betroffen ist.
a) Keine Diskriminierung
63. Die umstrittene Beschränkung bezieht sich nicht unmittelbar oder mittelbar auf die Staatsangehörigkeit oder den Sitz der Betroffenen, sondern gilt in gleicher Weise für in- und ausländische Personen. Sie steht daher in Einklang mit Art. 15 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2006/123.
b) Zwingender Grund des Allgemeininteresses
64. Entsprechendes lässt sich zur nach Art. 15 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2006/123 geforderten Rechtfertigung sagen. Die Gründe, auf denen die Bestimmungen der BRAO nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts beruhen, können als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden.
65. Die Beschränkung soll nämlich zum einen die Unabhängigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die geordnete Rechtspflege, die Wahrung des Transparenzgebots sowie den Schutz des Berufsgeheimnisses(28) und zum anderen den Schutz der Verbraucher bei Rechtsdienstleistungen(29) gewährleisten.
66. Genauer gesagt hat der nationale Gesetzgeber, wie die Kommission ausgeführt hat, seinerzeit als Ziele der Maßnahme Folgendes angegeben: a) die Sicherung der beruflichen Unabhängigkeit der Rechtsanwälte, b) die Beachtung des maßgeblichen Berufsrechts, c) die Qualität der Dienstleistungen und d) den Schutz der Rechtsuchenden(30).
67. Dies alles sind unstreitig unter den Begriff „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ fallende zulässige Rechtfertigungsgründe. Sie sind vom Gerichtshof als solche anerkannt worden(31) und gehören zu den in Art. 4 Nr. 8 der Richtlinie 2006/123 aufgeführten Rechtfertigungsgründen.
c) Verhältnismäßigkeit und Kohärenz
68. Die nach Art. 15 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2006/123 erforderliche Verhältnismäßigkeit setzt voraus, dass die in Rede stehenden Anforderungen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sind, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden können, die zum selben Ergebnis führen.
69. Schlüsselfunktion hat also das Ziel, das mit den vorgeschriebenen Anforderungen verfolgt wird. Aus dem Blickwinkel dieses Ziels sind die Geeignetheit dieser Anforderungen, ihre strikte Notwendigkeit und das Fehlen alternativer Anforderungen, die weniger einschneidend sind, aber trotzdem dasselbe Ergebnis gewährleisten, zu beurteilen.
70. Von den Zielen, die mit den in Rede stehenden Anforderungen erreicht werden sollen, werde ich in erster Linie auf die Ziele der Wahrung der beruflichen Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und des Schutzes der Interessen der Rechtsuchenden eingehen. Die Rechtsuchenden können von dem Rechtsanwalt, dem sie ihre Verteidigung anvertrauen, berechtigterweise ein Handeln erwarten, das nicht durch einen von Dritten außerhalb dieses Berufsstands ausgeübten Druck beeinflusst wird(32).
1) Beschränkung der Beteiligung an der Gesellschaft auf bestimmte Berufsgruppen
71. Die BRAO untersagt von vornherein, dass Rechtsanwaltsgesellschaften Personen als Gesellschafter aufnehmen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören. Dieses Verbot ist geeignet, die berufliche Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und den Schutz der Rechtsuchenden zu gewährleisten, wenn diese Rechtsanwälte beschließen, eine Gesellschaft zu gründen, um ihren Beruf gemeinsam auszuüben. Der Rechtsanwaltsberuf als solcher verbindet ein offenkundiges privates Interesse mit der Wahrung bestimmter Allgemeininteressen(33).
72. Das in Rede stehende Verbot ergibt Sinn, wenn man sich vergegenwärtigt, dass den Rechtsanwälten „in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe übertragen wird, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen[.] [Eine] grundlegende Aufgabe …[, die] zum einen das Erfordernis [umfasst], dessen Bedeutung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf es schon seinem Wesen nach gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen die damit zusammenhängende Loyalität des Rechtsanwalts seinem Mandanten gegenüber“(34).
73. Daraus folgt, dass es „[f]ür die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs … unerlässlich [ist], dass es nicht zu Interessenkonflikten kommt, was insbesondere bedeutet, dass Rechtsanwälte sich in einer Position der Unabhängigkeit gegenüber staatlichen Stellen, anderen Wirtschaftsteilnehmern und Dritten befinden, von denen sie sich nicht beeinflussen lassen dürfen“(35).
74. Der Umstand, dass die Rechtsanwälte den Berufs‑ und Standespflichten unterliegen, „die im allgemeinen Interesse festgelegt und kontrolliert werden“(36), bildet die notwendige Kehrseite der „Vorstellung von der Funktion des Anwalts als eines Mitgestalters der Rechtspflege …, der in völliger Unabhängigkeit und in deren vorrangigem Interesse dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren hat, die dieser benötigt“(37).
75. Die Möglichkeit der Beteiligung an einer Rechtsanwaltsgesellschaft den Rechtsanwälten vorzubehalten, ist daher geeignet, zum einen die berufliche Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und zum anderen den Schutz der Rechtsuchenden zu gewährleisten.
76. Indessen steht diese Exklusivität in Deutschland der Beteiligung bestimmter Personen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören, an Rechtsanwaltsgesellschaften nicht entgegen. Die in § 59a Abs. 1 BRAO genannten Personen (Nicht-Anwälte) können nämlich Gesellschafter einer Rechtsanwaltsgesellschaft sein.
77. Zwar können diese Personen (Nicht-Anwälte) nicht die Mehrheit der Anteile besitzen. Gleichwohl gebietet der Umstand, dass sogar ein erheblicher Prozentsatz des Kapitals einer Rechtsanwaltsgesellschaft von bestimmten nicht zur Rechtsanwaltschaft gehörenden Personen (von anderen aber nicht) erworben werden kann, sich die Frage nach der Kohärenz der Regelung zu stellen.
78. Wie die Kommission ausgeführt hat, lässt sich die Gleichstellung der Angehörigen dieser Berufsgruppen mit Rechtsanwälten vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität der Rechtsstreitigkeiten insbesondere hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Aspekte, in denen eine qualifizierte Rechtsberatung die Mitwirkung anderer Berufsgruppen verlangt, erklären(38).
79. Diese Erklärung könnte jedenfalls die Gleichstellung der Angehörigen einiger der in § 59a BRAO genannten Berufe rechtfertigen, die mehr oder weniger mit Rechtsfragen zu tun haben.
80. Grundsätzlich werden die Wahrung der beruflichen Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und der Schutz der Rechtsuchenden nicht in Frage gestellt, wenn die Beteiligung an Rechtsanwaltsgesellschaften neben Rechtsanwälten den Angehörigen vergleichbarer Berufe vorbehalten bleibt, die als Minderheitsgesellschafter(39) eine Tätigkeit ausüben, die mit der Unabhängigkeit der Rechtsanwälte nicht unvereinbar ist(40). Diese anderen Personen sollten außerdem der disziplinarischen Aufsicht einer Kammer unterliegen, die sicherstellt, dass sie ihren Beruf ordnungsgemäß und den gesetzlichen und berufsrechtlichen Regelungen entsprechend ausüben.
81. Soweit jedoch der Verpflichtung, auf der Grundlage genauer Angaben die Gründe hinreichend nachzuweisen, die die geprüfte Maßnahme rechtfertigen(41), im vorliegenden Fall nicht nachgekommen wurde, lässt sich nicht erkennen, warum andere Berufe, deren Mitwirkung bei der Rechtsberatung ebenso relevant sein könnte, nicht zum Kreis der in der BRAO aufgeführten Berufe gehören(42).
82. Die Beschränkung gewährleistet somit nicht in kohärenter Weise die Verwirklichung des verfolgten Ziels. Dies wäre nach der Rechtsprechung nur dann der Fall, wenn sie „tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, dieses Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen“ (43).
83. Die Gleichstellung bestimmter in Kammern organisierter Berufe mit den Rechtsanwälten und der damit verbundene Ausschluss anderer Berufe, die dieselben (vermeintlichen) Rechtfertigungskriterien erfüllen, nimmt der restriktiven Maßnahme in ihrer Ausgestaltung zum für den Rechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt die zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderliche Kohärenz.
84. Diese Beurteilung wird meines Erachtens dadurch bestätigt, dass der deutsche Gesetzgeber in der seit 2022 geltenden BRAO die Beschränkung nachträglich berichtigt hat. Der (neue) § 59c Abs. 1 Nr. 4 BRAO sieht vor, dass Rechtsanwälte sich zur gemeinschaftlichen Berufsausübung in einer Berufsausübungsgesellschaft mit Personen zusammenschließen können, die in der Gesellschaft einen freien Beruf ausüben, es sei denn, dass ein solcher Zusammenschluss mit dem Rechtsanwaltsberuf unvereinbar ist.
2) Erfordernis der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit in der Rechtsanwaltsgesellschaft
85. Die zweite Beschränkung, auf die das vorlegende Gericht hinweist, betrifft das Erfordernis, dass Rechtsanwälte (oder Angehörige anderer gleichgestellter Berufe) „in der Rechtsanwaltsgesellschaft beruflich tätig sein [müssen]“(44).
86. Die so gefasste Beschränkung weist eine gewisse Unschärfe auf. Man muss wohl annehmen, dass die in der Regelung erwähnte „berufliche Tätigkeit“ zu denjenigen Tätigkeiten gehört, die nur Personen ausüben können, denen die Beteiligung an einer Rechtsanwaltsgesellschaft gestattet ist, und dass diese ausgeübte berufliche Tätigkeit gerade für diesen Beruf kennzeichnend ist.
87. Auf diese Weise wird der Kreis derer, denen es gestattet ist, sich an einer Rechtsanwaltsgesellschaft zu beteiligen, noch kleiner: Es reicht nicht, Rechtsanwalt zu sein (oder einem gleichgestellten Beruf anzugehören), sondern es ist erforderlich, als solcher in der Gesellschaft tätig zu sein. Ausgeschlossen sind daher Rechtsanwälte und Angehörige der ihnen gleichgestellten Berufe, die nur in die Gesellschaft investieren oder dort andere Aufgaben als eine anwaltliche Tätigkeit (oder die eines gleichgestellten Berufs) erfüllen möchten(45).
88. Wie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt worden ist, schreibt diese Beschränkung allerdings weder ein Mindestmaß an tatsächlicher Betätigung in der Gesellschaft vor noch kann diese Vorgabe in der Praxis von der Kammer als dem für die Einhaltung der BRAO letztlich Verantwortlichen kontrolliert werden(46). Es bestehen daher berechtigte Zweifel, ob sie tatsächlich geeignet ist, die mit ihr (vermeintlich) verfolgten Ziele zu erreichen.
89. Mit dieser zweiten Beschränkung wird meines Erachtens die erste Beschränkung konkretisiert, ohne dass die Inkohärenz beseitigt würde, die mich im vorangegangenen Abschnitt zu der Feststellung veranlasst hat, dass der ersten Beschränkung die Geeignetheit fehle.
3) Vorbehalt der Stimmenmehrheit der Rechtsanwälte
90. Nach § 59e Abs. 2 BRAO muss die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte Rechtsanwälten zustehen(47).
91. Die den Rechtsanwälten vorbehaltene doppelte Mehrheit im Hinblick auf die Geschäftsanteile einerseits und die Stimmrechte andererseits zielt darauf ab, dass Personen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören, die Entscheidungen der Gesellschaft nicht signifikant beeinflussen können.
92. Die Vorschrift soll die berufliche Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und den Schutz der Rechtsuchenden wahren. Zur Erreichung dieser Ziele soll die Vorschrift bewirken, dass Personen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören, wenn sie an einer Rechtsanwaltsgesellschaft beteiligt sind, aufgrund ihrer zwiefachen Minderheitsposition keine tatsächliche Kontrolle über diese Gesellschaft ausüben.
93. Die in Rede stehende Regelung leidet aber wiederum an einer gewissen Inkohärenz, da ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen das Erfordernis der doppelten (Kapital- und Stimmen‑)Mehrheit der Rechtsanwälte möglicherweise nicht ausreicht, um unerwünschten Druck auf die Rechtsanwälte durch Investoren, die keine Rechtsanwälte sind, zu vermeiden.
94. Im Zusammenhang mit einer anderen Beschränkung von Stimmrechten(48) hat der Gerichtshof festgestellt: „[Es] ist nämlich denkbar, dass die Entscheidungen der höchstens 25 % der Stimmrechte besitzenden Minderheitsgesellschafter darüber, ob sie sich finanziell engagieren oder nicht, wenn auch nur mittelbar, die Entscheidungen der Gesellschaftsorgane beeinflussen könnten“(49).
95. Nach der BRAO ist es zulässig, dass Gesellschafter, die keine Rechtsanwälte sind, zum einen bis zu 49 % des Kapitals der Rechtsanwaltsgesellschaft halten und zum anderen über den gleichen Prozentsatz der Stimmrechte in dieser Gesellschaft verfügen. So können die Nicht-Anwälte einen bestimmenden Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft ausüben, da sie nur die Mitwirkung von 2 % der Rechtsanwälte, denen 2 % des Kapitals zustehen, benötigen, um den Willen der Gesellschaft zu bilden(50). Dieses Risiko wird noch größer, wenn das Kapital unter den Gesellschaftern, die Rechtsanwälte sind, weit gestreut ist(51).
96. Die vom deutschen Gesetzgeber in Bezug auf die Stimmenmehrheit geschaffene Regelung hindert die Gesellschafter, die keine Rechtsanwälte sind, nicht daran, die Entscheidungen der Gesellschaft, an der sie beteiligt sind, zu beeinflussen, was die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet(52). Zugleich beeinflusst diese Regelung die Wahrnehmung der Rechtsuchenden im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte, die vor Druck von außen geschützt werden müssen.
97. Um dieses Problem zu beheben, schlägt die Kommission vor, die Anforderungen hinsichtlich der Beteiligung am Kapital und hinsichtlich der Stimmrechte voneinander zu trennen(53). Ich bin der Ansicht, dass die Kohärenz des Systems eher dafürspricht, die vorbeugenden Maßnahmen zu verstärken, die von vornherein unmittelbare oder mittelbare Angriffe auf die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte verhindern, und zwar unabhängig vom Prozentsatz der Stimmrechte, die von Angehörigen anderer Berufe gehalten werden.
98. Sicherlich könnte man Lösungen erarbeiten, um das Verhältnis zwischen dem Gewicht des Kapitals und dem der Stimmrechte auszubalancieren, ohne die logische Korrelation zwischen dem Halten des Kapitals und der Willensbildung der Gesellschaft (die über die Stimmen erfolgt, die normalerweise mit der Beteiligung eines Gesellschafters verbunden sind) in extremer Weise zu verfälschen.
99. Jedenfalls muss es meines Erachtens Vorschriften geben, um zu verhindern, dass berufsfremde Investoren die Entscheidungen der Rechtsanwaltsgesellschaft unmittelbar oder mittelbar beeinflussen können, wenn die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und der Schutz der Interessen ihrer Mandanten auf dem Spiel stehen. Die Vorsichtsmaßnahmen, die einer der am Rechtsstreit Beteiligten insoweit vorgeschlagen hat(54), reichen meines Erachtens nicht aus, um diese Gefahr zu beseitigen.
100. Es ist Sache des nationalen Gesetzgebers, die einschlägige normative Lösung zu konzipieren, und es obliegt nicht dem Gerichtshof, im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens mehr zu tun als festzustellen, dass es Vorschriften wie den in Rede stehenden an der Kohärenz mangelt, die unverzichtbar ist, damit die Beschränkung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.
101. Diese Überlegungen betreffen den allgemeinen Rahmen, den die BRAO vorgibt, und nicht die besondere Situation der beiden am Rechtsstreit beteiligten Gesellschaften. Ob die geänderte Satzung der Halmer UG, wie sie vom vorlegenden Gericht beschrieben wird(55), die Gefahr verringert, dass SIVE die Entscheidungen der Rechtsanwaltsgesellschaft beeinflusst, muss das vorlegende Gericht abwägen.
D. Zusammenfassung
102. Die Mitgliedstaaten verfügen bei der Regelung des Rechtsanwaltsberufs, insbesondere in Bezug auf die Ausübung dieses Berufs in der Form von Kapitalgesellschaften, über einen weiten Spielraum.
103. Aufgrund dieses Spielraums sind die Mitgliedstaaten, wenn sie die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften gestatten, berechtigt, diese Gesellschaften bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen. Diese Beschränkungen müssen kohärent sein und mit den Gründen des Allgemeininteresses, die sie rechtfertigen, in Einklang stehen.
104. Den in der BRAO vorgesehenen Beschränkungen der Beteiligung an Rechtsanwaltsgesellschaften, auf die sich die Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen, fehlt es an der Kohärenz, die unverzichtbar ist, um die Vorgaben von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 zu erfüllen, denn
‒ sie schließen Angehörige anderer als der in der BRAO ausdrücklich aufgeführten Berufe von der Stellung als Gesellschafter aus, die die Kriterien erfüllen könnten, auf deren Grundlage die Beteiligung Angehöriger der aufgeführten Berufe gestattet wird;
‒ sie verlangen allgemein und ohne nähere Konkretisierung, dass Rechtsanwälte und Angehörige anderer Berufe, die sich als Gesellschafter beteiligen dürfen, in der Gesellschaft beruflich tätig sind;
‒ sie lassen zu, dass Personen, die keine Rechtsanwälte sind, einen Prozentsatz des Kapitals und der Stimmrechte halten, der ausreicht, um diesen Personen einen bedeutenden unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss, der die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte bei der Verteidigung ihrer Mandanten gefährden kann, auf die Bildung des Willens der Gesellschaft zu gewähren.
V. Ergebnis
105. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Bayerischen Anwaltsgerichtshof wie folgt zu antworten:
Art. 15 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, deren Bestimmungen
1. den Angehörigen bestimmter Berufe gestatten, sich als Gesellschafter an einer Rechtsanwaltsgesellschaft zu beteiligen, während Angehörige anderer Berufe davon ausgeschlossen sind, die objektiv auch die Kriterien erfüllen könnten, auf deren Grundlage die Beteiligung Angehöriger der zuerst genannten Berufe gestattet wird;
2. allgemein und ohne nähere Konkretisierung vorschreiben, dass Rechtsanwälte und die Angehörigen anderer Berufe, die sich als Gesellschafter beteiligen dürfen, in der Gesellschaft beruflich tätig sind;
3. zulassen, dass Personen, die keine Rechtsanwälte sind, einen Prozentsatz des Kapitals und der Stimmrechte halten, der ausreicht, um diesen Personen einen bedeutenden unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss, der die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte bei der Verteidigung ihrer Mandanten gefährden kann, auf die Bildung des Willens der Gesellschaft zu gewähren.
MANUEL CAMPOS SÁNCHEZ-BORDONA
vom 4. Juli 2024(1)
Rechtssache C‑295/23
Halmer Rechtsanwaltsgesellschaft UG
gegen
Rechtsanwaltskammer München,
Beteiligte:
SIVE Beratung und Beteiligung GmbH,
Daniel Halmer
(Vorabentscheidungsersuchen des Bayerischen Anwaltsgerichtshofs [Deutschland])
„Vorlage zur Vorabentscheidung ‒ Freier Kapitalverkehr ‒ Niederlassungsfreiheit ‒ Richtlinie 2006/123/EG ‒ Beteiligung einer Handelsgesellschaft am Kapital einer anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft ‒ Widerruf der Kammerzulassung der anwaltlichen Berufsausübungsgesellschaft wegen dieser Beteiligung“
1. In dem Rechtsstreit, der dem vorliegenden Vorabentscheidungsersuchen zugrunde liegt, geht es um die Frage, ob eine österreichische Gesellschaft, die nicht zur Rechtsberatung zugelassen ist, einen Teil des Gesellschaftskapitals einer in Deutschland tätigen Rechtsanwaltsgesellschaft erwerben darf.
2. Die Rechtsanwaltskammer München (im Folgenden: Kammer) hat diesen Erwerb mit der Begründung untersagt, er sei nicht mit den Vorschriften des anwaltlichen Berufsrechts in Deutschland(2) vereinbar, was Anlass zum vorliegenden Rechtsstreit gab. Nach diesen Vorschriften ist die Ausübung der anwaltlichen Tätigkeit durch Rechtsanwaltsgesellschaften in Form von Kapitalgesellschaften zulässig, an denen aber nur Angehörige bestimmter Berufe beteiligt sein dürfen.
3. Zur Beantwortung des Vorabentscheidungsersuchens wird der Gerichtshof Folgendes zu klären haben:
‒ Ist eine Investition von Kapital, wenn sie einen gewissen Einfluss auf die Geschäftsführung einer Rechtsanwaltsgesellschaft mit sich bringt, im Licht der einen oder anderen Grundfreiheit des AEU‑Vertrags und gegebenenfalls der Richtlinie 2006/123/EG(3) zu prüfen?
‒ Ist eine nationale Regelung mit dem Unionsrecht vereinbar, die die Beteiligung an Rechtsanwaltsgesellschaften auf Rechtsanwälte und auf Angehörige bestimmter Berufe (nicht aber andere Berufsgruppen) beschränkt, während die Mehrheit des Kapitals und der Stimmrechte gleichwohl in allen Fällen den Rechtsanwälten vorbehalten bleibt?
I. Rechtlicher Rahmen
A. Unionsrecht: Richtlinie 2006/123
4. Der 73. Erwägungsgrund lautet:
„Zu den zu prüfenden Anforderungen gehören nationale Regelungen, die aus nicht mit der beruflichen Qualifikation zusammenhängenden Gründen die Aufnahme bestimmter Tätigkeiten bestimmten Dienstleistungserbringern vorbehalten. Zu diesen Anforderungen zählen auch solche Anforderungen, die vom Dienstleistungserbringer verlangen, eine bestimmte Rechtsform zu wählen, insbesondere die Rechtsform einer juristischen Person, einer Personengesellschaft, einer Gesellschaft ohne Erwerbszweck oder eine[r] Gesellschaft, deren Anteilseigner ausschließlich natürliche Personen sind, oder Anforderungen im Hinblick auf die Beteiligungen am Gesellschaftskapital, insbesondere eine Mindestkapitalausstattung für bestimmte Dienstleistungstätigkeiten oder den Besitz besonderer Qualifikationen für die Anteilseigner oder das Führungspersonal bestimmter Unternehmen. …“
5. Im 77. Erwägungsgrund heißt es:
„Begibt sich ein Marktteilnehmer in einen anderen Mitgliedstaat, um dort eine Dienstleistungstätigkeit auszuüben, so sollte zwischen Sachverhalten, die unter die Niederlassungsfreiheit und solchen, die unter den freien Dienstleistungsverkehr fallen, unterschieden werden, je nachdem, ob es sich um eine vorübergehende Tätigkeit handelt oder nicht. … [F]ür die Unterscheidung zwischen der Niederlassungsfreiheit und dem freien Dienstleistungsverkehr [ist] ausschlaggebend, ob der Marktteilnehmer in dem Mitgliedstaat, in dem er die betreffende Dienstleistung erbringt, niedergelassen ist oder nicht. Ist der Marktteilnehmer in dem Mitgliedstaat, in dem er seine Dienstleistungen erbringt, niedergelassen, so sollte in seinem Fall die Niederlassungsfreiheit anwendbar sein. Ist der Marktteilnehmer dagegen nicht in dem Mitgliedstaat niedergelassen, in dem die Dienstleistung erbracht wird, so sollte seine Tätigkeit unter den freien Dienstleistungsverkehr fallen. … [D]er vorübergehende Charakter der betreffenden Tätigkeiten [sollte] nicht nur unter Berücksichtigung der Dauer der Erbringung der Leistung, sondern auch ihrer Häufigkeit, ihrer regelmäßigen Wiederkehr oder ihrer Kontinuität beurteilt werden. …“
6. Der 88. Erwägungsgrund lautet:
„Die Bestimmungen über die Dienstleistungsfreiheit sollten in Fällen, in denen eine Tätigkeit in einem Mitgliedstaat im Einklang mit dem Gemeinschaftsrecht einem bestimmten Beruf vorbehalten ist, keine Anwendung finden, z. B. wenn Rechtsberatung nur von Juristen durchgeführt werden darf.“
7. Art. 3 („Verhältnis zu geltendem Gemeinschaftsrecht“) bestimmt:
„(1) Widersprechen Bestimmungen dieser Richtlinie einer Bestimmung eines anderen Gemeinschaftsrechtsaktes, der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt, so hat die Bestimmung des anderen Gemeinschaftsrechtsaktes Vorrang und findet auf die betreffenden Bereiche oder Berufe Anwendung. Dies gilt insbesondere für:
…“
8. Art. 4 („Begriffsbestimmungen“) sieht vor:
„Für die Zwecke dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck:
…
8. ‚zwingende Gründe des Allgemeininteresses‘ Gründe, die der Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung als solche anerkannt hat, einschließlich folgender Gründe: öffentliche Ordnung; öffentliche Sicherheit; … Schutz der Verbraucher, der Dienstleistungsempfänger …;
9. ‚zuständige Behörde‘ jede Stelle oder Behörde, die in einem Mitgliedstaat eine Kontroll- oder Regulierungsfunktion für Dienstleistungstätigkeiten innehat, insbesondere Verwaltungsbehörden, einschließlich der als Verwaltungsbehörden fungierenden Gerichte, Berufsverbände und der Berufsvereinigungen oder sonstigen Berufsorganisationen, die im Rahmen ihrer Rechtsautonomie die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit kollektiv regeln;
…
11. ‚reglementierter Beruf‘ eine berufliche Tätigkeit oder eine Gruppe beruflicher Tätigkeiten im Sinne des Artikels 3 Absatz 1 Buchstabe a der Richtlinie 2005/36/EG [des Europäischen Parlaments und des Rates vom 7. September 2005 über die Anerkennung von Berufsqualifikationen (ABl. 2005, L 255, S. 22)];
…“
9. Art. 9 („Genehmigungsregelungen“) bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten dürfen die Aufnahme und die Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit nur dann Genehmigungsregelungen unterwerfen, wenn folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
a) [D]ie Genehmigungsregelungen sind für den betreffenden Dienstleistungserbringer nicht diskriminierend;
b) die Genehmigungsregelungen sind durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt;
c) das angestrebte Ziel kann nicht durch ein milderes Mittel erreicht werden, insbesondere weil eine nachträgliche Kontrolle zu spät erfolgen würde, um wirksam zu sein.
(2) Die Mitgliedstaaten nennen in dem in Artikel 39 Absatz 1 genannten Bericht die in ihrer jeweiligen Rechtsordnung vorgesehenen Genehmigungsregelungen und begründen deren Vereinbarkeit mit Absatz 1 des vorliegenden Artikels.
(3) Dieser Abschnitt gilt nicht für diejenigen Aspekte der Genehmigungsregelungen, die direkt oder indirekt durch andere Gemeinschaftsrechtsakte geregelt sind.“
10. In Art. 11 („Geltungsdauer der Genehmigung“) Abs. 4 ist vorgesehen:
„Dieser Artikel lässt die Möglichkeit der Mitgliedstaaten unberührt, Genehmigungen zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung der Genehmigung nicht mehr erfüllt sind.“
11. Art. 15 („Zu prüfende Anforderungen“) bestimmt:
„(1) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnungen die in Absatz 2 aufgeführten Anforderungen vorsehen, und stellen sicher, dass diese Anforderungen die Bedingungen des Absatzes 3 erfüllen. Die Mitgliedstaaten ändern ihre Rechts- und Verwaltungsvorschriften, um sie diesen Bedingungen anzupassen.
(2) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob ihre Rechtsordnung die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit von folgenden nicht diskriminierenden Anforderungen abhängig macht:
…
c) Anforderungen im Hinblick auf die Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen;
…
(3) Die Mitgliedstaaten prüfen, ob die in Absatz 2 genannten Anforderungen folgende Bedingungen erfüllen:
a) Nicht-Diskriminierung: die Anforderungen dürfen weder eine direkte noch eine indirekte Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder ‒ bei Gesellschaften ‒ aufgrund des Orts des satzungsmäßigen Sitzes darstellen;
b) Erforderlichkeit: die Anforderungen müssen durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sein;
c) Verhältnismäßigkeit: die Anforderungen müssen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sein; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen.
…“
12. Art. 25 („Multidisziplinäre Tätigkeiten“) sieht vor:
„(1) Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass die Dienstleistungserbringer keinen Anforderungen unterworfen werden, die sie verpflichten, ausschließlich eine bestimmte Tätigkeit auszuüben, oder die die gemeinschaftliche oder partnerschaftliche Ausübung unterschiedlicher Tätigkeiten beschränken.
Jedoch können folgende Dienstleistungserbringer solchen Anforderungen unterworfen werden:
a) Angehörige reglementierter Berufe, soweit dies gerechtfertigt ist, um die Einhaltung der verschiedenen Standesregeln im Hinblick auf die Besonderheiten der jeweiligen Berufe sicherzustellen[,] und soweit dies nötig ist, um ihre Unabhängigkeit und Unparteilichkeit zu gewährleisten;
…
(2) Sofern multidisziplinäre Tätigkeiten zwischen den in Absatz 1 Buchstaben a und b genannten Dienstleistungserbringern erlaubt sind, stellen die Mitgliedstaaten sicher, dass
a) Interessenkonflikte und Unvereinbarkeiten zwischen bestimmten Tätigkeiten vermieden werden;
b) die Unabhängigkeit und Unparteilichkeit, die bestimmte Tätigkeiten erfordern, gewährleistet sind;
c) die Anforderungen der Standesregeln für die verschiedenen Tätigkeiten miteinander vereinbar sind, insbesondere im Hinblick auf das Berufsgeheimnis.
…“
B. Nationales Recht: BRAO
13. § 59a lautete(4):
„(1) Rechtsanwälte dürfen sich mit Mitgliedern einer Rechtsanwaltskammer und der Patentanwaltskammer, mit Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfern und vereidigten Buchprüfern zur gemeinschaftlichen Berufsausübung im Rahmen der eigenen beruflichen Befugnisse verbinden. …
(2) Eine gemeinschaftliche Berufsausübung ist Rechtsanwälten auch gestattet:
1. mit Angehörigen von Rechtsanwaltsberufen aus anderen Staaten, die … berechtigt sind, sich im Geltungsbereich dieses Gesetzes niederzulassen und ihre Kanzlei im Ausland unterhalten,
2. mit Patentanwälten, Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfern oder vereidigten Buchprüfern anderer Staaten, die einen in der Ausbildung und den Befugnissen den Berufen nach der Patentanwaltsordnung, dem Steuerberatungsgesetz oder der Wirtschaftsprüferordnung entsprechenden Beruf ausüben und mit Patentanwälten, Steuerberatern, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfern oder vereidigten Buchprüfern im Geltungsbereich dieses Gesetzes ihren Beruf gemeinschaftlich ausüben dürfen.
…“
14. § 59c gestattete die anwaltliche Berufsausübung durch Rechtsanwaltsgesellschaften in Form von Kapitalgesellschaften.
15. In § 59e hieß es:
„(1) Gesellschafter einer Rechtsanwaltsgesellschaft können nur Rechtsanwälte und Angehörige der in § 59a Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 genannten Berufe sein. Sie müssen in der Rechtsanwaltsgesellschaft beruflich tätig sein. …
(2) Die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte muss Rechtsanwälten zustehen. Sofern Gesellschafter zur Ausübung eines in Absatz 1 Satz 1 genannten Berufs nicht berechtigt sind, haben sie kein Stimmrecht.
(3) Anteile an der Rechtsanwaltsgesellschaft dürfen nicht für Rechnung Dritter gehalten und Dritte nicht am Gewinn der Rechtsanwaltsgesellschaft beteiligt werden.
(4) Gesellschafter können zur Ausübung von Gesellschafterrechten nur stimmberechtigte Gesellschafter bevollmächtigen, die Angehörige desselben Berufs oder Rechtsanwälte sind.“
16. § 59f sah vor:
„(1) Die Rechtsanwaltsgesellschaft muss von Rechtsanwälten verantwortlich geführt werden. Die Geschäftsführer müssen mehrheitlich Rechtsanwälte sein.
(2) Geschäftsführer kann nur sein, wer zur Ausübung eines in § 59e Abs. 1 Satz 1 genannten Berufs berechtigt ist.
…
(4) Die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte, die Geschäftsführer oder gemäß Absatz 3 bevollmächtigt sind, bei der Ausübung ihres Rechtsanwaltsberufs ist zu gewährleisten. Einflussnahmen der Gesellschafter, namentlich durch Weisungen oder vertragliche Bindungen, sind unzulässig.“
II. Sachverhalt, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
17. Die Halmer Rechtsanwaltsgesellschaft UG (im Folgenden: Halmer UG) ist eine Rechtsanwaltsgesellschaft, die in Deutschland in Form einer haftungsbeschränkten Unternehmergesellschaft betrieben wird. Ihr Geschäftsführer und alleiniger Gesellschafter war ursprünglich Herr Halmer.
18. Durch Vertrag vom 31. März 2021 wurden 51 der 100 Geschäftsanteile von Herrn Halmer an die SIVE Beratung und Beteiligung GmbH (im Folgenden: SIVE) übertragen, eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung österreichischen Rechts, die weder in Deutschland noch in Österreich zur Rechtsberatung zugelassen ist. Gleichzeitig wurde die Satzung der Halmer UG geändert, um die Unabhängigkeit der Geschäftsführung der Gesellschaft, die Rechtsanwälten vorbehalten blieb, zu gewährleisten.
19. Am 19. Mai 2021 teilte die Kammer der Halmer UG mit, dass nach der BRAO, insbesondere deren §§ 59a ff., die Übertragung der Anteile an SIVE nicht zulässig sei, weswegen die der Halmer UG erteilte Zulassung zur Rechtsanwaltschaft widerrufen werde, sofern es bei dieser Übertragung bleibe.
20. Am 26. Mai 2021 teilte die Halmer UG der Kammer mit, dass es bei der Übertragung der Geschäftsanteile bleibe, und bat um den Erlass eines Bescheids.
21. Am 9. November 2021 widerrief die Kammer die Zulassung der Halmer UG.
22. Am 26. November 2021 erhob die Halmer UG gegen den Bescheid der Kammer Klage beim Bayerischen Anwaltsgerichtshof (Deutschland), der beschlossen hat, dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
1. Stellt es eine unzulässige Beschränkung des Rechts auf Freiheit des Kapitalverkehrs gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV dar, wenn nach den Gesetzen eines Mitgliedstaats einer Rechtsanwaltsgesellschaft zwingend die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft zu entziehen ist, wenn
a) ein Geschäftsanteil der Rechtsanwaltsgesellschaft auf eine Person übertragen wird, die nicht die besonderen beruflichen Anforderungen erfüllt, die nach dem Recht des Mitgliedstaats an den Erwerb eines Geschäftsanteils geknüpft sind? Demnach kann ein Geschäftsanteil an einer Rechtsanwaltsgesellschaft nur durch einen Rechtsanwalt oder ein sonstiges Mitglied einer Rechtsanwaltskammer, einen Patentanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer, einen Angehörigen eines Rechtsanwaltsberufs aus einem anderen Staat, dem im Inland die Ausübung der Rechtsberatung erlaubt ist, bzw. einen Patentanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigten, Wirtschaftsprüfer oder vereidigten Buchprüfer eines anderen Staates, dem im Inland die Ausübung dieser Tätigkeit gestattet ist, oder einen Arzt oder Apotheker erworben werden;
b) ein Gesellschafter zwar die besonderen Anforderungen gemäß Buchst. a erfüllt, aber in der Rechtsanwaltsgesellschaft nicht beruflich tätig ist?
c) aufgrund der Übertragung eines oder mehrerer Geschäftsanteile bzw. der Stimmrechte die Mehrheit hieran Rechtsanwälten nicht mehr zusteht?
2. Stellt es eine unzulässige Beschränkung des Rechts auf Freiheit des Kapitalverkehrs gemäß Art. 63 Abs. 1 AEUV dar, dass einem Gesellschafter, der zur Ausübung eines Berufs im Sinne von Nr. 1 Buchst. a nicht berechtigt ist, kein Stimmrecht zusteht, obwohl die Satzung der Gesellschaft zum Schutz der Unabhängigkeit der anwaltlichen Berufsträger und der anwaltlichen Tätigkeit der Gesellschaft Klauseln enthält, durch die sichergestellt ist, dass die Gesellschaft ausschließlich durch Rechtsanwälte als Geschäftsführer oder Prokuristen vertreten wird, den Gesellschaftern und der Gesellschafterversammlung untersagt wird, durch Weisungen oder mittelbar durch die Androhung von Nachteilen auf die Geschäftsführung einzuwirken, Gesellschafterbeschlüssen, die hiergegen verstoßen, die Wirksamkeit versagt wird und die anwaltliche Verpflichtung zur Verschwiegenheit auf die Gesellschafter und von diesen beauftragte Personen erstreckt wird?
3. Erfüllen die in Nr. 1 Buchst. a und Nr. 2 genannten Beschränkungen die Bedingungen gemäß Art. 15 Abs. 3 Buchst. a bis c der Richtlinie 2006/123 für zulässige Eingriffe in die Dienstleistungsfreiheit?
4. Für den Fall, dass nach Auffassung des Gerichtshofs das Recht der Klägerin auf Freiheit des Kapitalverkehrs (Nrn. 1 und 2) nicht betroffen sein sollte und ein Verstoß gegen die Richtlinie 2006/123 (Nr. 3) nicht vorliegt:
Wird durch die in Nrn. 1 und 2 genannten Beschränkungen das Recht von SIVE auf Niederlassungsfreiheit gemäß Art. 49 AEUV verletzt?
III. Verfahren vor dem Gerichtshof
23. Das Vorabentscheidungsersuchen ist am 9. Mai 2023 bei der Kanzlei des Gerichtshofs eingegangen.
24. Die Halmer UG und SIVE, die Kammer, die deutsche, die österreichische, die spanische und die französische Regierung sowie die Europäische Kommission haben schriftliche Erklärungen eingereicht. Mit Ausnahme der französischen Regierung haben alle Beteiligten sowie die kroatische und die slowenische Regierung an der mündlichen Verhandlung vom 30. April 2024 teilgenommen.
IV. Würdigung
A. Vorbemerkungen
25. Das vorlegende Gericht(5) ist mit einem Rechtsstreit befasst, in dem es um den Widerruf der einer Rechtsanwaltsgesellschaft erteilten Zulassung zur Rechtsanwaltschaft geht.
26. Nach Auffassung der Kammer wurden von der Rechtsanwaltsgesellschaft, deren Zulassung widerrufen wurde, mehrere der in der BRAO vorgesehenen Anforderungen nicht mehr erfüllt. Dabei handelt es sich um die Folgenden:
‒ Die Gesellschafter müssen Rechtsanwälte sein oder bestimmte freie Berufe ausüben.
‒ Die Gesellschafter müssen in der Rechtsanwaltsgesellschaft beruflich tätig sein.
‒ Die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte muss Rechtsanwälten zustehen.
27. Das vorlegende Gericht möchte im Wesentlichen wissen, ob diese sich aus dem nationalen Recht ergebenden Anforderungen
‒ die in Art. 63 Abs. 1 AEUV gewährleistete Freiheit des Kapitalverkehrs in unzulässiger Weise beschränken;
‒ die Bedingungen, die es nach der Richtlinie 2006/123 rechtfertigen, in die Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit einzugreifen, nicht erfüllen;
‒ hilfsweise, die in Art. 49 AEUV verankerte Niederlassungsfreiheit verletzen.
28. Da das vorlegende Gericht zwar vorrangig Art. 63 AEUV anspricht, seine Fragen aber auch im Hinblick auf Art. 49 AEUV und die Richtlinie 2006/123 stellt, ist zunächst festzustellen, welche Freiheit unmittelbar betroffen ist.
29. Meines Erachtens lassen sich sämtliche Fragen des vorlegenden Gerichts mit einer einzigen Antwort beantworten.
B. In dieser Rechtssache beeinträchtigte Freiheiten
1. Freiheit des Kapitalverkehrs oder Niederlassungsfreiheit?
30. Nationale Bestimmungen über Beteiligungen, die in der alleinigen Absicht der Geldanlage erfolgen, ohne dass auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss genommen werden soll, sind ausschließlich im Hinblick auf den freien Kapitalverkehr (Art. 63 AEUV) zu prüfen(6).
31. Dagegen fällt eine nationale Regelung, „die nur auf Beteiligungen anwendbar ist, die es ermöglichen, einen sicheren Einfluss auf die Entscheidungen einer Gesellschaft auszuüben und deren Tätigkeiten zu bestimmen“, unter Art. 49 AEUV über die Niederlassungsfreiheit(7).
32. Nach Ansicht des vorlegenden Gerichts ist in der vorliegenden Rechtssache der freie Kapitalverkehr betroffen. Es berücksichtigt, dass 51 % der Geschäftsanteile der Halmer UG an SIVE übertragen wurden; doch dieser Umstand für sich genommen bedeute nicht, dass SIVE in der Lage sei, einen beherrschenden Einfluss auf die Halmer UG auszuüben.
33. Das vorlegende Gericht führt aus, dass
‒ der beherrschende Einfluss nicht nur davon abhänge, welchen Umfang die Beteiligung habe, sondern auch von der in ihrer Satzung festgelegten Funktionsweise der Gesellschaft,
‒ die Satzung der Halmer UG in der zum Zweck der Übertragung der Geschäftsanteile an SIVE geänderten Fassung es SIVE nicht erlaube, einen beherrschenden Einfluss auf die Rechtsanwaltsgesellschaft auszuüben(8), und
‒ es sich somit um eine sogenannte „Portfolioinvestition“ handele, die allein in der Absicht der Geldanlage erfolge, ohne auf die Verwaltung und Kontrolle des Unternehmens Einfluss nehmen zu wollen(9).
34. Der Umfang der Beteiligung am Gesellschaftskapital ist ein relevanter Faktor für die Beurteilung des Einflusses, den das Halten der Beteiligung dem Investor gewährt. Dieser Faktor lässt jedoch noch nicht den Schluss zu, dass die Mehrheit des Gesellschaftskapitals an sich einen sicheren Einfluss auf die Gesellschaft gewähre(10). Umgekehrt kann ein solcher Einfluss sogar durch Minderheitsbeteiligungen erreicht werden(11).
35. Dass SIVE 51 % des Gesellschaftskapitals der Halmer UG hält, kann möglicherweise durch andere Faktoren derart aufgewogen werden, dass ein sicherer Einfluss von SIVE auf die Tätigkeit der Halmer UG ausgeschlossen werden kann. Die vom vorlegenden Gericht beschriebenen Änderungen der Satzung(12) dürften in diese Richtung gehen.
36. Dies ist eine Tatsachenfrage, die das vorlegende Gericht zu beurteilen und zu entscheiden hat. Wenn sich die von SIVE getätigte Investition, wie sich aus dem Wortlaut der Vorlage zu ergeben scheint, auf eine bloße Geldanlage ohne die Absicht zur Einflussnahme auf die Geschäftsführung beschränkte, wäre die Prüfung auf Art. 63 AEUV zu konzentrieren.
37. Die Prüfung kann jedoch nicht nur die konkreten Umstände der getätigten Investition berücksichtigen, sondern auch, allgemeiner und abstrakter, die Konzeption des Zwecks der fraglichen Regelung.
38. Wie die deutsche, die österreichische, die spanische und die französische Regierung hervorheben, betrifft die hier angewandte Regelung die Aufnahme des Rechtsanwaltsberufs und die Voraussetzungen für seine Ausübung(13). Dies dürfte das ausschlaggebende Kriterium bei der Bestimmung der in Rede stehenden Freiheit sein.
39. Die BRAO gehört zu einer Reihe von Rechtsakten, die u. a. die berufliche Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gewährleisten sollen. Zu diesem Zweck schließt sie aus, dass Personen, die ein rein wirtschaftliches Interesse verfolgen und nicht an das für die anwaltliche Tätigkeit geltende Standesrecht gebunden sind, Teil einer Rechtsanwaltsgesellschaft werden(14).
40. Der deutsche Gesetzgeber hält es offenbar für nicht wünschenswert, dass Investoren, die selbst nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören (mit Ausnahme der Angehörigen bestimmter anderer Kammerberufe, die nach der BRAO als den Rechtsanwälten gleichgestellt gelten), auch nur den geringsten, und nicht nur keinen beherrschenden, Einfluss auf die Tätigkeit einer Rechtsanwaltsgesellschaft ausüben(15).
41. Nach der nationalen Regelung bringt die Investition von Kapital in eine Rechtsanwaltsgesellschaft durch Personen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft (oder nicht zu den als der Anwaltschaft gleichgestellt erachteten Berufen) gehören, nämlich einen Einfluss mit sich, der geeignet ist, das Wesen der Ausübung des Rechtsanwaltsberufs zu untergraben.
42. Das an Personen, die keine Rechtsanwälte sind (oder einen nach der nationalen Regelung gleichgestellten Beruf ausüben), gerichtete Verbot, in solche Gesellschaften Kapital einzubringen, stellt ein Hindernis für die Ausübung der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) dar, und diese Freiheit ist in erster Linie betroffen.
43. Hiervon ausgehend, wäre eine etwaige Beeinträchtigung des freien Kapitalverkehrs lediglich ein nachrangiger Nebeneffekt einer Regelung, die vorrangig einen anderen Zweck verfolgt. Die Regelung beschränkt in erheblichem Maß die Niederlassung von Wirtschaftsteilnehmern in Bezug auf Kapitalgesellschaften, die zur Erbringung von Rechtsanwälten vorbehaltenen Dienstleistungen der Rechtsberatung befugt sind.
44. Unter diesen Umständen ist eine eigenständige Prüfung der in Rede stehenden Regelung am Maßstab von Art. 63 AEUV nicht erforderlich.
2. Art. 49 AEUV oder Richtlinie 2006/123?
45. Sodann gilt es festzustellen, ob die in Rede stehende Regelung am Maßstab des Art. 49 AEUV oder der Richtlinie 2006/123 zu prüfen ist.
46. Die Richtlinie 2006/123 enthält allgemeine Bestimmungen, die die Wahrnehmung der Niederlassungsfreiheit durch Dienstleistungserbringer erleichtern sollen (Art. 1 Abs. 1).
47. Der Gerichtshof räumt dieser Richtlinie einen allgemeinen Vorrang ein: Fällt eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit in den Geltungsbereich der Richtlinie 2006/123, ist sie daher nicht auch am Maßstab des Art. 49 AEUV zu prüfen(16).
48. Folglich sind die in Rede stehenden nationalen Bestimmungen anhand der Bestimmungen der Richtlinie 2006/123 zu prüfen, die grundsätzlich für die von Rechtsanwälten erbrachten juristischen Dienstleistungen gilt(17).
49. Allerdings sieht Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie 2006/123 vor, dass bei einem Widerspruch zwischen den Bestimmungen dieser Richtlinie und denen eines anderen Rechtsakts der Union, „der spezifische Aspekte der Aufnahme oder Ausübung einer Dienstleistungstätigkeit in bestimmten Bereichen oder bestimmten Berufen regelt“, die Bestimmungen des anderen Rechtsakts Vorrang haben.
50. Der Unionsgesetzgeber hat die Richtlinie 77/249/EWG(18) und die Richtlinie 98/5/EG(19) erlassen, um den freien Dienstleistungsverkehr und die ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufs in den Mitgliedstaaten zu erleichtern. Diese Richtlinien enthalten keine besonderen Bestimmungen über den Erwerb von Beteiligungen an Rechtsanwaltsgesellschaften oder die sie betreffende Ausübung von Stimmrechten.
51. Die Richtlinie 98/5 „berührt … nicht die nationalen Regelungen für den Zugang zum Rechtsanwaltsberuf und für die Ausübung dieses Berufs …“(20). Insbesondere setzt ihr Art. 11 („Gemeinsame Ausübung des Rechtsanwaltberufs“) voraus, dass die Mitgliedstaaten diese Art der Ausübung des Berufs gestatten oder untersagen können.
52. Der Gerichtshof hat festgestellt: „[Es steht] jedem Mitgliedstaat in Ermangelung besonderer gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften in diesem Bereich grundsätzlich frei, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs für sein Hoheitsgebiet zu regeln … Die für diesen Beruf geltenden Regeln können daher in den einzelnen Mitgliedstaaten erheblich voneinander abweichen“(21).
53. Beim gegenwärtigen Stand des Unionsrechts steht es den Mitgliedstaaten daher frei, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften zu gestatten. Anders als die Kommission bin ich der Ansicht, dass die Mitgliedstaaten unter Berücksichtigung ihres Verständnisses des Rechtsanwaltsberufs und der Gründe des Allgemeininteresses, die die entsprechende Entscheidung rechtfertigen, diese Art der gemeinsamen Berufsausübung auch einfach verbieten könnten(22).
54. Ebenso sind (mangels einer Harmonisierung dieses spezifischen Bereichs im geltenden Unionsrecht) die Mitgliedstaaten, die sich dafür entscheiden, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften zuzulassen, befugt, bestimmte Bedingungen für die Gestaltung und Funktionsweise solcher Gesellschaften festzulegen(23).
55. Wenn man also davon ausgeht, dass unterschiedliche Regelungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich zulässig sind(24), und ein Mitgliedstaat wie im vorliegenden Fall die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften zulässt, sind die von ihm vorgegebenen Beschränkungen am Maßstab der Richtlinie 2006/123 zu prüfen.
56. Wie schon gesagt, hätte sich die Bundesrepublik Deutschland dafür entscheiden können, die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften einfach auszuschließen, ohne dass dadurch die von der Union garantierten Grundfreiheiten beeinträchtigt worden wären. Soweit die Bundesrepublik Deutschland jedoch die Gründung und Niederlassung solcher Gesellschaften zulässt, müssen Beschränkungen der freien Ausübung der Tätigkeit solcher Gesellschaften insbesondere die Vorgaben der Richtlinie 2006/123 beachten, an deren Maßstab sie zu prüfen sind.
57. Im Rahmen dieser Prüfung ist zu klären, ob die in Rede stehenden nationalen Maßnahmen eine Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstellen (a) und ob sie, sofern eine Beschränkung vorliegt, gebührend gerechtfertigt sind (b).
C. Prüfung der Beschränkung
1. Vorliegen einer Beschränkung
58. Die Beschränkung ergibt sich aus den in der BRAO festgelegten Bedingungen für die Beteiligung an einer Rechtsanwaltsgesellschaft. Das vorlegende Gericht führt dazu Folgendes aus:
‒ Der Inhaber einer Beteiligung muss Rechtsanwalt, Patentanwalt, Steuerberater, Steuerbevollmächtigter, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer(25), Arzt oder Apotheker(26) sein.
‒ Die Mehrheit des Gesellschaftskapitals muss von Rechtsanwälten gehalten werden.
‒ Der Inhaber der Beteiligung muss in der Gesellschaft beruflich tätig sein.
‒ Rechtsanwälten muss die Mehrheit der Stimmrechte vorbehalten bleiben.
59. Meines Erachtens kann am Vorliegen einer Beschränkung der Niederlassungsfreiheit im vorliegenden Fall kein Zweifel bestehen. Die Anwendung der BRAO hindert SIVE daran, als Gesellschafterin einer Gesellschaft (der Halmer UG) zu fungieren, die Rechtsanwälten vorbehaltene Dienstleistungen erbringt. SIVE kann an der Halmer UG keine Beteiligungen erwerben, da ansonsten, wie hier geschehen, die Zulassung der Halmer UG zur Rechtsanwaltschaft widerrufen wird.
2. Rechtfertigung der Beschränkung
60. Die Beschränkung ist am Maßstab von Art. 15 der Richtlinie 2006/123 zu prüfen, nach dessen Abs. 2 Buchst. c die Mitgliedstaaten beurteilen müssen, ob ihre Anforderungen „im Hinblick auf die Beteiligungen am Gesellschaftsvermögen“ die Bedingungen des Art. 15 Abs. 3 erfüllen(27).
61. Die Bedingungen des genannten Art. 15 Abs. 3 sehen im Wesentlichen vor, dass die Anforderungen a) keine Diskriminierung aufgrund der Staatsangehörigkeit oder des Sitzes der Gesellschaft darstellen, b) durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt sind und c) „zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet [sind]; sie dürfen nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist; diese Anforderungen können nicht durch andere weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden, die zum selben Ergebnis führen“.
62. Diese Bedingungen stimmen im Wesentlichen mit den Vorgaben überein, die sich aus der Rechtsprechung des Gerichtshofs in Bezug auf Beschränkungen der durch die Art. 49 und 63 AEUV geschützten Verkehrsfreiheiten ergeben. Dieser Umstand relativiert in einem erheblichen Maß die Diskussion darüber, welche Freiheit im vorliegenden Fall konkret betroffen ist.
a) Keine Diskriminierung
63. Die umstrittene Beschränkung bezieht sich nicht unmittelbar oder mittelbar auf die Staatsangehörigkeit oder den Sitz der Betroffenen, sondern gilt in gleicher Weise für in- und ausländische Personen. Sie steht daher in Einklang mit Art. 15 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie 2006/123.
b) Zwingender Grund des Allgemeininteresses
64. Entsprechendes lässt sich zur nach Art. 15 Abs. 3 Buchst. b der Richtlinie 2006/123 geforderten Rechtfertigung sagen. Die Gründe, auf denen die Bestimmungen der BRAO nach den Ausführungen des vorlegenden Gerichts beruhen, können als zwingende Gründe des Allgemeininteresses angesehen werden.
65. Die Beschränkung soll nämlich zum einen die Unabhängigkeit der anwaltlichen Tätigkeit, die geordnete Rechtspflege, die Wahrung des Transparenzgebots sowie den Schutz des Berufsgeheimnisses(28) und zum anderen den Schutz der Verbraucher bei Rechtsdienstleistungen(29) gewährleisten.
66. Genauer gesagt hat der nationale Gesetzgeber, wie die Kommission ausgeführt hat, seinerzeit als Ziele der Maßnahme Folgendes angegeben: a) die Sicherung der beruflichen Unabhängigkeit der Rechtsanwälte, b) die Beachtung des maßgeblichen Berufsrechts, c) die Qualität der Dienstleistungen und d) den Schutz der Rechtsuchenden(30).
67. Dies alles sind unstreitig unter den Begriff „zwingende Gründe des Allgemeininteresses“ fallende zulässige Rechtfertigungsgründe. Sie sind vom Gerichtshof als solche anerkannt worden(31) und gehören zu den in Art. 4 Nr. 8 der Richtlinie 2006/123 aufgeführten Rechtfertigungsgründen.
c) Verhältnismäßigkeit und Kohärenz
68. Die nach Art. 15 Abs. 3 Buchst. c der Richtlinie 2006/123 erforderliche Verhältnismäßigkeit setzt voraus, dass die in Rede stehenden Anforderungen zur Verwirklichung des mit ihnen verfolgten Ziels geeignet sind, nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist, und nicht durch weniger einschneidende Maßnahmen ersetzt werden können, die zum selben Ergebnis führen.
69. Schlüsselfunktion hat also das Ziel, das mit den vorgeschriebenen Anforderungen verfolgt wird. Aus dem Blickwinkel dieses Ziels sind die Geeignetheit dieser Anforderungen, ihre strikte Notwendigkeit und das Fehlen alternativer Anforderungen, die weniger einschneidend sind, aber trotzdem dasselbe Ergebnis gewährleisten, zu beurteilen.
70. Von den Zielen, die mit den in Rede stehenden Anforderungen erreicht werden sollen, werde ich in erster Linie auf die Ziele der Wahrung der beruflichen Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und des Schutzes der Interessen der Rechtsuchenden eingehen. Die Rechtsuchenden können von dem Rechtsanwalt, dem sie ihre Verteidigung anvertrauen, berechtigterweise ein Handeln erwarten, das nicht durch einen von Dritten außerhalb dieses Berufsstands ausgeübten Druck beeinflusst wird(32).
1) Beschränkung der Beteiligung an der Gesellschaft auf bestimmte Berufsgruppen
71. Die BRAO untersagt von vornherein, dass Rechtsanwaltsgesellschaften Personen als Gesellschafter aufnehmen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören. Dieses Verbot ist geeignet, die berufliche Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und den Schutz der Rechtsuchenden zu gewährleisten, wenn diese Rechtsanwälte beschließen, eine Gesellschaft zu gründen, um ihren Beruf gemeinsam auszuüben. Der Rechtsanwaltsberuf als solcher verbindet ein offenkundiges privates Interesse mit der Wahrung bestimmter Allgemeininteressen(33).
72. Das in Rede stehende Verbot ergibt Sinn, wenn man sich vergegenwärtigt, dass den Rechtsanwälten „in einer demokratischen Gesellschaft eine grundlegende Aufgabe übertragen wird, nämlich die Verteidigung der Rechtsunterworfenen[.] [Eine] grundlegende Aufgabe …[, die] zum einen das Erfordernis [umfasst], dessen Bedeutung in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird, dass es dem Einzelnen möglich sein muss, sich völlig frei an seinen Rechtsanwalt zu wenden, zu dessen Beruf es schon seinem Wesen nach gehört, all denen unabhängig Rechtsberatung zu erteilen, die sie benötigen, und zum anderen die damit zusammenhängende Loyalität des Rechtsanwalts seinem Mandanten gegenüber“(34).
73. Daraus folgt, dass es „[f]ür die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs … unerlässlich [ist], dass es nicht zu Interessenkonflikten kommt, was insbesondere bedeutet, dass Rechtsanwälte sich in einer Position der Unabhängigkeit gegenüber staatlichen Stellen, anderen Wirtschaftsteilnehmern und Dritten befinden, von denen sie sich nicht beeinflussen lassen dürfen“(35).
74. Der Umstand, dass die Rechtsanwälte den Berufs‑ und Standespflichten unterliegen, „die im allgemeinen Interesse festgelegt und kontrolliert werden“(36), bildet die notwendige Kehrseite der „Vorstellung von der Funktion des Anwalts als eines Mitgestalters der Rechtspflege …, der in völliger Unabhängigkeit und in deren vorrangigem Interesse dem Mandanten die rechtliche Unterstützung zu gewähren hat, die dieser benötigt“(37).
75. Die Möglichkeit der Beteiligung an einer Rechtsanwaltsgesellschaft den Rechtsanwälten vorzubehalten, ist daher geeignet, zum einen die berufliche Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und zum anderen den Schutz der Rechtsuchenden zu gewährleisten.
76. Indessen steht diese Exklusivität in Deutschland der Beteiligung bestimmter Personen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören, an Rechtsanwaltsgesellschaften nicht entgegen. Die in § 59a Abs. 1 BRAO genannten Personen (Nicht-Anwälte) können nämlich Gesellschafter einer Rechtsanwaltsgesellschaft sein.
77. Zwar können diese Personen (Nicht-Anwälte) nicht die Mehrheit der Anteile besitzen. Gleichwohl gebietet der Umstand, dass sogar ein erheblicher Prozentsatz des Kapitals einer Rechtsanwaltsgesellschaft von bestimmten nicht zur Rechtsanwaltschaft gehörenden Personen (von anderen aber nicht) erworben werden kann, sich die Frage nach der Kohärenz der Regelung zu stellen.
78. Wie die Kommission ausgeführt hat, lässt sich die Gleichstellung der Angehörigen dieser Berufsgruppen mit Rechtsanwälten vor dem Hintergrund der zunehmenden Komplexität der Rechtsstreitigkeiten insbesondere hinsichtlich ihrer wirtschaftlichen Aspekte, in denen eine qualifizierte Rechtsberatung die Mitwirkung anderer Berufsgruppen verlangt, erklären(38).
79. Diese Erklärung könnte jedenfalls die Gleichstellung der Angehörigen einiger der in § 59a BRAO genannten Berufe rechtfertigen, die mehr oder weniger mit Rechtsfragen zu tun haben.
80. Grundsätzlich werden die Wahrung der beruflichen Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und der Schutz der Rechtsuchenden nicht in Frage gestellt, wenn die Beteiligung an Rechtsanwaltsgesellschaften neben Rechtsanwälten den Angehörigen vergleichbarer Berufe vorbehalten bleibt, die als Minderheitsgesellschafter(39) eine Tätigkeit ausüben, die mit der Unabhängigkeit der Rechtsanwälte nicht unvereinbar ist(40). Diese anderen Personen sollten außerdem der disziplinarischen Aufsicht einer Kammer unterliegen, die sicherstellt, dass sie ihren Beruf ordnungsgemäß und den gesetzlichen und berufsrechtlichen Regelungen entsprechend ausüben.
81. Soweit jedoch der Verpflichtung, auf der Grundlage genauer Angaben die Gründe hinreichend nachzuweisen, die die geprüfte Maßnahme rechtfertigen(41), im vorliegenden Fall nicht nachgekommen wurde, lässt sich nicht erkennen, warum andere Berufe, deren Mitwirkung bei der Rechtsberatung ebenso relevant sein könnte, nicht zum Kreis der in der BRAO aufgeführten Berufe gehören(42).
82. Die Beschränkung gewährleistet somit nicht in kohärenter Weise die Verwirklichung des verfolgten Ziels. Dies wäre nach der Rechtsprechung nur dann der Fall, wenn sie „tatsächlich dem Anliegen gerecht wird, dieses Ziel in kohärenter und systematischer Weise zu erreichen“ (43).
83. Die Gleichstellung bestimmter in Kammern organisierter Berufe mit den Rechtsanwälten und der damit verbundene Ausschluss anderer Berufe, die dieselben (vermeintlichen) Rechtfertigungskriterien erfüllen, nimmt der restriktiven Maßnahme in ihrer Ausgestaltung zum für den Rechtsstreit maßgeblichen Zeitpunkt die zur Erreichung des angestrebten Ziels erforderliche Kohärenz.
84. Diese Beurteilung wird meines Erachtens dadurch bestätigt, dass der deutsche Gesetzgeber in der seit 2022 geltenden BRAO die Beschränkung nachträglich berichtigt hat. Der (neue) § 59c Abs. 1 Nr. 4 BRAO sieht vor, dass Rechtsanwälte sich zur gemeinschaftlichen Berufsausübung in einer Berufsausübungsgesellschaft mit Personen zusammenschließen können, die in der Gesellschaft einen freien Beruf ausüben, es sei denn, dass ein solcher Zusammenschluss mit dem Rechtsanwaltsberuf unvereinbar ist.
2) Erfordernis der Ausübung einer beruflichen Tätigkeit in der Rechtsanwaltsgesellschaft
85. Die zweite Beschränkung, auf die das vorlegende Gericht hinweist, betrifft das Erfordernis, dass Rechtsanwälte (oder Angehörige anderer gleichgestellter Berufe) „in der Rechtsanwaltsgesellschaft beruflich tätig sein [müssen]“(44).
86. Die so gefasste Beschränkung weist eine gewisse Unschärfe auf. Man muss wohl annehmen, dass die in der Regelung erwähnte „berufliche Tätigkeit“ zu denjenigen Tätigkeiten gehört, die nur Personen ausüben können, denen die Beteiligung an einer Rechtsanwaltsgesellschaft gestattet ist, und dass diese ausgeübte berufliche Tätigkeit gerade für diesen Beruf kennzeichnend ist.
87. Auf diese Weise wird der Kreis derer, denen es gestattet ist, sich an einer Rechtsanwaltsgesellschaft zu beteiligen, noch kleiner: Es reicht nicht, Rechtsanwalt zu sein (oder einem gleichgestellten Beruf anzugehören), sondern es ist erforderlich, als solcher in der Gesellschaft tätig zu sein. Ausgeschlossen sind daher Rechtsanwälte und Angehörige der ihnen gleichgestellten Berufe, die nur in die Gesellschaft investieren oder dort andere Aufgaben als eine anwaltliche Tätigkeit (oder die eines gleichgestellten Berufs) erfüllen möchten(45).
88. Wie in der mündlichen Verhandlung ausgeführt worden ist, schreibt diese Beschränkung allerdings weder ein Mindestmaß an tatsächlicher Betätigung in der Gesellschaft vor noch kann diese Vorgabe in der Praxis von der Kammer als dem für die Einhaltung der BRAO letztlich Verantwortlichen kontrolliert werden(46). Es bestehen daher berechtigte Zweifel, ob sie tatsächlich geeignet ist, die mit ihr (vermeintlich) verfolgten Ziele zu erreichen.
89. Mit dieser zweiten Beschränkung wird meines Erachtens die erste Beschränkung konkretisiert, ohne dass die Inkohärenz beseitigt würde, die mich im vorangegangenen Abschnitt zu der Feststellung veranlasst hat, dass der ersten Beschränkung die Geeignetheit fehle.
3) Vorbehalt der Stimmenmehrheit der Rechtsanwälte
90. Nach § 59e Abs. 2 BRAO muss die Mehrheit der Geschäftsanteile und der Stimmrechte Rechtsanwälten zustehen(47).
91. Die den Rechtsanwälten vorbehaltene doppelte Mehrheit im Hinblick auf die Geschäftsanteile einerseits und die Stimmrechte andererseits zielt darauf ab, dass Personen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören, die Entscheidungen der Gesellschaft nicht signifikant beeinflussen können.
92. Die Vorschrift soll die berufliche Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und den Schutz der Rechtsuchenden wahren. Zur Erreichung dieser Ziele soll die Vorschrift bewirken, dass Personen, die nicht zur Rechtsanwaltschaft gehören, wenn sie an einer Rechtsanwaltsgesellschaft beteiligt sind, aufgrund ihrer zwiefachen Minderheitsposition keine tatsächliche Kontrolle über diese Gesellschaft ausüben.
93. Die in Rede stehende Regelung leidet aber wiederum an einer gewissen Inkohärenz, da ohne weitere Vorsichtsmaßnahmen das Erfordernis der doppelten (Kapital- und Stimmen‑)Mehrheit der Rechtsanwälte möglicherweise nicht ausreicht, um unerwünschten Druck auf die Rechtsanwälte durch Investoren, die keine Rechtsanwälte sind, zu vermeiden.
94. Im Zusammenhang mit einer anderen Beschränkung von Stimmrechten(48) hat der Gerichtshof festgestellt: „[Es] ist nämlich denkbar, dass die Entscheidungen der höchstens 25 % der Stimmrechte besitzenden Minderheitsgesellschafter darüber, ob sie sich finanziell engagieren oder nicht, wenn auch nur mittelbar, die Entscheidungen der Gesellschaftsorgane beeinflussen könnten“(49).
95. Nach der BRAO ist es zulässig, dass Gesellschafter, die keine Rechtsanwälte sind, zum einen bis zu 49 % des Kapitals der Rechtsanwaltsgesellschaft halten und zum anderen über den gleichen Prozentsatz der Stimmrechte in dieser Gesellschaft verfügen. So können die Nicht-Anwälte einen bestimmenden Einfluss auf die Entscheidungen der Gesellschaft ausüben, da sie nur die Mitwirkung von 2 % der Rechtsanwälte, denen 2 % des Kapitals zustehen, benötigen, um den Willen der Gesellschaft zu bilden(50). Dieses Risiko wird noch größer, wenn das Kapital unter den Gesellschaftern, die Rechtsanwälte sind, weit gestreut ist(51).
96. Die vom deutschen Gesetzgeber in Bezug auf die Stimmenmehrheit geschaffene Regelung hindert die Gesellschafter, die keine Rechtsanwälte sind, nicht daran, die Entscheidungen der Gesellschaft, an der sie beteiligt sind, zu beeinflussen, was die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte gefährdet(52). Zugleich beeinflusst diese Regelung die Wahrnehmung der Rechtsuchenden im Hinblick auf die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte, die vor Druck von außen geschützt werden müssen.
97. Um dieses Problem zu beheben, schlägt die Kommission vor, die Anforderungen hinsichtlich der Beteiligung am Kapital und hinsichtlich der Stimmrechte voneinander zu trennen(53). Ich bin der Ansicht, dass die Kohärenz des Systems eher dafürspricht, die vorbeugenden Maßnahmen zu verstärken, die von vornherein unmittelbare oder mittelbare Angriffe auf die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte verhindern, und zwar unabhängig vom Prozentsatz der Stimmrechte, die von Angehörigen anderer Berufe gehalten werden.
98. Sicherlich könnte man Lösungen erarbeiten, um das Verhältnis zwischen dem Gewicht des Kapitals und dem der Stimmrechte auszubalancieren, ohne die logische Korrelation zwischen dem Halten des Kapitals und der Willensbildung der Gesellschaft (die über die Stimmen erfolgt, die normalerweise mit der Beteiligung eines Gesellschafters verbunden sind) in extremer Weise zu verfälschen.
99. Jedenfalls muss es meines Erachtens Vorschriften geben, um zu verhindern, dass berufsfremde Investoren die Entscheidungen der Rechtsanwaltsgesellschaft unmittelbar oder mittelbar beeinflussen können, wenn die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte und der Schutz der Interessen ihrer Mandanten auf dem Spiel stehen. Die Vorsichtsmaßnahmen, die einer der am Rechtsstreit Beteiligten insoweit vorgeschlagen hat(54), reichen meines Erachtens nicht aus, um diese Gefahr zu beseitigen.
100. Es ist Sache des nationalen Gesetzgebers, die einschlägige normative Lösung zu konzipieren, und es obliegt nicht dem Gerichtshof, im Rahmen des vorliegenden Vorabentscheidungsverfahrens mehr zu tun als festzustellen, dass es Vorschriften wie den in Rede stehenden an der Kohärenz mangelt, die unverzichtbar ist, damit die Beschränkung durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist.
101. Diese Überlegungen betreffen den allgemeinen Rahmen, den die BRAO vorgibt, und nicht die besondere Situation der beiden am Rechtsstreit beteiligten Gesellschaften. Ob die geänderte Satzung der Halmer UG, wie sie vom vorlegenden Gericht beschrieben wird(55), die Gefahr verringert, dass SIVE die Entscheidungen der Rechtsanwaltsgesellschaft beeinflusst, muss das vorlegende Gericht abwägen.
D. Zusammenfassung
102. Die Mitgliedstaaten verfügen bei der Regelung des Rechtsanwaltsberufs, insbesondere in Bezug auf die Ausübung dieses Berufs in der Form von Kapitalgesellschaften, über einen weiten Spielraum.
103. Aufgrund dieses Spielraums sind die Mitgliedstaaten, wenn sie die Ausübung des Rechtsanwaltsberufs durch Kapitalgesellschaften gestatten, berechtigt, diese Gesellschaften bestimmten Beschränkungen zu unterwerfen. Diese Beschränkungen müssen kohärent sein und mit den Gründen des Allgemeininteresses, die sie rechtfertigen, in Einklang stehen.
104. Den in der BRAO vorgesehenen Beschränkungen der Beteiligung an Rechtsanwaltsgesellschaften, auf die sich die Fragen des vorlegenden Gerichts beziehen, fehlt es an der Kohärenz, die unverzichtbar ist, um die Vorgaben von Art. 15 Abs. 3 der Richtlinie 2006/123 zu erfüllen, denn
‒ sie schließen Angehörige anderer als der in der BRAO ausdrücklich aufgeführten Berufe von der Stellung als Gesellschafter aus, die die Kriterien erfüllen könnten, auf deren Grundlage die Beteiligung Angehöriger der aufgeführten Berufe gestattet wird;
‒ sie verlangen allgemein und ohne nähere Konkretisierung, dass Rechtsanwälte und Angehörige anderer Berufe, die sich als Gesellschafter beteiligen dürfen, in der Gesellschaft beruflich tätig sind;
‒ sie lassen zu, dass Personen, die keine Rechtsanwälte sind, einen Prozentsatz des Kapitals und der Stimmrechte halten, der ausreicht, um diesen Personen einen bedeutenden unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss, der die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte bei der Verteidigung ihrer Mandanten gefährden kann, auf die Bildung des Willens der Gesellschaft zu gewähren.
V. Ergebnis
105. Nach alledem schlage ich dem Gerichtshof vor, dem Bayerischen Anwaltsgerichtshof wie folgt zu antworten:
Art. 15 der Richtlinie 2006/123/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 12. Dezember 2006 über Dienstleistungen im Binnenmarkt
ist dahin auszulegen, dass
er einer nationalen Regelung entgegensteht, deren Bestimmungen
1. den Angehörigen bestimmter Berufe gestatten, sich als Gesellschafter an einer Rechtsanwaltsgesellschaft zu beteiligen, während Angehörige anderer Berufe davon ausgeschlossen sind, die objektiv auch die Kriterien erfüllen könnten, auf deren Grundlage die Beteiligung Angehöriger der zuerst genannten Berufe gestattet wird;
2. allgemein und ohne nähere Konkretisierung vorschreiben, dass Rechtsanwälte und die Angehörigen anderer Berufe, die sich als Gesellschafter beteiligen dürfen, in der Gesellschaft beruflich tätig sind;
3. zulassen, dass Personen, die keine Rechtsanwälte sind, einen Prozentsatz des Kapitals und der Stimmrechte halten, der ausreicht, um diesen Personen einen bedeutenden unmittelbaren oder mittelbaren Einfluss, der die Unabhängigkeit der Rechtsanwälte bei der Verteidigung ihrer Mandanten gefährden kann, auf die Bildung des Willens der Gesellschaft zu gewähren.
RechtsgebietBerufsrechtVorschriften§ 59b bis e, i nd j BRAO