Praxiswissen auf den Punkt gebracht.
logo
  • Meine Produkte
    Bitte melden Sie sich an, um Ihre Produkte zu sehen.
Menu Menu
MyIww MyIww
  • 05.12.2013

    Bundesfinanzhof: Urteil vom 16.10.2013 – XI R 19/11


    Gründe

    1

    I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) war in den Jahren 2005 bis 2010 (Streitjahre) als gerichtlich bestellter Betreuer selbständig tätig.

    2

    Die Betreuung nach den §§ 1896 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) dient dazu, Volljährige zu unterstützen, die auf Grund einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten ganz oder teilweise nicht besorgen können (§ 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB). Sie umfasst alle Tätigkeiten, die erforderlich sind, um die Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen (§ 1901 Abs. 1 BGB).

    3

    Die auf eigene Rechnung und auf eigene Gefahr ausgeübte selbständige Tätigkeit als Berufsbetreuer ist in § 1897 Abs. 6 BGB von der Rechtsordnung als zulässige berufliche Betätigungsform anerkannt; die Betätigung als Berufsbetreuer setzt gemäß § 1897 Abs. 1 BGB voraus, dass der Betreuer geeignet ist, in dem gerichtlich bestimmten Aufgabenkreis die Angelegenheiten des Betreuten rechtlich zu besorgen und diesen in dem hierfür erforderlichen Umfang persönlich zu betreuen (vgl. hierzu Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 27. Februar 2013 8 C 8/12, Neue Juristische Wochenschrift 2013, 2214).

    4

    Der Kläger behandelte die Umsätze als Berufsbetreuer in seinen Umsatzsteuererklärungen für die Jahre 2005 bis 2007 sowie in den Umsatzsteuer-Voranmeldungen für die Kalendermonate Januar 2008 bis Februar 2010 als steuerpflichtig, beantragte später jedoch, die Steuerfestsetzungen gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung zu ändern und seine Umsätze aus der Tätigkeit als Berufsbetreuer für die Zeit ab dem 1. Juli 2005 als steuerfrei zu behandeln. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt --FA--) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 5. Mai 2010 ab. Einspruch und Klage, mit der zuletzt die Steuerfreiheit der Betreuungsleistungen für die Jahre 2005 bis 2009 und für die Voranmeldungszeiträume Januar und Februar 2010 geltend gemacht wurde, blieben ohne Erfolg.

    5

    Das Finanzgericht (FG) entschied, die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 18 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) seien nicht erfüllt. Der Kläger könne sich für die Steuerfreiheit seiner Leistungen auch nicht auf Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) bzw. (ab 2007) auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) berufen. Eine Anerkennung des Klägers als Einrichtung mit sozialem Charakter könne weder aus den gesetzlichen Vergütungsregelungen noch aus der Kostenübernahme durch die Staatskasse hergeleitet werden, selbst wenn sein Vortrag als zutreffend unterstellt werde, dass in etwa 90 % aller Betreuungsfälle eine solche Kostenübernahme stattgefunden habe. Im Hinblick auf die erforderliche Anerkennung würden nur solche Leistungen erfasst, die bereits dem Grunde nach von Sozialleistungsträgern übernommen werden.

    6

    Das FG-Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 2202 veröffentlicht.

    7

    Mit seiner Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts. Nach dem Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 17. Februar 2009 XI R 67/06(BFHE 224, 183, BFH/NV 2009, 869) handele es sich bei den Betreuungsleistungen grundsätzlich um soziale Dienstleistungen bzw. um Leistungen der Sozialfürsorge oder der sozialen Sicherheit. Die Anerkennung als Einrichtung mit sozialem Charakter könne nach dem BFH-Urteil vom 18. August 2005 V R 71/03(BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143) auch daraus abgeleitet werden, dass die Kosten für die entsprechenden Leistungen durch Krankenkassen oder andere Einrichtungen der sozialen Sicherheit übernommen werden. Dabei dürfe es nicht darauf ankommen, ob die Leistungen von den Krankenkassen oder sonstigen Sozialversicherungsträgern finanziert oder --wie in seinem Falle überwiegend-- aus der Staatskasse gezahlt würden. Nach dem BFH-Urteil in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143 sei insoweit maßgebend, dass es sich der Art nach um Leistungen handele, für die die Kosten von Sozialversicherungsträgern übernehmbar sind.

    8

    Während des Revisionsverfahrens hat das FA die Umsatzsteuer für das Jahr 2010 mit Bescheid vom 18. Juli 2013 festgesetzt.

    9

    Der Kläger beantragt sinngemäß,

    unter Aufhebung der Vorentscheidung, der Einspruchsentscheidung sowie des Ablehnungsbescheids das FA zu verpflichten, unter Änderung der Umsatzsteuerbescheide für 2005 bis 2010 die Umsatzsteuer jeweils auf 0 € festzusetzen.

    10

    Das FA beantragt,

    die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

    11

    Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

    12

    II. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die nicht spruchreife Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung --FGO--).

    13

    1. Das angefochtene Urteil ist, soweit es die Umsatzsteuer-Voranmeldungen für die Kalendermonate Januar und Februar 2010 betrifft, bereits aus verfahrensrechtlichen Gründen aufzuheben.

    14

    Das FG hat über den Bescheid vom 5. Mai 2010 und die Einspruchsentscheidung vom 10. August 2010, mit denen die vom Kläger beantragte Änderung u.a. der Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide für Januar und Februar 2010 abgelehnt wurde, entschieden. Während des Revisionsverfahrens hat das FA am 18. Juli 2013 den Umsatzsteuerbescheid für 2010 erlassen, der nach § 68 Satz 1 i.V.m. § 121 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Revisionsverfahrens geworden ist (vgl. BFH-Urteil vom 22. September 2011 IV R 3/10, BFHE 235, 346, BStBl II 2012, 14, Rz 11). Die Umsatzsteuer-Jahresfestsetzung nimmt materiell-rechtlich den Inhalt der Steuerfestsetzungen für die Voranmeldungszeiträume in sich auf; die Umsatzsteuer-Vorauszahlungsbescheide verlieren ihre Wirksamkeit (vgl. Senatsurteil vom 24. April 2013 XI R 25/10, BFHE 241, 451, BFH/NV 2013, 1517, Rz 32). Danach befasst sich die Vorentscheidung mit der beantragten Änderung nicht mehr existierender Bescheide mit der Folge, dass auch das Urteil des FG insoweit keinen Bestand haben kann (vgl. dazu z.B. BFH-Urteile vom 26. Januar 2011 IX R 7/09, BFHE 232, 463, BStBl II 2011, 540; vom 10. Oktober 2012 VIII R 44/10, BFH/NV 2013, 359, jeweils m.w.N.). Die vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen sind hierdurch jedoch nicht weggefallen (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 28. Juni 2012 III R 86/09, BFHE 238, 68, BFH/NV 2012, 1863).

    15

    2. Im Übrigen hat das FG zwar zu Recht entschieden, dass die vom Kläger ausgeführten Betreuungsleistungen nicht in den Anwendungsbereich der in § 4 Nr. 18 Satz 1 UStG vorgesehenen Steuerbefreiung fallen. Entgegen der Vorentscheidung kann sich der Kläger jedoch mit Erfolg auf die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG bzw. ab 2007 in Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL vorgesehene Steuerbefreiung berufen; diesbezüglich sind noch weitere Feststellungen zu treffen.

    16

    a) Die vom Kläger in den Streitjahren ausgeführten Betreuungsleistungen sind nicht nach § 4 Nr. 18 Satz 1 UStG von der Steuer befreit.

    17

    aa) Nach dieser Vorschrift sind von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG fallenden Umsätzen steuerfrei:

    "...
    18. die Leistungen der amtlich anerkannten Verbände der freien Wohlfahrtspflege und der der freien Wohlfahrtspflege dienenden Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen, die einem Wohlfahrtsverband als Mitglied angeschlossen sind, wenn

    a) diese Unternehmer ausschließlich und unmittelbar gemeinnützigen, mildtätigen oder kirchlichen Zwecken dienen,

    b) die Leistungen unmittelbar dem nach der Satzung, Stiftung oder sonstigen Verfassung begünstigten Personenkreis zugute kommen und

    c) die Entgelte für die in Betracht kommenden Leistungen hinter den durchschnittlich für gleichartige Leistungen von Erwerbsunternehmen verlangten Entgelten zurückbleiben."

    18

    bb) Der Kläger erfüllte nicht die in der Person des leistenden Unternehmers erforderlichen Voraussetzungen für eine Steuerbefreiung nach § 4 Nr. 18 Satz 1 UStG; dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.

    19

    b) Allerdings können die Leistungen des Klägers nach Unionsrecht steuerfrei sein. Nach Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG bzw. nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL befreien die Mitgliedstaaten u.a. "die eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundenen Dienstleistungen ... durch Einrichtungen des öffentlichen Rechts oder andere von dem betreffenden Mitgliedstaat als Einrichtungen mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtungen".

    20

    Diese Richtlinienbestimmungen waren in den Streitjahren lediglich dadurch "umgesetzt" worden, dass das UStG die bereits bei Inkrafttreten der Richtlinie 77/388/EWG vorhandenen, teilweise bereits im UStG 1951 enthaltenen Steuerbefreiungstatbestände im Wesentlichen unverändert weitergeführt hat (vgl. BFH-Urteile in BFHE 211, 543, BStBl II 2006, 143; in BFHE 224, 183, BFH/NV 2009, 869; vom 8. Juni 2011 XI R 22/09, BFHE 234, 448, BFH/NV 2011, 1804).

    21

    aa) Der Kläger kann sich in Ermangelung fristgemäß erlassener Umsetzungsmaßnahmen auf Bestimmungen einer Richtlinie, die inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, gegenüber allen nicht richtlinienkonformen innerstaatlichen Vorschriften berufen (ständige Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union --EuGH--, vgl. z.B. Urteil vom 10. September 2002 C-141/00 --Kügler--, Slg. 2002, I-6833, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung --HFR-- 2002, 1146, Umsatzsteuer-Rundschau --UR-- 2002, 513, Rz 51).

    22

    Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG und Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL zählen die Tätigkeiten, die steuerfrei sind, hinreichend genau und unbedingt auf (vgl. EuGH-Urteil --Kügler-- in Slg. 2002, I-6833, HFR 2002, 1146, UR 2002, 513, Rz 53).

    23

    bb) Bei den Betreuungsleistungen i.S. der §§ 1896 ff. BGB, wie sie der Kläger in den Streitjahren erbracht hat, handelt es sich um eng mit der Sozialfürsorge und der sozialen Sicherheit verbundene Dienstleistungen i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG sowie Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL, wie der BFH bereits entschieden hat (vgl. Urteile in BFHE 224, 183, BFH/NV 2009, 869, und vom 25. April 2013 V R 7/11, BFHE 241, 475, BFH/NV 2013, 1521). Hierauf nimmt der erkennende Senat Bezug.

    24

    cc) Der Kläger ist auch eine als Einrichtung mit sozialem Charakter anerkannte Einrichtung i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 77/388/EWG und Art. 132 Abs. 1 Buchst. g MwStSystRL.

    25

    Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der erkennende Senat insoweit auf das BFH-Urteil in BFHE 241, 475 BFH/NV 2013, 1521, Rz 22 ff. Bezug.

    26

    dd) Es liegen auch keine sonstigen Gründe vor, die einer Berufung des Klägers auf das Unionsrecht entgegenstehen. Die Leistungen des Klägers sind keine solchen, die i.S. von Art. 13 Teil A Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG bzw. Art. 134 MwStSystRL als für die soziale Sicherheit "nicht unerlässlich" anzusehen sind oder die im Wesentlichen dazu bestimmt sind, der Einrichtung zusätzliche Einnahmen durch Umsätze zu verschaffen, die in unmittelbarem Wettbewerb mit Umsätzen von der Mehrwertsteuer unterliegenden gewerblichen Unternehmen bewirkt werden.

    27

    c) Das FG ist von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen, sein Urteil ist daher aufzuheben.

    28

    3. Die Sache ist nicht spruchreif.

    29

    Das FG hat --ausgehend von seinem Rechtsstandpunkt zu Recht-- im Hinblick auf eine mögliche Steuerschuld nach § 14c Abs. 1 UStG nicht festgestellt, ob der Kläger in seinen Rechnungen Umsatzsteuer gesondert ausgewiesen hat (vgl. hierzu BFH-Urteile vom 1. Februar 2001 V R 23/00, BFHE 194, 493, BStBl II 2003, 673; vom 24. April 2013 XI R 9/11, BFH/NV 2013, 1457).

    30

    Auch steht nicht fest, ob der Kläger Vergütungen i.S. von § 1908i i.V.m. § 1835 Abs. 3 BGB erhalten hat. Als Aufwendungen gelten danach auch solche Dienste, die zum Gewerbe oder zum Beruf des Betreuers gehören. Leistungen, die nach diesen Vorschriften vergütet werden, sind nicht nach dem Unionsrecht steuerfrei, sondern nur solche, deren Schwerpunkt in der Betreuung der kranken oder behinderten Person liegt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 241, 475, BFH/NV 2013, 1521, Rz 38).

    31

    Die Sache geht deshalb zur Nachholung der erforderlichen Feststellungen an das FG zurück.

    Vorschriften§§ 1896 ff. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB), § 1896 Abs. 1 Satz 1 BGB, § 1901 Abs. 1 BGB, § 1897 Abs. 6 BGB, § 1897 Abs. 1 BGB, § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung, § 4 Nr. 18 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG), Richtlinie 77/388/EWG, Richtlinie 77/388/EWG, Art. 132 Abs. 1 Buchst. g der Richtlinie 2006/112/EG